Sonntag, 31. August 2008

Kirchen und Gedenkstätten

Kirchgang
Nachdem es letzten Sonntag mit dem Gottesdienstbesuch nicht geklappt hatte, ging ich schon am Vorabend auf dem Heimweg an der „All Saints“-Kirche vorbei, die keine 5 Minuten zu Fuß von meinem Hotel an der Ecke Fuxing Zhong Lu/Danshui Lu entfernt ist und die man aufgrund des im romanisierenden Baustils errichteten Gebäudes im Straßenbild als Kirche sofort erkennen kann. In dem Moment, als ich ankam, traten zwei junge Leute an die Tür, aber sie sprachen leider nicht richtig englisch. Das junge Mädchen sprach jedoch gut deutsch, weil sie drei Jahre lang einen Sprachkurs in Hamburg absolviert hatte, und sie kannte sich gut aus. Ich hatte nun die richtigen Informationen über die Gottesdienste hier und an anderer Stelle.
Aber weil ich letzte Woche nichts erreicht hatte, entschloss ich mich, auf Nr. sicher zu gehen, und bin schon um 7.30 Uhr in der „All Saints“-Kirche zum chinesischen Gottesdienst, der gerade schon angefangen hatte, erschienen. Die Kirche war knallvoll wie bei uns an Weihnachten; und auch im Fernsehübertragungssaal gab es keinen Sitzplatz mehr. Ich war die einzige Langnase und wurde ungefragt in die erste Reihe geführt, wo mir durch Zusammenquetschen noch ein Platz verschafft wurde. Dabei hätte ich lieber hinten gestanden, wo ich alles besser überblickt und auch Fotos hätte machen können. Der Raum war schlicht weiß gestrichen, mit indirekter Neonbeleuchtung erhellt, und Deckenpropelloren verschafften einen angenehmen Luftstrom. Alles, was aus Holz war, war mit dicker, glatter rotbrauner Farbe gestrichen, wie überhaupt ganz viele Treppen, Türzargen und Fensterrahmen in Shanghai mit dieser typischen Farbe glanzlackiert sind. Die „All Saints“-Kirche gehört zur chinesisch-protestantischen Kirche von Shanghai.

Chinesische Notation
Zuerst war ein am Klavier gespieltes Orgelpräludium zu hören, dann sprach der Pfarrer am rechten Ambo (Lesepult) den Ruf zum Gottesdienst und betete lange. Nur das Wort Amen verstand ich. Anschließend sang die Gemeinde ein Lied aus dem Gesangbuch. Gesangbücher waren reichlich für jeden aus dem Kirchenbestand vorhanden. Das chinesische Kirchengesangbuch beinhaltet das komplette Alte und Neue Testament, eine Zeittafel und ausführliche Landkarten vom Heiligen Land zu verschiedenen Zeitepochen und 400 Lieder, sowie Psalmen und andere biblische Texte, die im Gottesdienst im Wechsel von Pastor und Gemeinde gelesen werden. Die chinesische Notation hat keine Notenlinien mit den europäischen Zeichen, die Tonhöhe und -länge symbolisieren, sondern gibt in arabischen Ziffern für die Tonhöhe mit darüber und darunter angegeben Strichen und Punkten für die Tonlänge an, was zu singen ist.



Da im Chinesischen jedes Wort ein eigenes Zeichen hat und stets eine Silbe lang ist, kann das Gesangbuch praktisch und kompakt im Blocksatz gedruckt werden. Pausen werden durch senkrechte Striche angezeigt, Legatobögen stehen einfach über den Ziffern, die Tonart wird steht ganz am Anfang und gibt an, welcher Ton mit der Ziffer 1 belegt ist. Ich habe zwar beim Lesen der Notation überhaupt kein Gefühl für die Melodie entwickeln können, finde das aber sehr praktisch, denn es ist extrem platzsparend und es gibt nicht nur einen nach den Liedanfangsworten alphabetisch geordneten Index, sondern auch einen nach den Melodien mit steigenden Ziffern sortiert. Nie wieder vergebliche Suche, wenn man nur die Melodie im Ohr hat. So ein Gesangbuch (leichte, kleine Version, ohne Bibeltext) habe ich mir gleich für 10 Yuan (1 Euro) gekauft, ohne die Hoffnung zu haben, das jemals lesen zu können. Die verständliche Ausgabe, links englischer Text und rechts chinesischer Text, beide mit europäischen Noten versehen, habe ich verschmäht.
Insgesamt hat die Gemeinde drei Lieder (Nrn. 55, 251, 315) gesungen, der Chor ist zweimal aufgetreten. Die Chormitglieder waren überwiegend weiblich und älter – wie in Deutschland, und trugen gleichgeschneiderte helle Talare mit hellblau-gleichfarbigen kurzen Schabracken-Überwürfen – wie in den USA üblich.
Mittelpunkt der Gottesdienstes von anderthalb Stunden Dauer war die Predigt, die von einer Predigerin, schätzungsweise Mitte 30, gehalten wurde, 40 Minuten dauerte und über Jesaja 40, 31 („Aber alle, die auf den HERRN vertrauen, bekommen immer wieder neue Kraft, es wachsen ihnen Flügel wie dem Adler. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und brechen nicht zusammen.“) ging. Die Predigerin hatte ganz rechtsgesessen und sprach jetzt von einem spiegelsymmetrisch zum Ambo angeordneten Pult, das als Kanzel diente. Sie kam mir sehr engagiert und eloquent vor, sie hat frei gesprochen – zu gerne hätte ich verstanden, was sie gesagt hat. Ihr Publikum war größtenteils noch älter als die Peking-Opernbesucher; einige jüngere Leute gab es auch. Wie in Deutschland, von der Zahl der Gottesdienstbesucher mal abgesehen. Das Vaterunser habe ich auf Deutsch mitgebetet, es hat aber im chinesischen einen anderen Rhythmus als in europäischen Sprachen, und die Chinesen waren auch schneller durch damit als ich. Nach dem Segen war flotter Aufbruch. Als ich endlich am Ende des Kirchenschiffs ankam, wurde das Licht schon ausgeschaltet: leider keine Fotos.
Es gab kein Glockengeläut, das zum Gottesdienst gerufen hätte und eine Orgel war auch nicht vorhanden. Der nächste Gottesdienst war für 9.30 Uhr angesetzt. Wenige blieben im Vorraum noch zusammen, die meisten gingen gleich ihrer Wege.



Meiner führte mich drei U-Bahn-Haltestellen weit zur Heng Shan Lu, wo sich in Unmittelbarer Nähe des Ausgangs die Community Church, ebenfalls chinesisch-protestantische Kirche von Shanghai, befindet. Dort war mir angekündigt worden, sei der Gottesdienst auf Englisch. Das Kirchengebäude liegt in einem als Park angelegten Riesengelände und befindet sich etwas versteckt im Stadtbild, jedoch ist von außen an bunten „Glasfenstern", die von der Straße aus erkennbar in die Säulen der Parkumfriedung eingebaut sind, erkennbar, dass es sich um eine christliche Kirche handelt. Auch hier fehlte wieder der Glockenturm, und es gab auch kein Glockengeläut und keine Orgel, die Anordnung in der Kirche war identisch mit der in der ersten, jedoch wirkte diese Gemeinde wohlhabender. Ein halbe Stunde vor Gottesdienstbeginn waren alle Sitzplätze bis auf einige am Rand, besetzt. Die Leute kaufen fleißig in zwei Kiosken auf dem Gelände ein. In einem gab es christliche Literatur, alles nur auf Chinesisch, außer einer Chinesisch-Englischen Bibel und dem besagten zweisprachigen Gesangbuch. In anderen Kiosk wurden etwas kitschige christliche Devotionalien verkauft. Der Gottesdienst verlief genauso wie in der anderen Kirche, jedoch sahen die Besucher eher nach Mittelschicht aus und waren von deutlich jüngerem Durchschnittsalter. Auf der Empore, von wo ich einen guten Überblick hatte, gab es eine Reihe Sitzplätze mit Kopfhörern über die ein junger Chinese alles so gut ins Englische übersetzte, dass ich den Sinn des Gesagten verstand, jedoch von der Wortgewalt der Predigt, die von einer jüngeren Predigerin gehalten wurde, nicht erreicht wurde. Sie legte Psalm 133 aus und brauchte 45 Minuten, bis sie jedes Detail sehr interessant beschrieben hatte. Viele Aussagen im Psalm bezog sie auf die Kirche und sagte etwas für mich nicht mit meinem europäischen Erlebnishorizont bestätigbares: Die Chinesen lägen sehr viel Wert auf traditionelle Glücks- und Segenssprüche. Diese seien aber nur für Glück, Wohlstand und Gesundheit im irdischen Leben hilfreich. Der Segen, von dem im Psalm die Rede sei, beziehe sich auf die Ewigkeit. Auf diesen Segen der Kirche käme es an.



Vor und nach dem Gottesdienst gingen viele Leute nacheinander zum Gebet nach vorne und Knieten dabei auf Polstern. Während des Gottesdienstes gab es keine Geldsammlung. An Ausgang standen Kisten für die Kollekte und außerdem eine, wohinein man die ausgeliehenen Fächer wieder zurücklegte. Man konnte aus einer Sammlung früher vergessener Regenschirme einen mitnehmen, denn es hatte an diesem Morgen immer wieder mal geregnet. Auf der Straße wimmelte es wieder von Menschen.

Ich spazierte durch den beschaulichen Xujiahui Park zur riesigen, gleichnamigen Straßenkreuzung, die von gigantischen neuerrichteten Kaufhäusern voll umstanden ist. Solche Rieseneinkaufszonen, von denen eine für ganz Stuttgart ausreichen würde, gibt es überall in der Stadt und Einkaufen (und Geschäftemachen) ist für die Chinesen das zweitwichtigste nach gut essen.



Lokales Heldengedenken
An diesem regnerischen Nachmittag spazierte ich in der Umgebung unseres Hotels in der Nähe des Fuxing Parks herum, weil ich mir die ehemaligen Residenzen von Sun Yat-sen und Zhou Enlai, die als Museen eingerichtet sind anschauen wollte.
Sun war ein chinesischer Revolutionsführer, der 1911 angeblich im Umsturz des 2000-jährigen Kaisertums eine maßgebliche Rolle gespielt hatte und trotzdem nur kurzfristig provisorischer erster Präsident der Republik China wurde. 1912 gründete er die Nationale Volkspartei (Kuomintang – KMT). Er stammte aus einem Bauerndorf und lebte zuerst, wie sein Bruder als Kuli (verdingter Tagelöhner) auf Hawaii, wo der Bruder als Händler reich geworden war und ihm eine gute Ausbildung zum Mediziner ermöglichte. Unzufrieden mit der Regierung der Qing-Dynastie organisierte er Aufstände, war an der Revolution beteiligt und zeichnete sich als Intellektueller aus. Er entwickelte eine politische Philosophie, die als dreifaches Volksprinzip (in etwa: "Nationalismus", "Demokratie", "Staats-Sozialismus") bekannt ist. Nach seinem Tod 1925 brach ein Machtkampf zwischen seinem jungen Schützling Chiang Kai-Shek, (dem späteren Kampfgegner Maos und Begründer Taiwans) und dem älteren Wang Jingwei aus, der zur Auflösung der Einheitsfront von Kommunisten und Kuomintang führte und 1927 im Bürgerkrieg mündete. In der Volksrepublik China wie in der Republik China (Taiwan) wird Sun als Gründer des modernen China verehrt.
Im Sun Yat-sen-Haus wurde die ehrbare Kuomintang als Grundlage der Revolution hoch geachtet.

Zhou wurde als Sohn aus einer hohen Staatsbeamtenfamilie geboren und gut ausgebildet, studierte im Ausland, u. a. in Deutschland, allerdings gibt es keinen Beweis, dass er je Vorlesungen besucht hätte. Dort trat er in die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ein und nach seiner Rückkehr nach China später, bekleidete er in den Institutionen der KPCh und der KMT vor der Spaltung gleichzeitig wichtige Ämter und organisierte Generalstreiks und Aufstände, auch im Kampf gegen die japanische Besatzung Chinas. Er war stets wichtiger Verhandlungsführer für seine Partei. Von Gründung der Volksrepublik China bis zu seinem Tod war er Premierminister. Er war ein populärer Politiker und behielt seine Ämter auch während des „Großen Sprunges nach vorn“ und der „Kulturrevolution“; danach zeichnete er für die „Vier Modernisierungen“ verantwortlich, welche die Schäden der Kulturrevolution beseitigen sollten.
Im Zhou Enlai-Haus wurde die abscheuliche Kuomintang als Verräter der Revolution tief verachtet.



Beide Museen liegen wenige Schritte voneinander entfernt idyllisch in der ehemaligen französischen Konzession und versuchen ein besonders ehrendes Bild der Persönlichkeiten aufzuzeigen. Dabei werden beide nicht nur wegen ihrer politischen Leistungen gerühmt, sondern auch als moralisch und menschlich besonders integer und unfehlbar in Legendenrollen verklittert.
Die Ausstellungsstücke sind entweder nicht authentisch oder belanglos („den Koffer neben dem Bett benutzte Zhou Enlai zwanzig Jahre lang auf Reisen“). Aber dank der Informationstafeln, Fotozeugnisse und ausgestellter Urkunden kann man sich im Kopf sehr gut ein Bild zusammenstellen von dem, was in den historischen Räumen damals abgegangen ist. Die Ausstellungsräume waren schwach besucht (ähnlich wie deutsche Museen), mir fielen Nichtchinesen, ganz Alte und junge Paare besonders auf. Letztere haben sich draußen vor den Gebäuden einer weiteren Lieblingsbeschäftigung der Chinesen hingegeben: dem Fotografieren, wobei stets irgendjemand vor irgendetwas posieren muss. Den Mangel meines partnerlosen Zustandes erkennend, drängten sich freundliche Chinesen mir auf, für mich zu knipsen und gleich auch noch den Bildpartner zu stellen. Leider waren es nicht die weiblichen.

Erkenntnis des Tages: Es ist nicht der Sender, sondern immer der Empfänger, der bestimmt, was er aufnehmen will.

Samstag, 30. August 2008

Peking-Oper

erratum: Maschinenbau
Eine kleine Richtigstellung meiner gestrigen Behauptungen zum heutigen Fuxing-Campus muss ich meinem Bericht von heute vorausschicken. Dort war anfänglich nicht die Schwesternausbildung untergebracht, sondern das Technikum, das die Herstellung und Unterrichtung des Bauens von medizintechnischen Geräten, die das Tongji-Krankenhaus benötigte, besorgte, damit man neben den teuren Medikamenten die Apparaturen nicht auch noch aus Deutschland importieren musste. Der heutige Fuxing-Campus war also von Anfang an eine Maschinenbaulehranstalt.

Tianchan Beijing Opera
Einer meiner Elektrotechnik-Professorenkollegen ist musikalisch interessiert und bewandert (er hat sich schon eine Guitarre nur für seinen Aufenthalt in Shanghai gekauft – das ist hier natürlich kostengünstig). Seinem Vorschlag, heute eine Peking-Oper anzuschauen, konnte ich nicht widerstehen. Die einzige Vorstellung dieser Kunstrichtung in den nächsten Wochen war für heute 13.30 Uhr im YiFu-Theater an der FuZhou Lu angekündigt. Zu dritt sind wir los. Der andere ET-Kollege kam aus Solidarität mit, war in den letzten 21 Jahren schon oft in China, hatte schon einmal eine Peking-Oper gesehen und wäre eigentlich mehr an Peking-Ente interessiert gewesen. Aber es stand 2:1 für die Oper. Wir wollten vorher das Shanghai-Museum, oder zumindest eine Abteilung davon besuchen, verschoben das Ansinnen wegen einer hunderte Meter langen Schlange vor dem Eingang und beschlossen, an einem Wochentag in dieses Museum zu gehen.

Gigantisches Pudong
Stattdessen fuhren wir kurz mal nach Pudong, dem erst ein oder zwei Jahrzehnte existierenden modernen Buisinessdistrikt östlich des Huangpu-Flusses (Pudong heißt „Fuss-Ost“), wo die welthöchsten Hochhäuser in großer Zahl auf einem zuvor unbebauten Sumpfland errichtet wurden. Zur Zeit sind es 638 Wolkenkratzer, mit dem Ziel, bald auf 1000 zu kommen. Pudong ist der Ort mit den meisten Wolkenkratzern pro m² der Welt.

Heute wurde das Shanghai World Financial Center, das bis zur Fertigstellung des Burj Dubai das zweithöchste Gebäude der Welt sein wird, offiziell eingeweiht. Wir vier deutschen Professoren zählen in Shanghai zu einer Art Honoratioren 4. Klasse, denn in 14 Tagen sind wir mit anderen chinesischen Professoren zu einem Eröffnungsbesuch dort in 492 m Höhe in den 101 Stock eingeladen. Heute spazierten wir nur unten herum entlang, wo mich ein menschliches Bedürfnis ereilte, über das zu berichten ich mir heute wegen interessanter Beobachtung ausnahmsweise zu berichten erlaube. In der von der Straße aus erreichbaren öffentlichen Bedürfnisanstalt sind ausschließlich Kloschüsseln mit Wasserspülung eingebaut. Nichts Besonderes? Anstatt ein Doppelblatt von der Rolle zu reißen und zu falten, muss man ein Tastentableau neben der Schüssel bedienen und kann dann die Strahlstärke, den Oszillationsfaktor, die Wasser- und Sitzflächentemperatur und den Anstrahlwinkel regulieren und, sofern man die mit dem Weiblichsymbol gekennzeichnete Taste drückt, auch noch einen Frontalstrahl hinzu schalten. Obwohl ich nur mit dem Bedürfnis zu stehen gekommen war, entschloss ich mich spontan für Technologieerprobung im Sitzen. Ich muss gestehen, ich bin ein Warmduscher. Währenddessen überlegte ich mir, ob es drei oder doch nur zwei Kilometer entfernt ist bis zur chinesischen Altstadt, wo für ganze Hüttenkomplexe nur ein Wasserhahn (kalt) in der ganzen Straße zur Verfügung steht und dort vor aller Augen von den Bewohnern alle Verrichtungen, die Wasser erfordern, abgewickelt werden müssen. Shanghai ist nicht mit ein paar Sätzen zu beschreiben; China schon gar nicht. Es sind übrigens genau 1,29 km Luftlinie.


Kunstgenuss ohne Verständnis
Auf die Peking-Oper war ich nicht vorbereitet. In einem modernen Theatersaal mit hervorragender elektroakustischer Beschallung saßen wir drei Stunden lang auf roten Plüschsesseln und hatten mit einer Abstimmungsquote von 2:0 bei einer Enthaltung großen Gefallen an der Vorstellung. Den Inhalt habe ich nicht verstanden. Das hat mich aber nicht besonders in Unruhe versetzt, denn aus dem Hamburger Ernst-Deutsch-Theater, wo unser Abo meine Frau und mich mit Freunden regelmäßig hinführt, habe ich mich nach mancher Inszenierung auch schon gefragt, was der Autor wohl habe sagen wollen. Die Ausstattung war spärlich; nur der erste und letzte Akt hatten ein Bühnenbild.

Es wurde eher mit symbolischen als mit realistischen Mitteln gearbeitet. Insbesondere das Können der Schauspieler, ihre Mimik, der Gesang, die überzeugenden pantomimischen Darstellungen und das zum Teil erstaunliche akrobatisches Geschick machten den Reiz der Aufführung aus. Oder waren es die grellen, bunten Kostüme mit den Wasserärmeln aus der Zeit der Kaiser vergangener Dynastien und die ausdrucksstarke Schminke der Figuren? Wasserärmel bestehen aus einem weißen Stück Stoff, das am Ende des eigentlichen Ärmels festgenäht ist und von diesem herabhängt. Sie dienen dazu, Gefühle und Handlungen auszudrücken. Nein, es waren der Wortwitz und die Aussagen des Textes, die besonders gut rüberkamen. Letzteres konnten wir leider nur indirekt den emotional starken Reaktionen der Zuschauer entnehmen: da wurde herzlich gelacht, besondere Leistungen spontan beklatscht, das Publikum tat seine Meinung oft mit lauten Zwischenrufen („hao“ - „gut“) kund, und an bestimmten Stellen, wo alle offensichtlich geradezu darauf gewartet hatten, riefen die Zuschauer unisono im Chor etwas mir unverständliches in den Saal. Den Opernbesuchern war das Stück offensichtlich gut bekannt.
Wie in der Hamburger Staatsoper, wo der italienische Originaltext in deutscher Übersetzung über der Bühne eingeblendet wird, wurden hier die chinesischen Schriftzeichen parallel zum Stück mit seinem Wechsel aus Arien, rezitativartigen Passagen (das so genannte gedehnte Wort) zum Mitlesen eingeblendet. Das seitlich angeordnete Orchester untermalte alle Bewegungen mit Schlag- und Seiteninstrumenten und begleitete den Gesang.
Pausen gab es keine; manche Leute hatten sich etwas zu trinken und auch zu essen mitgebracht und während der gesamten Vorstellung ist immer wieder jemand aufgestanden und ist mal kurz rausgegangen. Zwischendurch haben die Leute mit ihren Nachbarn getratscht oder die SMS am Handy gecheckt. Seinen Ursprung hat das Peking-Oper-Theater, das erst zweihundert Jahre alt ist und gar nicht aus Peking stammt, in den Teehäusern. Hier konnte man sich früher beim Teetrinken unterhalten lassen. Vielleicht geht es deswegen ungezwungener zu als in einem europäischen Theatersaal.

Zur Zeit der Kulturrevolution (1966 - 1976) waren alle traditionellen Peking-Opern verboten und nur acht, nach politischen Vorgaben neu konzipierte Opern wurden aufgeführt. Kaiser, Könige, Generäle und Kanzler, Gelehrte und Schönheiten wurden von der Bühne verbannt, an ihre Stelle traten Arbeiter, Bauern und Soldaten, die zu Helden stilisiert wurden und als Vorbilder für das Volk dienen sollten. Diese konnten natürlich nicht mit den Traditionellen Kostümen und der traditionellen Schminktechnik dargestellt werden. Auch die Musik, die Instrumente, der Gesang, und der Tanz wurden dem neuen Bild Chinas angepasst.

Heute werden die traditionellen Stücke wieder gespielt. Wie unseres hieß, weiß ich nicht: auf der Eintrittskarte steht es für mich unlesbar auf Chinesisch und auf der Internetseite war es mit ‚Peking Opera "Wang Baochuan" by Shanghai Peking Opera Troupe‘ angekündigt. Trotzdem wage ich nach Beratung mit meinen Kollegen eine Inhaltsbeschreibung dessen, was wir gesehen haben:

Erster Akt: Alter Mann ermahnt junges Mädchen, endlich zu heiraten.
Zweiter Akt: Das junge Mädchen ist in einen prächtigen Soldaten verliebt und will nur ihm gehören.
Dritter Akt: Als Ehemann ist ein arroganter Pinkel für das junge Mädchen vorgesehen, den dieses ablehnt und von sich weist.
Vierter Akt: (Hier hätte ich jetzt nach italienischem Vorbild den Freitod des Mädchens erwartet, das zwischen Pflicht dem Vater gegenüber und dem Ruf des Herzens in einem unlösbaren Dilemma steckt; aber nein) Plötzlich tritt ein schöne Frau auf und singt in Konkurrenz zum Mädchen.
Fünfter Akt: Vor Gericht müssen sich Figuren verantworten, die im Stück gar nicht vorgekommen sind. Plötzlich tritt eine alte Frau auf, singt eine moralische Ermahnung und führt alles zu einer glücklichen Wende. Der Richter verneigt sich vor der alten Frau. Am Schluss ist alles gut.

Na ja, vielleicht war die Handlung auch ganz anders. Mir hat der Opernnachmittag gut gefallen. Das Theater war in allen Preisklassen zu dreiviertel besetzt. Das Publikum war im Schnitt viel älter als die Menschen, die draußen vor dem Theater rumliefen, es waren. Wie in Deutschland scheinen die jungen Chinesen sich nicht mehr für (Peking)-Operntheater zu interessieren. Westliche Musik ist in Shanghai überall zu hören: Aufbruch in die Neuzeit. Hat die Kulturrevolution der jungen Generation keine Möglichkeit mehr gegeben, mit dieser Tradition aufzuwachsen? Verstehen nur noch die Alten diese komplexe Kunstform? Vor dem Theater wurden einige Greise, die kaum noch selbständig ihr Taxi besteigen konnten, abgeholt. Genau das gleiche kann man nach einer Aufführung des Ohnsorg-Theaters in Hamburg beobachten.

Erkenntnis des Tages: Mit einer umfassenden Bildung, mit der man versteht, was man sieht, hat man viel mehr vom Leben.

Freitag, 29. August 2008

Universitätsentwicklung

Der Fuxing-Campus der USST
Bereits 1907 wurde der Fuxing-Campus in den Dienst der Wissenschaft gestellt, hieß damals aber noch nicht so. Fuxing bedeutet „Erneuerung“. So wurde nach der kommunistischen Machtergreifung eine wichtige Ost-West-Straße umbenannt, an der der Campus liegt und nach der er benannt ist. Zu Beginn war er ein Ableger der Shanghai Tongji Deutsche Medizinschule, aus der die renomierte Tongji-Universität wurde. Der deutsche Arzt Erich Paulun hatte nach Niederschlagung des Boxeraufstands, schockiert über die schlechten medizinischen Verhältnisse in Shanghai, in idealistischer Vorgehensweise ein Krankenhaus mit freier Behandlung gegründet. Auf unserem Gelände fand ursprünglich Schwesternausbildung statt.



Der Name Tongji, der der Schule 1912 bei der Erweiterung um technische Studiengänge gegeben wurde, stammt aus einem chinesischen Sprichwort „Tong Zhou Gong Ji“, was so viel bedeutet wie „In einem Boot sitzen und einander helfen“. Nach dem ersten Weltkrieg übernahmen Franzosen unser Gelände und richteten dort eine Maschinenbauschule ein. In der Zeit der japanischen Besatzung im zweiten Weltkrieg wurde die Universität ausgelagert, aber nach der Machtergreifung der Kuomintang wurde wieder Maschinenbau unterrichtet und auch weiterhin, als die Volksrepublik China gegründet war. Inzwischen ist die University of Shanghai for Science and Technology selbständig, und der Hauptcampus mit 2000 Studierenden liegt am Stadtrand flussabwärts am Huangpu, ca. 45 Minuten Fahrzeit entfernt. In Shanghai gibt es 22 Universitäten, in ganz China 1554. Unser Innenstadtcampus ist der kleinste der USST. Dass im Shanghai-Hamburg-College das Semester jetzt schon begonnen hat, ist dem Umstand geschuldet, dass die deutschen Professoren nicht während des ganzen Semesters in Shanghai anwesend sein können, und deshalb bereits in den Semesterferien mit dem Unterricht anfangen.




Auf dem Campus brodelt also noch nicht das volle Studentenleben. Noch beherrschen die Bauarbeiter die Szene. Der Zementmischer mischt den ganzen Tag den Zement ohne Mischmaschine, aber auch ohne Bottich auf dem blanken Asphaltboden und karrt den feuchten Zement dann mit einem landestypischen Einachskarren an den Verbrauchsort. Auch für den Bauschutt stellt man keine Mulden auf. Er wird aus dem Fenster in den Hof hinabgeworfen und dann noch einmal manuell umgeschaufelt, um dann wieder Karrenweise abtransportiert zu werden. Und doch ist täglich alles abgeräumt. Um Sauberkeit kümmern sich viele dafür eingesetzte Menschen. In den Straßen sehe ich immer irgendwo irgendjemanden den wenigen Straßenschmutz zusammenkehren. Trotzdem habe ich oft beobachtet, wie der persönliche Verpackungsmüll auf offener Straße und von niemandem beanstandet in weitem Bogen von sich weg auf den Weg geworfen wird. Offensichtlich ist das ganz egal, denn es ist wird ja gleich wieder weggekehrt.



Bauweise
Die ganz alten Gebäude auf den Fuxing-Campus erinnern an den Stil eines englischen Elitecolleges: rote Ziegelmauern und weiße Säulen am Eingangsportikus. Auch die später gebauten Gebäude nehmen den Baustil voll auf. Bei genauem Hinsehen, stellte ich fest, dass deren Gebäudefassaden nicht aus Ziegeln warn, sondern täuschend echt nachgemacht nur den optischen Schein von Ziegeln hatten. Der Putz war mit Ziegelmuster im Läuferverband strukturiert, rot gestrichen und die einstrukturierten Fugen dann mit weißer Farbe ganz dünn ausgepinselt – ganz offensichtlich alles Handarbeit. Noch mehr ins Staunen geriet ich, als ich feststellte, dass alle Mauern doch aus Ziegelsteinen hochgezogen sind und der Putz außen auf die Ziegel aufgebracht wurde, um dann wieder den Ziegel-Look aufgemalt zu bekommen. Ich lerne hier neue Kategorien kennen, was unter effektiver Arbeit zu verstehen ist. Viele Arbeitsplätze sind in unserem Verständnis Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Aber sind sie deswegen unnötig? Ohne sie hätten noch mehr Leute, als so schon bei Müßiggang und Dösen zu sehen sind, den ganzen Tag nichts zu tun. Meine ganzen REFA- und Kaizen-Erfahrungen kann ich in diesem System nicht anwenden.



Sehr ungewohnt war für mich der Werkstoff Bambus als Strukturmaterial für Baugerüste, obwohl ist wusste, dass er auch dafür überall dort eingesetzt wird, wo er wächst. Das ist in allen Kontinenten der Fall, außer in Europa – mit Ausnahme im Garten eines früheren Kollegen von mir in der Nähe von Hamburg, wo bestimmt 50 Sorten gepflegt wuchern. 50 Sorten, das ist aber fast nichts verglichen mit den 1447 verholzenden Bambusarten der Gattung Bambuseae, von denen allein 500 Arten in China vorkommen. Hier steht der Bambus als Symbol für langes Leben. Besonders interessant finde ich, dass das unterirdische Rhizom des Bambus, aus dem der Halm und die Wurzel entstehen, schon von Anfang an beim Durchbrechen aus der Erde den, je nach Art unterschiedlichen, Enddurchmesser haben. Ein Wachstum in die Breite kennt der Bambus nicht. Diese Eigenschaft des Bambus besäße ich auch gerne.

Erkenntnis des Tages: Manches Wissen, das ich habe, ist nur relativ richtig.

Donnerstag, 28. August 2008

Essen im Alltag


Kontakt zu den Studenten
Nach einer halben Woche habe ich etwa von der Hälfte meiner Studenten einen ersten Eindruck und kann von diesen jetzt schon sagen, welche Noten sie mutmaßlich in den Klausuren schreiben werden. Es gibt die einen, die bevorzugt in den ersten beiden Reihen sitzen, die auf meine in den Raum gestellten Fragen Antworten geben und sich trauen, immer längere Sätze zu formulieren, die erkennbare Körpersprache zeigen, wenn ich eine komplizierte Sache erklärt habe und dann „der Groschen gefallen“ ist und die mich nach der Vorlesung auf Zusammenhänge ansprechen, die ihnen nicht klar geworden sind. Und es gibt die anderen, die sich mit Absicht in die letzte Bank gesetzt haben, um ja nicht angesprochen zu werden; wenn ich das dann doch namentlich tue, dann stammeln sie mir Unverständliches, das ich nicht dem Thema zuordnen kann. Dabei bemühen sich die chinesischen Deutschlehrer und das ganze College um die Zweisprachigkeit; alles ist Chinesisch/Deutsch beschriftet.

Mensaessen
Zu meiner Studienzeit kursierte unter Verwendung eines deutschen Sprichworts, in dem die Wörter „Krug“ und „Brunnen“ vorkommen, der Ausspruch: „Der Student geht so lange zur Mensa, bis er bricht.“ Damit wird wohl ausgedrückt, dass Uni-Mensen weltweit nicht die Funktion sternausgezeichneter Gourmettempel haben. Dort ist das Essen bodenständig und günstig, und beim Essen dort kann man einen anderen Aspekt nationaler Speise- und Verspeisegewohnheiten beobachten, als in besagten Edelrestaurants.
Für Europäer, wie mich, die sich für gesittet und kultiviert halten, hat die Vorstellung, nicht mit Messer und Gabel zu Essen und es auch gar nicht zu können, einen schon ins Niveaulose und Vulgäre gehenden Charakter. In China gibt es in den Restaurants nirgends etwas anderes als Stäbchen. (OK, ein Haus, das etwas auf sich hält, hat auch ein paar Messer und Gabel auf Bestellung, für ausgefallene Kunden, so wie wirklich gute Wirtschaften in Deutschland selbstverständlich auch Stäbchen bereithalten).
Nach chinesischem Empfinden mutet es sehr nämlich archaisch und primitiv an, wenn man sich mit Waffen an den Tisch setzt, wo es doch um eine den Sozialzusammenhalt fördernde friedliche Mahlzeit gehen soll. Aus diesem Grunde seien die Stäbchen bei der Tischkultur ursprünglich eingeführt worden. Die Benutzung von Stäbchen setzt dabei voraus, dass man die Essensportionen schon bei der Zubereitung mundgerecht kleinschneidet. Nun brauchen kleingeschnittene Speisen weniger Energie zum Kochen, und da behaupten andere, der ursprüngliche Grund für das extensive Vorbearbeiten der Kost, sei die Senkung des Brennholzverbrauchs gewesen. Heute gibt es in China faktisch nur Stäbchen.


Original chinesisches Essen
Wir waren einmal, weil wir stets neue Gaststätten ausprobieren, in einem Western-Style-Restaurant, das so tat, als sei es Amerikanisch. Auch dort gab es nur Stäbchen, und das Essen, die Speisefolge, und die Zutaten und der Geschmack der Speisen kamen mir rein chinesisch vor. Mit Englischkenntnissen konnte man nicht bestellen. Aber die Kunden fühlten sich ganz offensichtlich wohl mit dem, was sie aßen. Genau so kann man sich die Authentizität eines China-Restaurants in Deutschland vorstellen.
Die Mensa an meiner Uni ist schlicht und einfach ausgestattet. Das Bezahlsystem ist voll elektronisch. Man lädt an einem vergitterten Kassenschalter mit Bargeld Guthaben auf eine RFID-Karte. (Das Geldannehmen, das - wie an jeder anderen Kasse im Land - umfangreiche Prüfen der Scheine auf Echtheit und das Laden der Karte macht ein Mensch. Personalrationalisierung ist hier überhaupt kein Motiv. Es geht dabei um Verhinderung von Diebstahls- und Raubdelikten. Wird an Geldautomaten der Geldschacht nachgefüllt, entsteigen dem gepanzerten Geldtransporter zwei Mitarbeiter und beladen den Automaten gemeinsam. Weitere zwei stahlhelm- und schutzwestegesicherte „Security“-Mitarbeiter mit riesigen Pumpguns, finsterer Miene und für chinesische Verhältnisse überragender Körpergröße und beachtlicher Leibesfülle bewachen die Aktion.)
Nach Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit stellt man sich am Schalter an, wo man aus 10 Großküchenbehältern in den Preisklassen von 5 bis 40 Yüan pro Kelle auswählen kann. Reis gehört nicht dazu, denn den gibt es immer reichlich schon als Basisausstattung. Die Auswahl erfolgt auch bei den Chinesen durch zeigen mit den Fingern auf die Vorratsbehälter. Es gibt Sprossen, Bohnen, verschiedenste Tofu-Zubereitungen, ein an Mangold erinnerndes grünes Gemüse, das qing-cai (grün-Gemüse) genannt wird, Fleischbällchen, Fisch, eine wie Fleisch aussehende braune Zubereitung aus fermentiertem Weizen mit der Konsistenz von in Würfeln geschnittenem Badeschwamm und gutem Geschmack. Das Essen wird auf einem Edelstahltablett mit tiefgezogenen Mulden herausgegeben und der Betrag elektronisch von der Karte abgebucht. Seine Stäbchen holt man sich aus einem Dispenser, der so funktioniert wie der Strohalmspender bei McDonalds. Außerdem kann man sich eine Flasche Limo oder Cola für 1,20 Yüan oder Bier für teurer holen.

Optimale Anpassung
Im Reiseführer steht, dass es zu den chinesischen Tischsitten gehört, dass die Tischdecke nach dem Essen bekleckert sein muss, was ausdrücke, dass es geschmeckt habe. Ich halte das für eine Zwecklüge. Mit Stäbchen ist es nämlich unmöglich, kleckerfrei die Speisehappen von der Servierschale freischwebend über dem Tischtuch bis zum Mund zu fühlen, ohne dass es tropft. Die Tischdecke ist immer versaut, egal wie es geschmeckt hat (Sauberes Tischtuch ist theoretisch-hypothetisch nur möglich, wenn man keinen Bissen angerührt hat – aber das tut bei der chinesischen Küche höchstens eine an Anorexia nervosa Erkrankte)

In der Mensa gibt es keine Tischdecken, an denen man den Grad des Speisegenusses ablesen könnte. Deswegen optimieren die Studenten die Wegstrecke zwischen tiefgezogenem Edelstahltablett und der Oberkante der unteren Zahnreihe, wobei sie geschickt den Minimalabstand zwischen Kinnunterkante und Maximalerhebung Ihrer Speise einhalten. Ergonomisch ist diese Haltung nur einnehmbar, wenn der Gesäßaußensinus in die Kehle von Sitzfläche und Rückenlehne des Stuhls gepresst wird und gleichzeitig das Rückgrat eine S-förmige Krümmung annimmt.
Beim Essen werden die Stäbchen ausschließlich in einer Hand gehalten. Die andere ist somit frei. Und hiermit kommen wir auf den wahren Grund, weswegen die Stäbchen in China eingeführt wurden: Mit der freien Hand kann man andere sinnvolle Verrichtungen ausführen. An meinem Nebentisch beobachtete ich einmal eine einsam und allein sitzende Studentin, die fortlaufend Selbstgespräche führte. Ich verstand wegen ihrer chinesischen Sprache natürlich nichts, vermutete aber bei der bedauernswerten Person ein psychisches Leiden, verbunden mit sozialer Kontaktschwäche. Nein, sie hatte während Ihrer Mahlzeit unablässig mit ihrem Handy telefoniert und war noch nicht fertig, als sie fertig war. In einem Lokal beobachtete ich einen Mann beim genüsslichen Essen, der rechts die Stäbchen in der Hand hielt und links die brennende Zigarette. Das nenne ich optimale Ressourcennutzung. Was kann es noch an Steigerung geben, als gleichzeitig genüsslich zu essen und genüsslich zu rauchen? Wahrscheinlich wird er sich demnächst sein Essen auf der Kloschüssel sitzend servieren lassen.

Erkenntnis des Tages: Hauptsache es schmeckt.

Mittwoch, 27. August 2008

Mein trauriger Tag


Heute Morgen erreichte mich die traurige Nachricht, dass meine Mutter gestorben ist. Sie ist 83 Jahre alt geworden und hat in diesem Jahr schon zwei Schlaganfälle erlitten, die ihre Lebensqualität beträchtlich verschlechtert hatten, nachdem sie bis dahin nur altersgemäße Einschränkungen hatte und sehr selbständig leben konnte. Am Tag meiner Abreise war ein dritter, schwerwiegender Schlaganfall dazugekommen, sodass mit ihrem Tod zu rechnen war. Wie schön, dass wir als Familie Anfang August nochmal ein ausgesprochen nettes Zusammentreffen bei ihr und sie mit uns erleben konnten.

Während meiner Vorlesung heute musste ich mich besonders konzentrieren und habe ansonsten den Tag mit Telefonaten nach Deutschland verbracht und dem noch vergeblichen Versuch, eine erneute Visumserteilung zur Wiedereinreise nach einem außerplanmäßigen Heimflug zu klären. Mein Maschinenbau-Professorenkollege würde meine Ausfallstunden übernehmen und ich diese nach Rückkunft wieder ausgleichen. Heute bin ich in der Hauptsache für mich ganz alleine geblieben und habe meine Gedanken sehr ausgiebig niedergeschrieben – sie gehören aber nicht in dieses Tagebuch.


Überprüfung der Luftstaubbelastung
Nach nur einem Tag klaren Wetters gestern hat der Himmel sich seinen Tribut an die menschliche Zivilisation wiedergeholt. Die Wolken sind kaum noch zu erkennen, schon wieder hat der permanente Smogschleier den Hintergrund in ein opakes bleigrau gehüllt. Noch hat man kilometerweite Sicht. Orientierungspunkt für mich ist die laut Google Earth genau 3,94 km Luftlinie entfernt liegende, von meinem Fenster noch beobachtbare oberste Kugel vom Oriental Pearl TV Tower in Pudong, die ich hinter Hochhäusern hervorlugen sehen kann.
Ich habe sehr günstig einen hier erhältlichen Hochleistungs-Laserpointer erworben, der mit frequenzverdoppeltem DPSS-Laser bei 532 nm grün leuchtet und mit dem ich selber im Versuch die Reichweite erprobe. Ich habe ein Fernglas gebraucht, um das erfolgreiche Auftreffen des Strahls auf der Kugel zu überprüfen. Aufgrund der Rayleigh-Streuung und der kurzen Wellenlänge, streut der Strahl ganz herrlich in der Luft. Damit kann ich jetzt mit sichtbarem Strahl beispielsweise auf Sterne am Nachthimmel zeigen.

Das Bild zeigt den sonst typischen Smogzustand, wo man den vom Volksplatz aus in 2,37 km Entfernung stehenden Turm in der Häuserschlucht gerade noch ausmachen kann. Diese 東方明珠塔 Dōngfāng Míngzhūtǎ „Perle des Ostens“ ist mit einer Höhe von 468 m der dritthöchste Fernsehturm der Welt und wird in Shanghai schon vom Shanghai World Financial Center (492 m, 101 Stockwerke) überragt.

Erkenntnis des Tages: Man findet auch inmitten einer brodelnden Stadt einen Ort der Ruhe, wenn man ihn braucht.

Dienstag, 26. August 2008

Ein ganz normaler Tag

Wo ich bin und wie ich Kontakt halte
Mein heutiger Tag war angefüllt von Vorlesungsvor- und -nachbereitungen, sodass ich eigentlich nur vom Weg zur Arbeit und vom Essen berichten kann. Weil in der Uni das Internet für mich noch nicht funktioniert und ich dabei bin, meine Vorlesung spontan umzustellen und zur Verbesserung des Verständnisse mit Bildern anzureichern, musste ich teilweise im Hotel und andererseits im deutschen Professorenbüro (Geografische Lage: Lat: 31° 12' 48,17'' N – Lon: 121° 27' 20,68'' E – Elv: 7 m aSL) im Campus arbeiten. Im Hotelzimmer funktioniert das Internet so leidlich, wie in Deutschland in großstadtfernen Landkreisen ohne DSL-Netz. Das chinesische Backbone besteht aus 7 Netzwerken, die nur in Peking, Shanghai, Guangzhou und Hong Kong internationale Anbindung mit gerade mal 36 Gbps in Spitzenzeiten haben; teilweise befinden sich die Netzbetreiber, die am Backbone der VR China peeren, noch immer unter staatlicher Kontrolle. Ob letzteres eine Auswirkung hat, kann ich nicht beurteilen.
Meine beiden Arbeitsorte liegen nicht weit voneinander entfernt – mit dem Fahrrad sind es längstenfalls 15 Minuten. Herrlicher Sonnenschein und vor allem eine ganz klare Luft heute morgen hätten niemanden vermuten erahnen lassen, was für ein Unwetter gestern herrschte.



Der Blick direkt aus meinem Hotelzimmerfenster (Geografische Lage: Länge: 121° 28' 02,95'' O; Breite: 31° 12' 51,62'' N; Höhe: 6 m ü. NN plus 11 Stockwerke) auf einen kleinen Ausschnitt der Skyline von Shanghai gefällt mir im Tag- und im Nachtdesign. Allerdings wird die bunte Illumination nachts bereits um 22.00 Uhr abgeschaltet. Und erst nach 06.00 Uhr morgens brodelt der Berufsverkehr wieder. Das New Yorker „The City that never sleeps“ gilt hier noch lange nicht.



Verkehrsführung
Zur Uni kann ich nicht auf dem kürzesten, direkten Weg fahren, weil hier bei wichtigen Straßen Einbahnverkehr gilt. Da das Straßennetz großenteils in etwa in Nord-Süd- und in Ost-West-Richtung verläuft und jede zweite Straße in die eine und die dazwischenliegenden Straßen in die entgegengesetzte Richtung führen, kann man sich gut orientieren. Das führt allerdings dazu, dass keine Buslinie auf dem Hin- und Rückweg die gleichen Straßen benutzen kann. Ich kenne zwar die Omnibuslinie 786 vom Hotel zur Uni (drei Haltestellen) und die Trollybuslinie 24 zurück (drei andere Haltestellen), aber das System habe ich noch nicht durchschaut. An fast jeder Haltestelle halten mindestens 8 Linien und weitere fahren durch. Alles ist zwar minutiös aufgeschrieben – an dieser Stelle leider ausschließlich auf Chinesisch. Dafür gibt es an den meisten Haltestellen und im Bus Flachbildfernsehschirme mit laufendem Programm und mit Werbung. Witzig finde ich, dass alle Busse Vorhänge vor den Fenstern haben; die modernen Stadtlinienbusse auch sehr leistungsstarke Klimaanlagen. Alle Busse sind aus chinesischer Produktion und tragen zum größten Teil mir unbekannte Herstellernamen. Genaugenommen kannte ich bisher nur Dongfeng als einen der weltgrößten Produzenten. Manchmal erkenne ich Kooperationsprodukte, z. B. mit Volvo; deren chinesische Tochter produziert die Marke Sunwin. Insgesamt lag die chinesische Produktion letztes Jahr bei fast 100.000 Einheiten mit 6 % Wachstum. Das PKW-Wachstum ist noch größer. Es fällt mir wunderbar angenehm auf, dass in kaum einer Straße Autos am Straßenrand geparkt sind – aber lang wird das sicher nicht mehr so bleiben. Auch die PKWs sind fast ausschließlich aus chinesischer (Ko-)Produktion. Allerdings, einen Porsche Carrera S (in weiß) und einen Maybach (lange Version in schwarz) habe ich auch schon gesehen.

Die Leute um mich herum
Nicht nur in Bussen findet man Reklame für alle möglichen Konsumgüter, sondern auch sonst auf Schritt und Tritt. Immer sind chinesische Menschen auf den Fotos zu sehen. Dagegen habe ich so gut wie gar keine Parteireklame oder rote Wandsprüche wie damals in der DDR zu Gesicht bekommen. Das äußere Leben ist total unpolitisch. Niemand trägt Mao-look. Shanghai (上海 shànghǎi = über (dem) Meer. Ein anderes Schriftzeichen für Shanghai: 沪, Aussprache hù, ist auf den Autonummernschildern zu sehen. Auch die Schriftzeichen 伤害 werden shānghài ausgesprochen, jedoch mit anderer Tonführung und bedeuten “Unheil”. Das sind Stolperfallen für unkundige wie mich.) liegt auf ca. 30° geografischer Breite, das ist auf Höhe der Kanarischen Inseln oder Kairos oder (auf der anderen Hemisphäre) Kapstadts. Deswegen ist es sehr warm und jeder läuft hier leger und leicht bekleidet herum. Bekleidungspolitisch sind die Menschen hier nicht von denen in den genannten Orten (von Kairo mal abgesehen) zu unterscheiden. Die Frauen machen sich chic – nicht alle, aber das ist sicher Geschmackssache und nicht Ideologie.
Alle Chinesen habe tiefschwarze Haare (Greise auch weißes Haar; im Stadtbild sind wenige Alte zu sehen) und sind kleiner als wir; Adiposität ist überhaupt kein Massenproblem; alle wirken richtig schlank. Die Frauen haben alle flache Brüste und flache Pos. Die normale chinesische Unterhaltungslautstärke liegt gefühlt 10 dB höher als bei Deutschsprechenden (das ist doppelt so laut). Das Schlimme ist, dass ich mich nur mit ganz wenigen Chinesen tiefgehender unterhalten kann; auch das Englisch (oder der Mut, es einzusetzen) der meisten Studenten, die ich treffe, hilft nicht weiter. Deswegen kann ich die Charaktere nicht einschätzen, sondern nur nach dem äußeren Anschein und dem Habitus urteilen. Sonst könnte ich mich auch mal von mir verständlich machen. Denn trotz der massiven Antirotzkampagnen gibt es noch viele Überzeugungstäter, die von der alten Gewohnheit nicht lassen (können). Auch in der Vorlesung stört sich niemand an geräuschvoller Nasenbefreiung (nach oben). Nach den Pekingern sind nun aber die Shanghaier dran, denn was vor 2008 im Norden für die Vorbereitung der Olympischen Spiele getan wurde, findet hier in Shanghai jetzt im Hinblick auf die Weltausstellung Expo 2010 statt.



Mit dem Rad zur Uni
Mein Weg zur Uni mit dem Fahrrad findet in der ehemaligen französischen Konzession unter dem Blätterdach von in allen Straßen angepflanzten Platanenalleen statt. Einbahnverkehr bedeutet, dass Autos, Busse, LKW und Motorräder auf der rechten Seite in die eine Richtung fahren und Fahrräder, (sanft knatternde) LPG-Roller, (lautlose von hintern überraschend vorbeibrausende) Elektroroller und schwer bepackte Dreirad-Lastenfahrräder in entgegengesetzter Richtung, ebenfalls auf der rechten Seite – oder auch nicht so streng beachtet. In der nächsten Parallelstraße ist es umgekehrt. Die Fahrgeschwindigkeit ist niedrig; im Notfall kann man fast immer gerade noch halten. Aber jeder überholt jeden so gut er kann und sucht sich seine Lücke, doch noch geschickt – und sei es von ganz links zum Rechtsabbiegen.

Über meine Beobachtungen beim Essen in der Mensa berichte ich ein anderes Mal.

Erkenntnis des Tages: Ganz normales Alltagsleben ist für mich noch längst nicht alltäglich, sondern aufregend, spannend und bemerkenswert.

Jetzt auch:
教授博士工程师洪彼得
jiàoshòu bóshìgōngchéngshī hóng bǐdé
Prof. Dr.-Ing. Hornberger, Peter

Montag, 25. August 2008

Tropische Taufe

Unwetter
Mein wichtigstes Tageserlebnis hatte ich bereits am frühen Vormittag hinter mir. Als ich um 6.00 Uhr aufstand lud mich der zwar trübe aber regenfreie Himmel ein, später mit dem Fahrrad zur Uni zu fahren. Ortstypisch hatte ich für meinen ersten Vorlesungstag kein Jackett und keine Krawatte, sondern nur ein kurzes Hemd, aber wenigstens doch eine lange Hose und Lederschuhe ausgewählt. Um halb acht, als ich dann losmusste, setzte ein unmittelbar über der Stadt ausbrechendes Gewitter mit heftigen Blitzen, Donnerschlägen und tropischem Wolkenbruch ein. Später wurde gesagt, es seit der Ausläufer eines Taifuns, von denen es im Oktober besonders viele gebe. Fahrradfahren war also undenkbar; ich zog meinen Regenschirm ganz tief, um meinen Laptop im Rucksack vor Nässe zu schützen. Bis zur Bushaltestelle versuchte ich noch um die immer tiefer werdenden Pfützen herum zu balancieren. Überall fing das Wasser an, sich zu stauen. Bei Ankunft des Busses war die Bordsteinkante unter dem Wasserspiegel nicht mehr zu erkennen. Die Reifen schoben eine spürbare Bugwelle vor sich her.



Nun musste ich doch mit einem beherzten großen Schritt einmal mit den Schuhen tief ins Wasser steigen. (Erstmalig hörte ich auch einen heftigen Streit zwischen einem Passagier und der Busfahrerin. Vermutlich, weil sie, wie alle anderen Busse, so weit von der Bordsteinkante weg anhielt, dass jeder der einsteigen wollte, nur watend zur Tür gelangen konnte. Was gesagt wurde, verstand ich natürlich nicht, aber es war ein gellend lautes Gekreische in extrem unterschiedlichen Tonlagen; schade, dass ich das nicht aufnehmen konnte). An der Uni angekommen, gab es keine Wahl des Weges mehr. Die Wassermassen konnten nicht schnell genug abgeführt werden. Jeder vorbeifahrende Bus erzeugte eine quer über die Straße rollende Bugwelle, der ich durch aufsteigen auf die Treppenstufe zu den (noch geschlossenen) Läden auszuweichen versuchte. Vergeblich. Dafür drang das Wasser in die Geschäfte ein. Das letzte Stück musste ich durch wadenhohes Fluten waten, wie alle anderen und meine Studenten auch. Ich war jedoch der einzige in Lederschuhen. Damit es nicht so laut schmatzte beim hin- und hergehen, hielt ich meine erste Vorlesung in Socken und am ganzen Körper nass. Darin unterschied ich mich in nichts von meinen Studenten. Mir ging es auch sehr gut, nachdem ich die Feuchte als gegeben hingenommen, akzepiert und gutgeredet hatte: es war ja angenehm warm und meine elektronischen Geräte waren schadlos geblieben. Bis zum Ende der Vorlesungsstunde hatte sich das Regenwasser übergangslos gegen Körperschweiß ausgetauscht.
Die Dekanin entschuldigte sich für das Wetter, als wäre Sie auch dafür verantwortlich. Seit Jahren habe es nicht mehr so heftig geregnet, wie heute morgen. Für mich war das ein sehr gut erinnerlicher Einstieg in meine neue Aufgabe.



Zum Ausgleich gab es am Nachmittag für jeden Gastprofessor ein paar praktische, weil wasserfeste Plastik-Clogs, die ich bei entsprechender Bedrohung anziehen werde. Nie mehr Lederschuhe – höchstens Sandalen.

Lectures
Besonders spannend war für mich, wie meine Studenten mich annehmen, verstehen und mit mir umgehen würden. Frau Prof. Sun, Direktorin der Abteilung Maschinenbau des Collegs, stellte mich den Studierenden sehr wortreich auf Chinesisch vor (auf Englisch erklärte sie mir, sie habe mich als „the famous Professor“ angekündigt).



Meine Studenten, 41 an der Zahl, können alle deutsch, und ich habe jeden verpflichtet, einmal in der Woche eine Frage auf Deutsch zu stellen oder auf die Fragen, die ich in den Raum stelle, auf Deutsch zu antworten. Durch das besondere Eingehen auf die Sprachmängel geht es etwas langsamer voran als in Deutschland, aber ich habe mehr Vorlesungssemesterstunden als in Hamburg zur Verfügung. Ein Beispiel: Als es um denkbare Fertigungsalternativen für die Herstellung der Mittelelektrode einer Zündkerze ging (das ist den Studenten in Deutschland ja zunächst auch noch sachfremd), musste wir zuerst klären, was eine Zündkerze ist.
Das funktionierte folgendermaßen: Das deutsche Wort Zündkerze geben die Studenten in ihr elektronisches Wörterbuch ein und erhalten dann die Übersetzung in chinesische Zeichen: Feuer-Blume-Stoß oder zünden-Feuer-Gerät, wobei Feuer-Blume der stehende Begriff für Flamme ist; unseren stehenden Begriff Zünd-Kerze muss man ja auch erst mal kennen und darf ihn ebenso wenig wörtlich nehmen. (Wie gut, dass heute nicht der Kotflügel dran war). Ihre Übersetzung haben sie dann als Feuerzeug identifiziert. Die allermeisten hatten in ihrem Leben noch nie eine Zündkerze in der Hand gehabt. Also, zuerst Begriffsklärung. Es wusste auch keiner, mit welcher Drehzahl ein Viertaktottomotor arbeitet (Leerlauf ab 700 U/min.; Fahrbetrieb 1500 – 5000; Formel1 bis 19.000) und wievielen Zündungen die Zündkerze ausgesetzt ist (1 x in 2 Umdrehungen). Mein Eindruck bei anderen Fragestellungen ist, dass das Denken in Plausibilitäten noch nicht schwerpunktmäßig eingeübt ist. Wenn der berühmte Professor ihnen etwas vorsetzt, wird es auswendig gelernt – es wird schon stimmen! Ich glaube, dass ich den Studenten schon an ersten Tag kognitive Aha-Erlebnisse vermitteln konnte. Auf meinem Weg in die Uni morgen werde ich bei einer der zahlreichen Bastelwerkstätten für Fahrräder und Mopeds am Straßenrand eine gebrauchte Zündkerze als Anschauungsmaterial mitbringen. Dann kann ich auch kurz etwas zu den Einstellungsfehlern sagen, die man u. a. am Abbrandverhalten der Mittelelektrode ablesen kann.

Mein Name
Am Nachmittag habe ich mit Xu Jingwei (sprich: Schö Jinwei, dessen Namen ich bis zum Eintreten meines Alzheimers nie mehr zu vergessen versprochen hatte) über chinesische Wörter und den Sprachaufbau (z. B. Zündkerze) gesprochen. Er hat mir einen chinesischen Namen nach chinesischer Denkweise verpasst. Nicht die Bedeutung ist dabei wichtig (also: Hornberger = der Mensch, der vom spitz aufragenden Berg oder der aus dem Ort Hornberg stammt), sondern der Klang der Silben: Hong Bei Grr. Da hinter gleichen Silben je nach Betonung und Schriftzeichen mehrere verschiedene Bedeutungen stecken, gibt es vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Mein Nachname heißt „hundertfache Überflutung“. (für Peter gibt es eine Standardübersetzung: Pei te = etwas Besonderes (an sich) tragen). Auf meinem Einwand, kein Chinese hätte einen mehrsilbigen Nachnamen, sind wir auf die Lösung Hong Pei te gekommen (Der Nachname steht immer an erster Stelle; Hong ist einer der 100 alten chinesischen Familien-Stamm-Namen und bedeutet Überflutung). Das passt so richtig zum heutigen Tag! Demnächst werde ich mir ein Siegel anfertigen lassen, dass hier oft Anstelle einer Unterschrift verwendet wird.

Erkenntnis des Tages: Von der Natur und von den Studenten und von Xu bin ich an meinem ersten Tag für mich eindrücklich eingewei(c)ht worden.

Sonntag, 24. August 2008

Sonntagsausflug

Am heutigen Sonntag gab es nochmal die Gelegenheit zur Kurzweil, bevor der Semesterbetrieb morgen früh um 8.00 Uhr startet. In Sichtweite von meinem Hotel aus steht die St. Peter’s Church, wo ich um 10.30 Uhr einem englischsprachigen Gottesdienst beiwohnen wollte. An anderen Sonntagen gibt es dort sogar Gottesdienst der Deutschsprachigen Christliche Gemeinde Shanghai. Wie für andere Europäer und Hong Kong-Chinesen gab es für mich enttäuschenderweise wegen der laufenden Renovierungsarbeiten in der Kirche heute jedoch keinen Gottesdienst. Ich werde mir übrigens noch anderswo Informationen über die Lage der Christen in China einholen.
Ich verlegte mich sogleich aufs Radfahren. Das ist etwas sehr angenehmes im topfebenen Shanghai, denn man kann in akzeptabler Zeit leicht jeden Punkt im erweiterten Innenstadtbereich ansteuern. Mein Ziel war der Yu Yuan, ein traditioneller Garten aus früheren Dynastien. Ich erreichte ihn auf lohnenden Umwegen, denn wenn mir etwas Interessantes ins Auge fiel, bin ich einfach abgebogen und habe geguckt, fotografiert und gefilmt.

Hier gehört noch ein Film-Clip hinein, den ich von meinen Fahrradkünsten im chinesischen Verkehr frei aus der Hand beim Fahren aufgenommen habe. Er lässt sich momentan nicht laden. Bitte Geduld.

Es gibt sie noch in erklecklicher Zahl, die Häuser Alt-Shanghais, mit engen Gässchen dazwischen und Markttreiben in jeder sich bietenden Nische und Menschen, Menschen, Menschen, die sich herumtreiben oder schaffen, vor sich hindösen oder laut herumschreien. (Nebenbemerkung: Neulich im Restaurant glaubte ich, gerade Zeuge einer sich heraufziehenden, richtig massiven Wirtshausschlägerei zu werden. Dann stellte sich heraus, dass da zwei Chinesen sich in nichts anderem als in landestypischer Lautstärke freundlich unterhielten).



Aber es ist menschenunwürdig und lebensunwert heruntergekommen in diesen auf dem Foto sich so malerisch und pitoresk darbietenden Häuschen; richtige Slums sind das in Wirklichkeit. Da kann ich verstehen, dass von offizieller Seite Abriss und Neubau die Mittel der Wahl sind. Die Heritage-Bewahrung lohnt sich nur bei wirklich erhaltenswerten Gebäuden.

Yu Yaun-Gärten und Basar
Das hätte man bei den Yu Yuan Gartenanlagen tun sollen, denn da ist zwar nichts alt, aber im alten Stil wieder aufgebaut, und mit ihren verschnörkelten Pagodendächern ist die große Anlage schön anzusehen. Mauern trennen den Garten in sechs Themenbereiche, wodurch ein Labyrinth entsteht, dass die Anlage noch größer erscheinen lässt. Ich habe mir den Taoistischen Tempel des Stadtgottes angesehen, der in der Ming-Dynastie als Sitz des Schutzpatrons von Shanghai galt. Eintritt 10,- Yuan, offiziell RMB = RenMinBi = Volksgeld genannt; Wechselkurs RMB:EUR 10:1. Die Kaufkraft ist geschätzt aber auch 10:1; dass heißt in Euro ist alles spottbillig zu haben. Andererseits, 10 Euro würden in Deutschland auch nicht viele für einen Kirchenbesuch ausgeben. Deswegen waren viele, aber sehr viel weniger Menschen dort in der großen Tempelanlage (früher umfasste sie den ganzen Garten!) als außerhalb. Ich habe viele Leute in Anbetung gesehen, die auch ihre Kinder dazu angeleitet haben, und es hat mich verwundert, wie religiös empfänglich die Menschen der kommunistischen Volksrepublik sind. Außerhalb, im offen zugänglichen schicken Riesen-Basarbereich, war die Anbetung des Konsums durch die Genossen (sagt man heutzutage nicht mehr!) noch offensichtlicher.

Ein Geschiebe und Gedränge, wunderschöne Angebote, von Souvenirs über herrliche Teesorten (die soviel kosten wie in Deutschland. Ich habe mich erst einmal damit eingedeckt; die kunstvolle, schöne, große Chinatasse dazu hat mich hingegen nur 20 RMB gekostet), bis zu traditioneller chinesischer Medizin, wenn auch zu überhöhten Touristenpreisen – und es gab deutlich erkennbar ganz viele chinesische Touristen und einige Europäer. Mehrfach schon habe ich in Läden Chinesen (Kunden) mit Chinesen (Verkäufern) radebrechen gehört, weil ihre Sprachen für die Shanghaier so unverständlich sind, wie mein deutsch. Das hat mich sehr ermutigt, mich mit Fingern und Zeigen verständlich zu machen, bis ich mal ein paar Brocken sprechen werden kann.

Ich war übrigens noch im größten Steingarten aus der Ming-Zeit (Eintritt 30 RMB; trotzdem viele interessierte Besucher), einer Nachbildung der Schluchten Südchinas aus grauem Jadegestein, das ganz schroff wirkt. Aber dort, wo durch vieles Anfassen oder Ablaufen die Oberfläche unbeabsichtigt schön glattpoliert ist, merkt man den besonderen Glanz dieses für die Chinesen wichtigsten Steins (der eben nur manchmal jadegrün ist). Ich hatte mich ins Klosterteehaus zurückgezogen, wo wegen der Teepreise nur ganz wenige Menschen waren und habe so anderthalb Stunden der Zeit der Stille ganz für mich gehabt.

Erkenntnis des Tages: Auch dort, wo die meisten Unterhaltung und Ablenkung haben wollen, kann man Nischen des Rückzugs finden.

P.S.: Das hochladen meines Blogs funktioniert zwar langsam aber zuverlässig. Mit meinem E-Mail-Versand und -Empfang habe ich beim Internet in meinem Hotel Probleme; in der Uni funktioniert es noch gar nicht. Ich bitte um Nachsicht.

Samstag, 23. August 2008

Stadtbesichtigung

Heute wurde ich aus dem Bett geklingelt, gerade rechtzeitig, um pünktlich, wie verabredet, mit meinen drei Professorenkollegen um 11.00 Uhr zu einer ersten Stadtbesichtigung aufzubrechen. Alle drei waren in früheren Jahren schon mal in Shanghai gewesen. Aber hier wird laufend soviel verändert, abgerissen und neu gebaut, dass die Ortskenntnisse nur für die grobe Orientierung reichten. So, als würde man nach zwei Jahren Abwesenheit in Hamburg durch die HafenCity führen wollen.
Bei abklingendem Regen, der die permanente Dunstglocke (hier die Messwerte: www.envir.on-line.sh.cn/eng/Airep/index.asp) über der Stadt auch nicht wegwaschen konnte, ging es zu Fuß durch die französische Konzession. Das ist unser Stadtviertel Lu Wan, das von den Franzosen vor ca. 100 Jahren begründet wurde und das in Zukunft nicht mehr, vom Modernisierungswahn getrieben, total mit Hochhäusern zugepflastert werden soll. Zum Ren-Min-Platz (= Volksplatz: Ren = Mensch; Min = zur Familie gehörig; Renmin = Volk) fuhren wir eine Haltestelle mit der U-Bahn-Linie 1.

U-Bahn-Verkehr
Im Vergleich zu Hamburg ist diese zwei Generationen moderner und zwei Größenordnungen gigantischer. Die unterirdische Umsteigeanlage ist unübersehbar riesig. Man erreicht die Stationen trotzdem sicher über Ausschilderungen, die überall chinesisch-englisch (lateinische Buchstaben) beschriftet sind. Das gilt auch für sämtliche Straßenschilder. Weil alles erst in den letzten wenigen Jahren mit unvorstellbarem Tempo so modernisiert wurde, gibt es einfach keine alten, noch nicht umgestellten Einrichtungen, wie bei uns in Deutschland. Deswegen fahren die Taxis alle mit GPS-Navigationsgeräten; alles ist kartographiert und digitalisiert – und frei erhältlich. Vor wenigen Jahren gab es drei U-Bahn-Linien, heute sind es acht.
Die einzelnen Durchgangs-U-Bahn-Waggons sind geschätzt doppelt mal so lang, wie die in Hamburg. Von denen sind acht Stück zu einem Zug zusammengestellt („Kurz“-Züge haben nur sechs Waggons). Die Bahnsteige sind so lang, dass es in Hamburg auf der U3 für den Abstand von zwei Innenstadt-Haltestellen reichen würde. Auf Stationen mit viel Publikumsandrang ist die Bahnsteigkante mit einer deckenhohen Glaswand gesichert. Die Züge halten so, dass die Türen der Waggons genau vor den Türen der Glaswand zu stehen kommen, und die dann gleichzeitig öffnen.



Es wird allerdings nicht gewartet, bis die Angekommenen ausgestiegen sind, sondern ein- und aussteigende Passagiere drängeln heftig aneinander vorbei. Man muss den ernsthaften Willen mitbringen, wirklich aussteigen zu wollen und sich dafür mit Körperkraft einsetzen, soll es gelingen. Auf der Hinfahrt erwischten wir eine halb leere U-Bahn, in der die Klimaanlage eine Saukälte erzeugte. Auf der Rückfahrt - es war inzwischen Samstagspätnachmittag - ging es gestopft eng zu, aber die Temperatur war angenehm auszuhalten. Auf der Hinfahrt war die Bahn lediglich auslegungsgemäß unterbesetzt gewesen.

Städtebauliches Wachstum


Am Peoples Square (Volksplatz) besuchten wir das Shanghai Urban Planing Exhibition, vergleichbar mit dem Schauraum des Hamburger Stadtplanungsamts in der Wexstraße oder der HafenCity-Ausstellung im Kesselhaus. Aber die Flächendimensionen und die aufgewandte Mühe für die Detailgenauigkeit unterscheiden sich fast proportional zur Einwohnerzahl (Hamburg: 1,7 Mio; Shanghai 18,4 Mio.). Über Geschichte und (nahe) Zukunft Shanghais wird noch zu berichten sein.

Menschen, Menschen, Menschen
Später wanderten wir bis zum Bund die östliche Nanjing Dong Lu entlang, das ist mit 10 Kilometern Gesamtlänge, trotz konkurrierenden Angebots in anderen Stadtteilen, die Shopping-Einkaufsstraße Shanghais schlechthin,. Der Bund ist die bekannte Uferpromenade mit ihrer hundertjährigen Prachttradition mit Blick auf den in wenigen Jahrzehnten hochgeschossenen Buisiness-District Pudong, der zehnmal größer als der Londons ist und als bekanntestes Wahrzeichen den Oriental Pearl TV Tower hat. Von dem erwarten sich die Stadtplaner eine weltweite Bekannt- oder noch besser Berühmtheit wie der Eifelturm mit Paris, das Opernhaus mit Sidney oder die Pyramiden mit Kairo in Verbindung gebracht werden.

Überall wimmelte es von Menschen (außer am Abend in unserem Viertel, wo es nach Feierabend erstaunlich – relativ – ruhig geworden war). Man hat richtig den Eindruck, ohne hautengen Personenkontakt fühle sich der Chinese (oder ist es der Shanghaier Großstadtmensch?) nicht wohl. Wie die Menschen hier privat leben, weiß ich noch nicht; stören tun sie sich jedenfalls nicht daran, in der Öffentlichkeit immer dicht an dicht zu sein. Das merkt man auch am Verkehrsgebaren, von dem ich heute nur ein Detail berichten will. An allen Ampeln in Shanghai startet über dem grün blinkenden Ampel-Männchen 15 Sekunden vor der Rotphase der gut sichtbare Countdown, der zum beschleunigten Freimachen der Fahrbahn aufrufen soll. Anschließend bewegen sich Fußgänger, Radfahrer, elektro- und erdgasgetriebene Rollerfahrer (Benziner habe ich kaum gesehen), Autos, Busse und Lastwagen trotzdem, um ein bisschen Wegevorrecht (auf Faustrechtsbasis) kämpfend, langsam weiter durch den Verkehr – ich habe mich da ganz schnell dran gewöhnt und es auch schon übernommen. Außer die Polizei guckt zu.

Erkenntnis des Tages: Virtual Privacy. Je mehr Menschen um einen herumwimmeln, desto egaler ist es, was die anderen von einem denken. Hat man keine äußere Intimsphäre zur Verfügung, schafft man sich einfach eine eigene, selbstgebastelte um sich herum.

Freitag, 22. August 2008

Der Vorbereitungstag

... an der Uni …
Heute war Vorbereitungstag an der Uni, wie wir es gestern Nachmittag schon praktiziert hatten. Ich bin jetzt mit Guthabenkarten für Mensa, öffentliche Verkehrsmittel und lokales Handy ausgestattet, ebenso mit einem Fahrrad, mit dem ich mit Spaß und an den lokalen Fahrstil angepasst mich durch den Verkehr (der einen eigenen Bericht wert ist) wühle. Der Druckertreiber ist installiert und funktionier, das WLAN nicht, und die deutschsprachige Fachliteratur, die meine Studenten in kleiner Zahl in der joint-college-eigenen Bibliothek werden ausleihen können, habe ich auch schon durchgesehen. Selbst der mir zugeteilte Assistance Professor steht schon fest. Nur der Hörsaal, wo ich kommenden Montag um 8.00 Uhr beginnen muss, sieht aus, als sei er im vergangen Semester nie aufgeräumt worden – gemach, gemach, das werde am Sonntag alles picobello hergerichtet.


Der Fuxing-Campus liegt mitten in der Innenstadt, 10 Radminuten oder drei O-Bushaltestellen von meinem Hotel an der zweiten Medizinischen Hochschule entfernt. Die Fuxing Zhong Lu ist eine der wichtigen Einkaufsstraßen der Stadt (dort, in einem Elektronikkaufhaus – vier Stockwerke voll mit Garagengroßen Basarständen unterschiedlichsten Elektronikangebots; die Chinesen lieben, wie ich, technischen Schnickschnack – habe ich mir ohne zu handeln meine neue, modernere Kamera gleichen Typs, wie meine kaputtgegangene, gekauft und trotzdem das Gefühl gehabt, nur die Hälfte vom Preis in Deutschland zu bezahlen). Auf dem Campus und in den Gebäuden, herrscht heftige Bautätigkeit, vor allem im Chinesisch-Britischen-Institut, das viel größer ist als das Deutsch-Chinesische. Niemand hat Sorge, dass bis zu deren Semesterbeginn in zwei Wochen nicht alles fertig sei, denn es ist üblich, dass in Chinas Großstätten an sieben Tagen in der Woche bis spät in die Nacht hinein gearbeitet wird. Die sehr zahlreichen Bauarbeiter für viele Handarbeiten schlafen und leben praktischerweise gleich auf der Baustelle und waschen und trocknen dort ihre Wäsche mitten im Baustaub.


… mit angenehmen Ausklang
Heute, am Vorabend des Semesterbeginns, waren meine Kollegen und ich von der Dekanin mit allen Mitarbeitern, die mit uns zu tun haben werden, schick zu Essen eingeladen gewesen.

Wie ich es hier schaffen soll, bis Dezember zehn Kilo abzunehmen, was ich meiner jüngsten Tochter Elisabeth vollmundig versprochen hatte, ist mir schleierhaft. Ich hoffe, ich bekomme mildernde Umstände zugesprochen. Natürlich sind auch die chinesische Küche und die Essensgepflogenheiten einen eigenen Bericht später wert.
Den Abend haben meine Kollegen und ich zur „Dienstbesprechung“ in einem unserer Hotelzimmer genutzt, wo wir uns gegenseitig ausgiebig zum Kennenlernen vorgestellt haben, und das auf gut deutsche Art bei mehreren Bieren – natürlich chinesisches Tsingtao píjiǔ, aus dem heutigen Qingdao, wo deutsche Brauer einst Ihre Kunst in das ehemalige deutsche Schutzgebiet Kiautschou mitgebracht hatten.

Erkenntnis des Tages:
Es lässt sich durchaus angenehm leben, wenn man einer erfüllenden Tätigkeit nachgeht, genug Geld zum Leben hat, die Sonne scheint und das Essen lecker schmeckt.

Donnerstag, 21. August 2008

Angekommen in China

Geographische Koordinaten: Länge: 121° 28' O; Breite: 31° 14' N
Datum/ Uhrzeit (der Notiz): 21. August 2008, 20. 53 Uhr (12:54 GMT)

Kleine Ausrede vorweg

Bevor ich meine Shanghai-Eindrücke berichte, muss ich noch eine kurze Erklärung abgeben: kaum gelandet, musste ich leider feststellen, dass meine Kamera ihren Geist aufgegeben hat. Deswegen kann ich leider keine (eigenen) Fotos und Filmsequenzen senden. Morgen werde ich mich mit der Metro Linie 1 von der Haltestelle Shanxinanlu aus drei Stationen in Richtung Süden auf den Weg machen bis zur Xuijiahui. Dort soll es ein technisches Kaufhaus geben – und wenn ich die passende Kamera gefunden habe, gibt auch was zu sehen. Weiter also mit reinem Text:

Flugerfahrung

Der Flug war lang (airborne um 17:39 MESZ; touchdown um 09:14 CST. Reisegeschwindigkeit über Grund zeitweise über 1050 km/h) und der Jetlag nicht angenehm. Dabei festgestellt: Lufthansa bietet neben anderen Destinationen in China täglich einen Flug nach Shanghai an, dreimal wöchentlich sogar zwei. Wieviele werden es sein, wenn die China Deutschland nicht nur als Exportweltmeister abgelöst haben wird? Es waren mehr Chinesen als Europäer und viele Familien (was vielleicht am Sommerferienende lag) mit zum Teil sehr kleinen Kindern an Bord. Trotz propagierter Ein-Kind-Familie hatten die Mütter mehrheitlich mehr als ein Kind in ihrer Obhut. Der Flughafen Pudong (PVG) hat eine immense Flächenausdehnung und weite, geräumige Abfertigungshallen, die sichtbar auf Wachstum angelegt sind – allein 31 Gepäckabfertigungsbänder gibt es. Erster überwältigender Eindruck war die schwüle Hitze, die mir beim meinem allerersten Schritt auf chinesischem Boden entgegenschlug. Dieser Eindruck verdoppelte sich 55 Minuten später, nachdem alle Flughafenformalitäten abgeschlossen waren, in gleicher Stärke noch einmal, nämlich als ich beim Verlassen des klimatisierten Terminals neben chinesischem Boden unter mir nun auch das Shanghaier Klima um mich herum hatte.
An der Passkontrolle wurde ich von Frau Junior Inspector ??? (Name unbekannt, ein Stern auf der Schulterklappe, Kennnummer 035667, bedient. Trotz freundlich gegrunzter Geräusche meinerseits, zeigte sie keinerlei Regungen. Da ich nach Abschluss dieser Behördengeschäfte zur Äußerung über den Grad meiner Zufriedenheit per Knopfdruck an einem plötzlich aufblinkenden Kästchen aufgefordert wurde, entschied ich mich zu einem „Satisfactory“, denn ich wollte der Karriere der jungen Dame nicht im Wege stehen. Als ich drückte, hatte das Blinken schon aufgehört, so dass ich bei meiner ersten Aktion im Reich der Milliarden Menschen vermutlich keine statische Relevanz zeigen konnte. Schade. Vielleicht hätte ja genau dieser „Schmetterlings-Flügelschlag“, chaostheoretisch gesehen, die ganze Welt umgekrempelt!

Ab nach Downtown

Frau Professor Sun und Herr Assistent ??? (hab‘ den Namen schon wieder vergessen, obwohl der gut deutschsprechende junge Mann mich den Nachmittag über intensiv betreute – ab morgen vergesse ich ihn ganz bestimmt nie wieder; Ehrenwort) holten uns ab. Übrigens, in China heißen sowieso fast alle Li oder haben einen der anderen 20 sehr häufig vorkommenden Familien-(eigentlich Clan-)namen (von ca. 700 insgesamt). Ganz wichtig ist den Chinesen, dass sie stets ihr Gegenüber mit seiner hierarchischen Funktionsbezeichnung ansprechen und selber auch so angesprochen werden. Herr Fahrer Li (oder anders) bewies uns, dass man echte Zehntel gewinnen kann, wenn man in einem Land fährt, wo auf mehrspurigen Straßen wild rechts und links überholt wird. Der Olympische Geist („der Silbermedalliengewinner ist der erste Verlierer“) beherrscht eine ganze Nation! Vermutlich musste er seine Existenzberechtigung im Wettbewerb zur Maglev belegen, das ist die von deutschen Konsortien gelieferten Magnetschwebebahn, die auf langer Strecke exakt parallel zu unserer Autobahn verlief. Ich wäre ja lieber mit der Maglev gefahren und hätte gerne diese Erfahrungen mit meinen in Deutschland gesammelten verglichen, wo ich einmal die M-Bahn in Berlin benutzte, die dort nach der Wende kurz eingesetzt war und eher wie eine rumplige Straßenbahn kurz vor der Ausmusterung daher kam und ein anderes Mal mit dem Transrapid auf der Versuchsstrecke im Emsland eine kurze Probefahrt unternahm. Nun werde ich einen Ausflug nur zum Maglevfahren machen müssen. Obwohl diese und andere Verkehrsbauten in den letzten 15 Jahren massenhaft Beton verschlungen haben, wirkt es nicht wie eine Verschandelung der Natur; lediglich der Dreiklang „Höher, schneller, weiter“ fällt einem mit aller Mächtigkeit wieder ein. Selbst die Autobahnmittelstreifen wirken, als seien sie die Schau-Außenanlage des chinesischen Pendants zum Garten von Ehren. Es wachsen da, wohl geordnet und mitten in der Vegetationsperiode makellos beschnitten, gehegt und gepflegt Dattelpalmen, Strelitzien, Kirschlorbeer und andere Pflanzen, die wir bei uns zuhause im Winter reinholen müssen.
Leider überflällt mich jetzt die Müdigkeit so sehr, dass ich den Bericht von den kleinen, nützlichen Kärtchen und den Randnotizen während eines opulenten Nachtmahles auf morgen verschieben muss.