Mittwoch, 1. Oktober 2008

Nationalfeiertag, wo?

Enttäuschte Erwartungen
Am heutigen chinesischen Nationalfeiertag suchte ich vergebens nach Demonstrationen der Parteikader, wie ich das in Moskau (life) und Ostberlin (am Fernsehbildschirm) erlebt hatte. Ich wäre auch mit etwas kleinem zufrieden gewesen, so, wie es am 1. Mai in Harburg auf dem Sand stattfindet: wenigstens eine klitzekleine Kundgebung. Aber nix. Selbst der zentrale Volksplatz war eine Mischung aus Geschäftigkeit (in den abgehenden Straßen) und Ruhesuchen (in Park). Es waren, obwohl dort das Rathaus von Shanghai liegt, keine öffentlichen Aktionen zu sehen.
Unterwegs kam ich an einem Straßenmarkt, in unmittelbarer Nähe unseres Fuxing-Campus vorbei. Es war gerade die Zeit vor dem Abendessen, in der offensichtlich viele frisch einkauften, was sie anschließend verspeisen wollen. Mein Eindruck ist, dass alle Leute um 18.00 Uhr essen wollen: in den Läden, holen sie um diese Zeit Ihre mitgebrachten Speisen heraus und essen drauf los. Eine echte Arbeitspause, wie in Deutschland, gibt es hier nicht. Solche Verrichtungen werden nebenbei am Arbeitsplatz gemacht. Und wenn ich als Kunde gerade in dem Moment an die Kasse komme, werde ich eben mit vollem Mund angesprochen.

Blocksatz

Schlaf
Wenn mittags kein Betrieb im Laden ist, dann schlafen die Geschäftsleute in ihrem Liegesessel in ihrem Geschäft oder auf der Straße davor, mitten im brausenden Verkehrslärm. In Behörden, Kaufhäusern, an der Uni sitzen die Mittagsschläfer in ihrer Pause reihenweise nebeneinander, die Köpfe auf die verschränkten Arme auf dem Tisch vor sich abgelegt.



Auch ich habe mich inzwischen an den permanenten Lärmpegel gewöhnt und nehme ihn nicht mehr entsetzt ablehnend (weil doch nicht zu unterbinden) wahr. In China herrscht die Meinung, dass eine Stunde Mittagsschlaf gleich erfrischend ist wie drei Stunden Nachtschlaf, weswegen niemand am Straßenrand oder im Büro schlafende Menschen für faul hält.



Spiel
Ansonsten wird auf den Straßen zum Gaudi für die beratenden Umherstehenden gerne Majong, Domino, Go, eine chinesische Variante von Dame und eine andere von Schach oder Karten gespielt.
Die Chinesen legen großen Wert auf die Qualität und Frische ihrer Lebensmittel, weil das Essen so eine zentrale Rolle in ihrem Leben spielt (vielleicht wird sich der Wertmaßstab noch verschieben, wenn die Befriedigung der Grundbedürfnisse künftig viel selbstverständlicher sein wird als heute).


Der Straßenmarkt kam mir wie ein Widerspruch vor. Fast direkt vom schmutzigen Asphaltboden wurden die Waren gekauft; überall lag Müll herum. Die Tiere, die verkauft wurden, lagen alle noch halbwegs lebendig in Wannen, Fische japsen im Wasser und warteten auf Kunden, vor deren Augen sie geschlachtet wurden.



Geflügeleinkauf
Am Beispiel des Hühner, Tauben und Entenverkäufers mochte ich den Vorgang beschreiben. Der unästhetische Mann hockte rauchend vor seinen Käfigen, legte seine schwieligen, nackten Füße auch mal zur Entspannung auf einen Käfig auf, an seinem Lastendreirad hingen an jeder Ecke die Überreste längst vergangener und gerade abgeschlossener Schlachtvorgänge – und trotzdem kauften innerhalb einer Viertelstunde drei Kunden bei ihm ein. Mit denen ging er gar nicht zuvorkommend um, sondern behandelte sie eher ziemlich barsch und ruppig, was vermutlich von seinem Umgang mit dem Federvieh abfärbte. Als erstes holte er einen Hahn aus dem Käfig heraus, verschränkte ihm die Flügel auf dem Rücken, damit er nicht herumflattern konnte, und legte ihn zur Feststellung des Lebendgewichts und des Preises auf die Waage. War die Kundin nicht zufrieden, wurde der Hahn gegen einen anderen, für mich völlig gleichwertig aussehenden, getauscht.



