Donnerstag, 28. August 2008

Essen im Alltag


Kontakt zu den Studenten
Nach einer halben Woche habe ich etwa von der Hälfte meiner Studenten einen ersten Eindruck und kann von diesen jetzt schon sagen, welche Noten sie mutmaßlich in den Klausuren schreiben werden. Es gibt die einen, die bevorzugt in den ersten beiden Reihen sitzen, die auf meine in den Raum gestellten Fragen Antworten geben und sich trauen, immer längere Sätze zu formulieren, die erkennbare Körpersprache zeigen, wenn ich eine komplizierte Sache erklärt habe und dann „der Groschen gefallen“ ist und die mich nach der Vorlesung auf Zusammenhänge ansprechen, die ihnen nicht klar geworden sind. Und es gibt die anderen, die sich mit Absicht in die letzte Bank gesetzt haben, um ja nicht angesprochen zu werden; wenn ich das dann doch namentlich tue, dann stammeln sie mir Unverständliches, das ich nicht dem Thema zuordnen kann. Dabei bemühen sich die chinesischen Deutschlehrer und das ganze College um die Zweisprachigkeit; alles ist Chinesisch/Deutsch beschriftet.

Mensaessen
Zu meiner Studienzeit kursierte unter Verwendung eines deutschen Sprichworts, in dem die Wörter „Krug“ und „Brunnen“ vorkommen, der Ausspruch: „Der Student geht so lange zur Mensa, bis er bricht.“ Damit wird wohl ausgedrückt, dass Uni-Mensen weltweit nicht die Funktion sternausgezeichneter Gourmettempel haben. Dort ist das Essen bodenständig und günstig, und beim Essen dort kann man einen anderen Aspekt nationaler Speise- und Verspeisegewohnheiten beobachten, als in besagten Edelrestaurants.
Für Europäer, wie mich, die sich für gesittet und kultiviert halten, hat die Vorstellung, nicht mit Messer und Gabel zu Essen und es auch gar nicht zu können, einen schon ins Niveaulose und Vulgäre gehenden Charakter. In China gibt es in den Restaurants nirgends etwas anderes als Stäbchen. (OK, ein Haus, das etwas auf sich hält, hat auch ein paar Messer und Gabel auf Bestellung, für ausgefallene Kunden, so wie wirklich gute Wirtschaften in Deutschland selbstverständlich auch Stäbchen bereithalten).
Nach chinesischem Empfinden mutet es sehr nämlich archaisch und primitiv an, wenn man sich mit Waffen an den Tisch setzt, wo es doch um eine den Sozialzusammenhalt fördernde friedliche Mahlzeit gehen soll. Aus diesem Grunde seien die Stäbchen bei der Tischkultur ursprünglich eingeführt worden. Die Benutzung von Stäbchen setzt dabei voraus, dass man die Essensportionen schon bei der Zubereitung mundgerecht kleinschneidet. Nun brauchen kleingeschnittene Speisen weniger Energie zum Kochen, und da behaupten andere, der ursprüngliche Grund für das extensive Vorbearbeiten der Kost, sei die Senkung des Brennholzverbrauchs gewesen. Heute gibt es in China faktisch nur Stäbchen.


Original chinesisches Essen
Wir waren einmal, weil wir stets neue Gaststätten ausprobieren, in einem Western-Style-Restaurant, das so tat, als sei es Amerikanisch. Auch dort gab es nur Stäbchen, und das Essen, die Speisefolge, und die Zutaten und der Geschmack der Speisen kamen mir rein chinesisch vor. Mit Englischkenntnissen konnte man nicht bestellen. Aber die Kunden fühlten sich ganz offensichtlich wohl mit dem, was sie aßen. Genau so kann man sich die Authentizität eines China-Restaurants in Deutschland vorstellen.
Die Mensa an meiner Uni ist schlicht und einfach ausgestattet. Das Bezahlsystem ist voll elektronisch. Man lädt an einem vergitterten Kassenschalter mit Bargeld Guthaben auf eine RFID-Karte. (Das Geldannehmen, das - wie an jeder anderen Kasse im Land - umfangreiche Prüfen der Scheine auf Echtheit und das Laden der Karte macht ein Mensch. Personalrationalisierung ist hier überhaupt kein Motiv. Es geht dabei um Verhinderung von Diebstahls- und Raubdelikten. Wird an Geldautomaten der Geldschacht nachgefüllt, entsteigen dem gepanzerten Geldtransporter zwei Mitarbeiter und beladen den Automaten gemeinsam. Weitere zwei stahlhelm- und schutzwestegesicherte „Security“-Mitarbeiter mit riesigen Pumpguns, finsterer Miene und für chinesische Verhältnisse überragender Körpergröße und beachtlicher Leibesfülle bewachen die Aktion.)
Nach Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit stellt man sich am Schalter an, wo man aus 10 Großküchenbehältern in den Preisklassen von 5 bis 40 Yüan pro Kelle auswählen kann. Reis gehört nicht dazu, denn den gibt es immer reichlich schon als Basisausstattung. Die Auswahl erfolgt auch bei den Chinesen durch zeigen mit den Fingern auf die Vorratsbehälter. Es gibt Sprossen, Bohnen, verschiedenste Tofu-Zubereitungen, ein an Mangold erinnerndes grünes Gemüse, das qing-cai (grün-Gemüse) genannt wird, Fleischbällchen, Fisch, eine wie Fleisch aussehende braune Zubereitung aus fermentiertem Weizen mit der Konsistenz von in Würfeln geschnittenem Badeschwamm und gutem Geschmack. Das Essen wird auf einem Edelstahltablett mit tiefgezogenen Mulden herausgegeben und der Betrag elektronisch von der Karte abgebucht. Seine Stäbchen holt man sich aus einem Dispenser, der so funktioniert wie der Strohalmspender bei McDonalds. Außerdem kann man sich eine Flasche Limo oder Cola für 1,20 Yüan oder Bier für teurer holen.

Optimale Anpassung
Im Reiseführer steht, dass es zu den chinesischen Tischsitten gehört, dass die Tischdecke nach dem Essen bekleckert sein muss, was ausdrücke, dass es geschmeckt habe. Ich halte das für eine Zwecklüge. Mit Stäbchen ist es nämlich unmöglich, kleckerfrei die Speisehappen von der Servierschale freischwebend über dem Tischtuch bis zum Mund zu fühlen, ohne dass es tropft. Die Tischdecke ist immer versaut, egal wie es geschmeckt hat (Sauberes Tischtuch ist theoretisch-hypothetisch nur möglich, wenn man keinen Bissen angerührt hat – aber das tut bei der chinesischen Küche höchstens eine an Anorexia nervosa Erkrankte)

In der Mensa gibt es keine Tischdecken, an denen man den Grad des Speisegenusses ablesen könnte. Deswegen optimieren die Studenten die Wegstrecke zwischen tiefgezogenem Edelstahltablett und der Oberkante der unteren Zahnreihe, wobei sie geschickt den Minimalabstand zwischen Kinnunterkante und Maximalerhebung Ihrer Speise einhalten. Ergonomisch ist diese Haltung nur einnehmbar, wenn der Gesäßaußensinus in die Kehle von Sitzfläche und Rückenlehne des Stuhls gepresst wird und gleichzeitig das Rückgrat eine S-förmige Krümmung annimmt.
Beim Essen werden die Stäbchen ausschließlich in einer Hand gehalten. Die andere ist somit frei. Und hiermit kommen wir auf den wahren Grund, weswegen die Stäbchen in China eingeführt wurden: Mit der freien Hand kann man andere sinnvolle Verrichtungen ausführen. An meinem Nebentisch beobachtete ich einmal eine einsam und allein sitzende Studentin, die fortlaufend Selbstgespräche führte. Ich verstand wegen ihrer chinesischen Sprache natürlich nichts, vermutete aber bei der bedauernswerten Person ein psychisches Leiden, verbunden mit sozialer Kontaktschwäche. Nein, sie hatte während Ihrer Mahlzeit unablässig mit ihrem Handy telefoniert und war noch nicht fertig, als sie fertig war. In einem Lokal beobachtete ich einen Mann beim genüsslichen Essen, der rechts die Stäbchen in der Hand hielt und links die brennende Zigarette. Das nenne ich optimale Ressourcennutzung. Was kann es noch an Steigerung geben, als gleichzeitig genüsslich zu essen und genüsslich zu rauchen? Wahrscheinlich wird er sich demnächst sein Essen auf der Kloschüssel sitzend servieren lassen.

Erkenntnis des Tages: Hauptsache es schmeckt.

Keine Kommentare: