Nachdem es letzten Sonntag mit dem Gottesdienstbesuch nicht geklappt hatte, ging ich schon am Vorabend auf dem Heimweg an der „All Saints“-Kirche vorbei, die keine 5 Minuten zu Fuß von meinem Hotel an der Ecke Fuxing Zhong Lu/Danshui Lu entfernt ist und die man aufgrund des im romanisierenden Baustils errichteten Gebäudes im Straßenbild als Kirche sofort erkennen kann. In dem Moment, als ich ankam, traten zwei junge Leute an die Tür, aber sie sprachen leider nicht richtig englisch. Das junge Mädchen sprach jedoch gut deutsch, weil sie drei Jahre lang einen Sprachkurs in Hamburg absolviert hatte, und sie kannte sich gut aus. Ich hatte nun die richtigen Informationen über die Gottesdienste hier und an anderer Stelle.
Aber weil ich letzte Woche nichts erreicht hatte, entschloss ich mich, auf Nr. sicher zu gehen, und bin schon um 7.30 Uhr in der „All Saints“-Kirche zum chinesischen Gottesdienst, der gerade schon angefangen hatte, erschienen. Die Kirche war knallvoll wie bei uns an Weihnachten; und auch im Fernsehübertragungssaal gab es keinen Sitzplatz mehr. Ich war die einzige Langnase und wurde ungefragt in die erste Reihe geführt, wo mir durch Zusammenquetschen noch ein Platz verschafft wurde. Dabei hätte ich lieber hinten gestanden, wo ich alles besser überblickt und auch Fotos hätte machen können. Der Raum war schlicht weiß gestrichen, mit indirekter Neonbeleuchtung erhellt, und Deckenpropelloren verschafften einen angenehmen Luftstrom. Alles, was aus Holz war, war mit dicker, glatter rotbrauner Farbe gestrichen, wie überhaupt ganz viele Treppen, Türzargen und Fensterrahmen in Shanghai mit dieser typischen Farbe glanzlackiert sind. Die „All Saints“-Kirche gehört zur chinesisch-protestantischen Kirche von Shanghai.
Chinesische Notation
Zuerst war ein am Klavier gespieltes Orgelpräludium zu hören, dann sprach der Pfarrer am rechten Ambo (Lesepult) den Ruf zum Gottesdienst und betete lange. Nur das Wort Amen verstand ich. Anschließend sang die Gemeinde ein Lied aus dem Gesangbuch. Gesangbücher waren reichlich für jeden aus dem Kirchenbestand vorhanden. Das chinesische Kirchengesangbuch beinhaltet das komplette Alte und Neue Testament, eine Zeittafel und ausführliche Landkarten vom Heiligen Land zu verschiedenen Zeitepochen und 400 Lieder, sowie Psalmen und andere biblische Texte, die im Gottesdienst im Wechsel von Pastor und Gemeinde gelesen werden. Die chinesische Notation hat keine Notenlinien mit den europäischen Zeichen, die Tonhöhe und -länge symbolisieren, sondern gibt in arabischen Ziffern für die Tonhöhe mit darüber und darunter angegeben Strichen und Punkten für die Tonlänge an, was zu singen ist.

Da im Chinesischen jedes Wort ein eigenes Zeichen hat und stets eine Silbe lang ist, kann das Gesangbuch praktisch und kompakt im Blocksatz gedruckt werden. Pausen werden durch senkrechte Striche angezeigt, Legatobögen stehen einfach über den Ziffern, die Tonart wird steht ganz am Anfang und gibt an, welcher Ton mit der Ziffer 1 belegt ist. Ich habe zwar beim Lesen der Notation überhaupt kein Gefühl für die Melodie entwickeln können, finde das aber sehr praktisch, denn es ist extrem platzsparend und es gibt nicht nur einen nach den Liedanfangsworten alphabetisch geordneten Index, sondern auch einen nach den Melodien mit steigenden Ziffern sortiert. Nie wieder vergebliche Suche, wenn man nur die Melodie im Ohr hat. So ein Gesangbuch (leichte, kleine Version, ohne Bibeltext) habe ich mir gleich für 10 Yuan (1 Euro) gekauft, ohne die Hoffnung zu haben, das jemals lesen zu können. Die verständliche Ausgabe, links englischer Text und rechts chinesischer Text, beide mit europäischen Noten versehen, habe ich verschmäht.
Insgesamt hat die Gemeinde drei Lieder (Nrn. 55, 251, 315) gesungen, der Chor ist zweimal aufgetreten. Die Chormitglieder waren überwiegend weiblich und älter – wie in Deutschland, und trugen gleichgeschneiderte helle Talare mit hellblau-gleichfarbigen kurzen Schabracken-Überwürfen – wie in den USA üblich.
Mittelpunkt der Gottesdienstes von anderthalb Stunden Dauer war die Predigt, die von einer Predigerin, schätzungsweise Mitte 30, gehalten wurde, 40 Minuten dauerte und über Jesaja 40, 31 („Aber alle, die auf den HERRN vertrauen, bekommen immer wieder neue Kraft, es wachsen ihnen Flügel wie dem Adler. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und brechen nicht zusammen.“) ging. Die Predigerin hatte ganz rechtsgesessen und sprach jetzt von einem spiegelsymmetrisch zum Ambo angeordneten Pult, das als Kanzel diente. Sie kam mir sehr engagiert und eloquent vor, sie hat frei gesprochen – zu gerne hätte ich verstanden, was sie gesagt hat. Ihr Publikum war größtenteils noch älter als die Peking-Opernbesucher; einige jüngere Leute gab es auch. Wie in Deutschland, von der Zahl der Gottesdienstbesucher mal abgesehen. Das Vaterunser habe ich auf Deutsch mitgebetet, es hat aber im chinesischen einen anderen Rhythmus als in europäischen Sprachen, und die Chinesen waren auch schneller durch damit als ich. Nach dem Segen war flotter Aufbruch. Als ich endlich am Ende des Kirchenschiffs ankam, wurde das Licht schon ausgeschaltet: leider keine Fotos.
Es gab kein Glockengeläut, das zum Gottesdienst gerufen hätte und eine Orgel war auch nicht vorhanden. Der nächste Gottesdienst war für 9.30 Uhr angesetzt. Wenige blieben im Vorraum noch zusammen, die meisten gingen gleich ihrer Wege.

Meiner führte mich drei U-Bahn-Haltestellen weit zur Heng Shan Lu, wo sich in Unmittelbarer Nähe des Ausgangs die Community Church, ebenfalls chinesisch-protestantische Kirche von Shanghai, befindet. Dort war mir angekündigt worden, sei der Gottesdienst auf Englisch. Das Kirchengebäude liegt in einem als Park angelegten Riesengelände und befindet sich etwas versteckt im Stadtbild, jedoch ist von außen an bunten „Glasfenstern", die von der Straße aus erkennbar in die Säulen der Parkumfriedung eingebaut sind, erkennbar, dass es sich um eine christliche Kirche handelt. Auch hier fehlte wieder der Glockenturm, und es gab auch kein Glockengeläut und keine Orgel, die Anordnung in der Kirche war identisch mit der in der ersten, jedoch wirkte diese Gemeinde wohlhabender. Ein halbe Stunde vor Gottesdienstbeginn waren alle Sitzplätze bis auf einige am Rand, besetzt. Die Leute kaufen fleißig in zwei Kiosken auf dem Gelände ein. In einem gab es christliche Literatur, alles nur auf Chinesisch, außer einer Chinesisch-Englischen Bibel und dem besagten zweisprachigen Gesangbuch. In anderen Kiosk wurden etwas kitschige christliche Devotionalien verkauft. Der Gottesdienst verlief genauso wie in der anderen Kirche, jedoch sahen die Besucher eher nach Mittelschicht aus und waren von deutlich jüngerem Durchschnittsalter. Auf der Empore, von wo ich einen guten Überblick hatte, gab es eine Reihe Sitzplätze mit Kopfhörern über die ein junger Chinese alles so gut ins Englische übersetzte, dass ich den Sinn des Gesagten verstand, jedoch von der Wortgewalt der Predigt, die von einer jüngeren Predigerin gehalten wurde, nicht erreicht wurde. Sie legte Psalm 133 aus und brauchte 45 Minuten, bis sie jedes Detail sehr interessant beschrieben hatte. Viele Aussagen im Psalm bezog sie auf die Kirche und sagte etwas für mich nicht mit meinem europäischen Erlebnishorizont bestätigbares: Die Chinesen lägen sehr viel Wert auf traditionelle Glücks- und Segenssprüche. Diese seien aber nur für Glück, Wohlstand und Gesundheit im irdischen Leben hilfreich. Der Segen, von dem im Psalm die Rede sei, beziehe sich auf die Ewigkeit. Auf diesen Segen der Kirche käme es an.

Vor und nach dem Gottesdienst gingen viele Leute nacheinander zum Gebet nach vorne und Knieten dabei auf Polstern. Während des Gottesdienstes gab es keine Geldsammlung. An Ausgang standen Kisten für die Kollekte und außerdem eine, wohinein man die ausgeliehenen Fächer wieder zurücklegte. Man konnte aus einer Sammlung früher vergessener Regenschirme einen mitnehmen, denn es hatte an diesem Morgen immer wieder mal geregnet. Auf der Straße wimmelte es wieder von Menschen.
Ich spazierte durch den beschaulichen Xujiahui Park zur riesigen, gleichnamigen Straßenkreuzung, die von gigantischen neuerrichteten Kaufhäusern voll umstanden ist. Solche Rieseneinkaufszonen, von denen eine für ganz Stuttgart ausreichen würde, gibt es überall in der Stadt und Einkaufen (und Geschäftemachen) ist für die Chinesen das zweitwichtigste nach gut essen.

Lokales Heldengedenken
An diesem regnerischen Nachmittag spazierte ich in der Umgebung unseres Hotels in der Nähe des Fuxing Parks herum, weil ich mir die ehemaligen Residenzen von Sun Yat-sen und Zhou Enlai, die als Museen eingerichtet sind anschauen wollte.
Sun war ein chinesischer Revolutionsführer, der 1911 angeblich im Umsturz des 2000-jährigen Kaisertums eine maßgebliche Rolle gespielt hatte und trotzdem nur kurzfristig provisorischer erster Präsident der Republik China wurde. 1912 gründete er die Nationale Volkspartei (Kuomintang – KMT). Er stammte aus einem Bauerndorf und lebte zuerst, wie sein Bruder als Kuli (verdingter Tagelöhner) auf Hawaii, wo der Bruder als Händler reich geworden war und ihm eine gute Ausbildung zum Mediziner ermöglichte. Unzufrieden mit der Regierung der Qing-Dynastie organisierte er Aufstände, war an der Revolution beteiligt und zeichnete sich als Intellektueller aus. Er entwickelte eine politische Philosophie, die als dreifaches Volksprinzip (in etwa: "Nationalismus", "Demokratie", "Staats-Sozialismus") bekannt ist. Nach seinem Tod 1925 brach ein Machtkampf zwischen seinem jungen Schützling Chiang Kai-Shek, (dem späteren Kampfgegner Maos und Begründer Taiwans) und dem älteren Wang Jingwei aus, der zur Auflösung der Einheitsfront von Kommunisten und Kuomintang führte und 1927 im Bürgerkrieg mündete. In der Volksrepublik China wie in der Republik China (Taiwan) wird Sun als Gründer des modernen China verehrt.
Im Sun Yat-sen-Haus wurde die ehrbare Kuomintang als Grundlage der Revolution hoch geachtet.
Zhou wurde als Sohn aus einer hohen Staatsbeamtenfamilie geboren und gut ausgebildet, studierte im Ausland, u. a. in Deutschland, allerdings gibt es keinen Beweis, dass er je Vorlesungen besucht hätte. Dort trat er in die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ein und nach seiner Rückkehr nach China später, bekleidete er in den Institutionen der KPCh und der KMT vor der Spaltung gleichzeitig wichtige Ämter und organisierte Generalstreiks und Aufstände, auch im Kampf gegen die japanische Besatzung Chinas. Er war stets wichtiger Verhandlungsführer für seine Partei. Von Gründung der Volksrepublik China bis zu seinem Tod war er Premierminister. Er war ein populärer Politiker und behielt seine Ämter auch während des „Großen Sprunges nach vorn“ und der „Kulturrevolution“; danach zeichnete er für die „Vier Modernisierungen“ verantwortlich, welche die Schäden der Kulturrevolution beseitigen sollten.
Im Zhou Enlai-Haus wurde die abscheuliche Kuomintang als Verräter der Revolution tief verachtet.

Beide Museen liegen wenige Schritte voneinander entfernt idyllisch in der ehemaligen französischen Konzession und versuchen ein besonders ehrendes Bild der Persönlichkeiten aufzuzeigen. Dabei werden beide nicht nur wegen ihrer politischen Leistungen gerühmt, sondern auch als moralisch und menschlich besonders integer und unfehlbar in Legendenrollen verklittert.
Die Ausstellungsstücke sind entweder nicht authentisch oder belanglos („den Koffer neben dem Bett benutzte Zhou Enlai zwanzig Jahre lang auf Reisen“). Aber dank der Informationstafeln, Fotozeugnisse und ausgestellter Urkunden kann man sich im Kopf sehr gut ein Bild zusammenstellen von dem, was in den historischen Räumen damals abgegangen ist. Die Ausstellungsräume waren schwach besucht (ähnlich wie deutsche Museen), mir fielen Nichtchinesen, ganz Alte und junge Paare besonders auf. Letztere haben sich draußen vor den Gebäuden einer weiteren Lieblingsbeschäftigung der Chinesen hingegeben: dem Fotografieren, wobei stets irgendjemand vor irgendetwas posieren muss. Den Mangel meines partnerlosen Zustandes erkennend, drängten sich freundliche Chinesen mir auf, für mich zu knipsen und gleich auch noch den Bildpartner zu stellen. Leider waren es nicht die weiblichen.
Erkenntnis des Tages: Es ist nicht der Sender, sondern immer der Empfänger, der bestimmt, was er aufnehmen will.
Aber weil ich letzte Woche nichts erreicht hatte, entschloss ich mich, auf Nr. sicher zu gehen, und bin schon um 7.30 Uhr in der „All Saints“-Kirche zum chinesischen Gottesdienst, der gerade schon angefangen hatte, erschienen. Die Kirche war knallvoll wie bei uns an Weihnachten; und auch im Fernsehübertragungssaal gab es keinen Sitzplatz mehr. Ich war die einzige Langnase und wurde ungefragt in die erste Reihe geführt, wo mir durch Zusammenquetschen noch ein Platz verschafft wurde. Dabei hätte ich lieber hinten gestanden, wo ich alles besser überblickt und auch Fotos hätte machen können. Der Raum war schlicht weiß gestrichen, mit indirekter Neonbeleuchtung erhellt, und Deckenpropelloren verschafften einen angenehmen Luftstrom. Alles, was aus Holz war, war mit dicker, glatter rotbrauner Farbe gestrichen, wie überhaupt ganz viele Treppen, Türzargen und Fensterrahmen in Shanghai mit dieser typischen Farbe glanzlackiert sind. Die „All Saints“-Kirche gehört zur chinesisch-protestantischen Kirche von Shanghai.
Chinesische Notation
Zuerst war ein am Klavier gespieltes Orgelpräludium zu hören, dann sprach der Pfarrer am rechten Ambo (Lesepult) den Ruf zum Gottesdienst und betete lange. Nur das Wort Amen verstand ich. Anschließend sang die Gemeinde ein Lied aus dem Gesangbuch. Gesangbücher waren reichlich für jeden aus dem Kirchenbestand vorhanden. Das chinesische Kirchengesangbuch beinhaltet das komplette Alte und Neue Testament, eine Zeittafel und ausführliche Landkarten vom Heiligen Land zu verschiedenen Zeitepochen und 400 Lieder, sowie Psalmen und andere biblische Texte, die im Gottesdienst im Wechsel von Pastor und Gemeinde gelesen werden. Die chinesische Notation hat keine Notenlinien mit den europäischen Zeichen, die Tonhöhe und -länge symbolisieren, sondern gibt in arabischen Ziffern für die Tonhöhe mit darüber und darunter angegeben Strichen und Punkten für die Tonlänge an, was zu singen ist.
Da im Chinesischen jedes Wort ein eigenes Zeichen hat und stets eine Silbe lang ist, kann das Gesangbuch praktisch und kompakt im Blocksatz gedruckt werden. Pausen werden durch senkrechte Striche angezeigt, Legatobögen stehen einfach über den Ziffern, die Tonart wird steht ganz am Anfang und gibt an, welcher Ton mit der Ziffer 1 belegt ist. Ich habe zwar beim Lesen der Notation überhaupt kein Gefühl für die Melodie entwickeln können, finde das aber sehr praktisch, denn es ist extrem platzsparend und es gibt nicht nur einen nach den Liedanfangsworten alphabetisch geordneten Index, sondern auch einen nach den Melodien mit steigenden Ziffern sortiert. Nie wieder vergebliche Suche, wenn man nur die Melodie im Ohr hat. So ein Gesangbuch (leichte, kleine Version, ohne Bibeltext) habe ich mir gleich für 10 Yuan (1 Euro) gekauft, ohne die Hoffnung zu haben, das jemals lesen zu können. Die verständliche Ausgabe, links englischer Text und rechts chinesischer Text, beide mit europäischen Noten versehen, habe ich verschmäht.
Insgesamt hat die Gemeinde drei Lieder (Nrn. 55, 251, 315) gesungen, der Chor ist zweimal aufgetreten. Die Chormitglieder waren überwiegend weiblich und älter – wie in Deutschland, und trugen gleichgeschneiderte helle Talare mit hellblau-gleichfarbigen kurzen Schabracken-Überwürfen – wie in den USA üblich.
Mittelpunkt der Gottesdienstes von anderthalb Stunden Dauer war die Predigt, die von einer Predigerin, schätzungsweise Mitte 30, gehalten wurde, 40 Minuten dauerte und über Jesaja 40, 31 („Aber alle, die auf den HERRN vertrauen, bekommen immer wieder neue Kraft, es wachsen ihnen Flügel wie dem Adler. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und brechen nicht zusammen.“) ging. Die Predigerin hatte ganz rechtsgesessen und sprach jetzt von einem spiegelsymmetrisch zum Ambo angeordneten Pult, das als Kanzel diente. Sie kam mir sehr engagiert und eloquent vor, sie hat frei gesprochen – zu gerne hätte ich verstanden, was sie gesagt hat. Ihr Publikum war größtenteils noch älter als die Peking-Opernbesucher; einige jüngere Leute gab es auch. Wie in Deutschland, von der Zahl der Gottesdienstbesucher mal abgesehen. Das Vaterunser habe ich auf Deutsch mitgebetet, es hat aber im chinesischen einen anderen Rhythmus als in europäischen Sprachen, und die Chinesen waren auch schneller durch damit als ich. Nach dem Segen war flotter Aufbruch. Als ich endlich am Ende des Kirchenschiffs ankam, wurde das Licht schon ausgeschaltet: leider keine Fotos.
Es gab kein Glockengeläut, das zum Gottesdienst gerufen hätte und eine Orgel war auch nicht vorhanden. Der nächste Gottesdienst war für 9.30 Uhr angesetzt. Wenige blieben im Vorraum noch zusammen, die meisten gingen gleich ihrer Wege.
Meiner führte mich drei U-Bahn-Haltestellen weit zur Heng Shan Lu, wo sich in Unmittelbarer Nähe des Ausgangs die Community Church, ebenfalls chinesisch-protestantische Kirche von Shanghai, befindet. Dort war mir angekündigt worden, sei der Gottesdienst auf Englisch. Das Kirchengebäude liegt in einem als Park angelegten Riesengelände und befindet sich etwas versteckt im Stadtbild, jedoch ist von außen an bunten „Glasfenstern", die von der Straße aus erkennbar in die Säulen der Parkumfriedung eingebaut sind, erkennbar, dass es sich um eine christliche Kirche handelt. Auch hier fehlte wieder der Glockenturm, und es gab auch kein Glockengeläut und keine Orgel, die Anordnung in der Kirche war identisch mit der in der ersten, jedoch wirkte diese Gemeinde wohlhabender. Ein halbe Stunde vor Gottesdienstbeginn waren alle Sitzplätze bis auf einige am Rand, besetzt. Die Leute kaufen fleißig in zwei Kiosken auf dem Gelände ein. In einem gab es christliche Literatur, alles nur auf Chinesisch, außer einer Chinesisch-Englischen Bibel und dem besagten zweisprachigen Gesangbuch. In anderen Kiosk wurden etwas kitschige christliche Devotionalien verkauft. Der Gottesdienst verlief genauso wie in der anderen Kirche, jedoch sahen die Besucher eher nach Mittelschicht aus und waren von deutlich jüngerem Durchschnittsalter. Auf der Empore, von wo ich einen guten Überblick hatte, gab es eine Reihe Sitzplätze mit Kopfhörern über die ein junger Chinese alles so gut ins Englische übersetzte, dass ich den Sinn des Gesagten verstand, jedoch von der Wortgewalt der Predigt, die von einer jüngeren Predigerin gehalten wurde, nicht erreicht wurde. Sie legte Psalm 133 aus und brauchte 45 Minuten, bis sie jedes Detail sehr interessant beschrieben hatte. Viele Aussagen im Psalm bezog sie auf die Kirche und sagte etwas für mich nicht mit meinem europäischen Erlebnishorizont bestätigbares: Die Chinesen lägen sehr viel Wert auf traditionelle Glücks- und Segenssprüche. Diese seien aber nur für Glück, Wohlstand und Gesundheit im irdischen Leben hilfreich. Der Segen, von dem im Psalm die Rede sei, beziehe sich auf die Ewigkeit. Auf diesen Segen der Kirche käme es an.
Vor und nach dem Gottesdienst gingen viele Leute nacheinander zum Gebet nach vorne und Knieten dabei auf Polstern. Während des Gottesdienstes gab es keine Geldsammlung. An Ausgang standen Kisten für die Kollekte und außerdem eine, wohinein man die ausgeliehenen Fächer wieder zurücklegte. Man konnte aus einer Sammlung früher vergessener Regenschirme einen mitnehmen, denn es hatte an diesem Morgen immer wieder mal geregnet. Auf der Straße wimmelte es wieder von Menschen.
Ich spazierte durch den beschaulichen Xujiahui Park zur riesigen, gleichnamigen Straßenkreuzung, die von gigantischen neuerrichteten Kaufhäusern voll umstanden ist. Solche Rieseneinkaufszonen, von denen eine für ganz Stuttgart ausreichen würde, gibt es überall in der Stadt und Einkaufen (und Geschäftemachen) ist für die Chinesen das zweitwichtigste nach gut essen.
Lokales Heldengedenken
An diesem regnerischen Nachmittag spazierte ich in der Umgebung unseres Hotels in der Nähe des Fuxing Parks herum, weil ich mir die ehemaligen Residenzen von Sun Yat-sen und Zhou Enlai, die als Museen eingerichtet sind anschauen wollte.
Sun war ein chinesischer Revolutionsführer, der 1911 angeblich im Umsturz des 2000-jährigen Kaisertums eine maßgebliche Rolle gespielt hatte und trotzdem nur kurzfristig provisorischer erster Präsident der Republik China wurde. 1912 gründete er die Nationale Volkspartei (Kuomintang – KMT). Er stammte aus einem Bauerndorf und lebte zuerst, wie sein Bruder als Kuli (verdingter Tagelöhner) auf Hawaii, wo der Bruder als Händler reich geworden war und ihm eine gute Ausbildung zum Mediziner ermöglichte. Unzufrieden mit der Regierung der Qing-Dynastie organisierte er Aufstände, war an der Revolution beteiligt und zeichnete sich als Intellektueller aus. Er entwickelte eine politische Philosophie, die als dreifaches Volksprinzip (in etwa: "Nationalismus", "Demokratie", "Staats-Sozialismus") bekannt ist. Nach seinem Tod 1925 brach ein Machtkampf zwischen seinem jungen Schützling Chiang Kai-Shek, (dem späteren Kampfgegner Maos und Begründer Taiwans) und dem älteren Wang Jingwei aus, der zur Auflösung der Einheitsfront von Kommunisten und Kuomintang führte und 1927 im Bürgerkrieg mündete. In der Volksrepublik China wie in der Republik China (Taiwan) wird Sun als Gründer des modernen China verehrt.
Im Sun Yat-sen-Haus wurde die ehrbare Kuomintang als Grundlage der Revolution hoch geachtet.
Zhou wurde als Sohn aus einer hohen Staatsbeamtenfamilie geboren und gut ausgebildet, studierte im Ausland, u. a. in Deutschland, allerdings gibt es keinen Beweis, dass er je Vorlesungen besucht hätte. Dort trat er in die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ein und nach seiner Rückkehr nach China später, bekleidete er in den Institutionen der KPCh und der KMT vor der Spaltung gleichzeitig wichtige Ämter und organisierte Generalstreiks und Aufstände, auch im Kampf gegen die japanische Besatzung Chinas. Er war stets wichtiger Verhandlungsführer für seine Partei. Von Gründung der Volksrepublik China bis zu seinem Tod war er Premierminister. Er war ein populärer Politiker und behielt seine Ämter auch während des „Großen Sprunges nach vorn“ und der „Kulturrevolution“; danach zeichnete er für die „Vier Modernisierungen“ verantwortlich, welche die Schäden der Kulturrevolution beseitigen sollten.
Im Zhou Enlai-Haus wurde die abscheuliche Kuomintang als Verräter der Revolution tief verachtet.
Beide Museen liegen wenige Schritte voneinander entfernt idyllisch in der ehemaligen französischen Konzession und versuchen ein besonders ehrendes Bild der Persönlichkeiten aufzuzeigen. Dabei werden beide nicht nur wegen ihrer politischen Leistungen gerühmt, sondern auch als moralisch und menschlich besonders integer und unfehlbar in Legendenrollen verklittert.
Die Ausstellungsstücke sind entweder nicht authentisch oder belanglos („den Koffer neben dem Bett benutzte Zhou Enlai zwanzig Jahre lang auf Reisen“). Aber dank der Informationstafeln, Fotozeugnisse und ausgestellter Urkunden kann man sich im Kopf sehr gut ein Bild zusammenstellen von dem, was in den historischen Räumen damals abgegangen ist. Die Ausstellungsräume waren schwach besucht (ähnlich wie deutsche Museen), mir fielen Nichtchinesen, ganz Alte und junge Paare besonders auf. Letztere haben sich draußen vor den Gebäuden einer weiteren Lieblingsbeschäftigung der Chinesen hingegeben: dem Fotografieren, wobei stets irgendjemand vor irgendetwas posieren muss. Den Mangel meines partnerlosen Zustandes erkennend, drängten sich freundliche Chinesen mir auf, für mich zu knipsen und gleich auch noch den Bildpartner zu stellen. Leider waren es nicht die weiblichen.
Erkenntnis des Tages: Es ist nicht der Sender, sondern immer der Empfänger, der bestimmt, was er aufnehmen will.