Bei Gefallen nahm der Geflügelhändler eine Gartenschere, schnitt dem Hahn zweimal durch die Gurgel und warf ihn mit hohem Boden ein einen bereitstehenden Eimer, wo auch alle Mitgenossen des ersten Hahns später als erstes landeten, und wandte sich einstweilen dem aktuellen Kunden zum Abkassieren und neuen Kaufinteressenten zur Angebotsunterbreitung zu. Traf er den Eimer nicht beim ersten Wurf, hob er das aufgeregt strampelnde Tier nochmal auf und beförderte es doch hinein, wo es noch eine Weile an der Eimerwand herum klopfte. Zu den Gerätschaften des Geflügelexperten gehörte ein Kochtopf, der auf einem Eimer mit einen Kohlefeuer stand und heißes Wasser enthielt. Dorthinein wurde der inzwischen verstorbene Hahn umgebettet und musste sich eine halbe Minute lang dem fast siedenden Wasser aussetzen lassen – eine abgebrühte Sache. Innerhalb von nur einer weiteren halben Minute hatte der Geflügelhändler mit den bloßen Händen sämtliche Federn des Hahns geschickt abgestreift, obwohl ihm an der rechten Hand Zeigefinger und Daumen fehlten. Mit der schon erwähnten Schere wurde nun der Kopf abgetrennt, nachdem der Mann sich beim Kunden versichert hatte, dass selbiger nicht zum verspeisen mitgenommen werden wollte. Die Füße bleiben selbstverständlich dran, denn gegrillte Hühnerbeine gelten in China als Delikatesse. Ich habe sie noch nicht probiert, werde das aber jetzt schleunigst nachholen. Das Gekröse wurde mit der Hand herausgerissen, der Darm am Bürzel abgeschnitten und nach dem Auseinandernehmen der Innereien wurden Herz und Leber in den ausgehöhlten Kadaver wieder zurück gelegt. Der Magen wurde aufgeschnitten, vom Inhalt und der grünen Schleimhaut befreit und ebenfalls wieder zum Tier zurückgelegt. Das feuchte Federvieh, das nun seinen Namen nicht mehr zu Recht trug, wurde in eine dünne Plastiktüte gelegt, womit der Kaufvorgang abgeschlossen war. Zugegeben, der Kunde konnte sich auf garantierte Frische verlassen, aber das Umfeld, in dem das ganze ablief, war sehr unappetitlich schmuddelig.



Nur vergleichsweise "sauber"
Wie sauber geht es doch in Deutschland zu, wo in Schlachtfabriken tausende Vögel pro Schicht kopfüber an die Förderkette gehängt werden, zum Betäuben mit dem Kopf durch eine stromdurchflossenes Wasserbad gezogen und dann erst automatisch mit einem Messerpaar enthauptet werden, wenn keine Betriebsstörung auftritt. Der Vorteil liegt darin, dass wir Kunden von alledem nichts mitbekommen und der Anblick des vom natürlichen Huhn stark entfremdeten, folienverschweißten Tiefkühlpaketes für viele sehr entlastend wirkt. Jetzt fehlt nur noch die Erfindung des fischstäbchenförmigen Chickenbricks, welches fastfoodgerecht blitzschnell zubereitet werden kann.

Einkäufe
Unterwegs kam ich an einem DVD-Verkaufsladen mit Artikeln aus aller Herren Länder vorbei, den ich durchstöberte und mich u.a. für den Kauf einer Dokumentation der Naturschönheiten Chinas und ein Geschichtswerk über die permanente Kommunistische Revolution in China von 1911 bis 1996 entschied. Irgendwie wollte ich den Chinesischen Nationalfeiertag doch noch politisch erleben. Außerdem erwarb ich den deutschen Film „Good bye Lenin“ (mit polnischen Untertiteln, aber gänzlich ohne chinesische), den ich meinen Studenten zum Sprachauffrischen und als Beitrag zur Gegenwartskultur in Deutschland schenken möchte. Da ist mir nichts zu teuer, selbst die 10 Yuan (unverhandelt) pro DVD nicht, obwohl das den ortsüblichen Preis bestimmt um mindestens 100% übersteigt.
Außerdem habe ich ganz lange herum geschaut und mir Angebote zeigen lassen, bis ich mich für den Kauf eines fluggepäckfreundlichen, sehr kompakten Teeservices chinesischer Art, bestehend aus kleiner Teekanne von Künstlerhand aus dunklem Ton gebrannt, dazu passende Cups, ein spezielles Tablett mit Flüssigkeitsauffangvorrichtung, ein Teekannenreinigungsset und in historische Glückgeldform gepresster Pu-Er-tee, entschieden hatte. Das fand ich vergleichsweise Kostengünstig. Der dazugehörige Oolong- und Pu-Er-Tee war dagegen extrem teuer mit Preisen wie in Deutschland.



Auf den Straßen sah ich am Abend wiederum nur wenige Nationalfahnen, auch nicht auf der People’s Avenue oder der Nanjing Xi Lu, die von der Breite her für Aufmärsche bestens geeignet wären (und für diesen Zweck ganz sicher auch mal angelegt wurden). Dafür gab es aber grelle Neonbeleuchtung und Massenaufläufe im Kaufrausch. Bei den 22.00 Uhr-Nachrichten im englischsprachigen chinesischen Fernsehen (CCTV 9 ist der landesweit ausgestrahlte, englischsprachige Dauernachrichtenkanal des Chinesischen Fernsehens; in meinem Hotelzimmer ist auch ICS, der englischsprachige Sender des Shanghaier Fernsehens zu empfangen) bekam ich Aufklärung über die Ereignisse des Tages (aus chinesischer Sicht): im Morgengrauen hatten sich viele Menschen in Peking, Shanghai, Guangdo, Hong Kong und anderswo versammelt, um am Nationalfeiertag das Aufziehen des Fahnentuches mitzuverfolgen; das gesamte Politbüro ist schweigend um das Denkmal der patriotischen Kämpfer der Volksrepublik herumgezogen und hat Kränze niedergelegt. Sonst gab es keine Kundgebungen. Das Vorabendfeuerwerk in Shanghai hat tatsächlich stattgefunden: im Century-Park am äußersten südöstlichen Ende von Pudong. Schade, da wäre ich gerne dabei gewesen. Ansonsten, wurde gesagt, diene der Nationalfeiertag, wie die ganze „Golden Week“, vor allen dem exzessiven Einkaufen, was der Einzelhandel wegen des mageren Umsatzes während der Olympischen Spiele, als die Leute anderes zu tun hatten, dringend nötig hätte.

Erkenntnis des Tages: Feste muss man feiern, wie es im jeweiligen Land üblich ist.

Keine Kommentare: