Mittwoch, 15. Oktober 2008

Viel gegessen, wenig behalten

Vorlesungsende
So, heute habe ich nach einem Marathon in den letzten Tagen meine Vorlesungen abgeschlossen. Ich hatte mehr Stunden als vorgesehen zur Verfügung, sodass ich mehr Übungsaufgaben mit den Studenten rechnen konnte, als ich das in Deutschland mit den Studierenden tue, aber morgen sollen sie vorlesungsfrei haben, damit sie nicht noch am letzten Tag vor der Klausur neuen Stoff lernen müssen, sondern sich ganz auf ihre individuelle Vorbereitung konzentrieren können. Einige sind kräftig dabei, denn nach den Vorlesungen der letzten Tage haben immer mehrere mich zu einzelnen Themen befragt, und ich hatte sozusagen gleich im Vorlesungssaal meine ausgedehnte Sprechstunde. Dabei ist mir aufgefallen, dass wegen der fehlenden Laborerfahrungen, manche sinnlich erfahrbaren Erkenntnisse nicht gemacht wurden und die rein theoretische Unterrichtung kein adäquater Ersatz ist. So wurden beispielsweise im zentralen Trainingszentrum Stanzautomaten vorgeführt, aber ohne Blech, so dass man weder den Schnittschlag hören noch die geschnittene Blechkante sehen konnte. Das passt einfach nicht zu meinem Unterricht, in dem ich behaupte, dass man die Kennlinie der Schneidkraft über dem Stempelweg im Hören des Schnittschlags nachvollziehen oder die Entstehung von Einzug, Scher- und Bruchzone an der Blechkante nachvollziehen kann. Nach meiner Erfahrung ist es nicht relevant, ob man zuerst die praktischen Erfahrungen sinnlich wahrnehmbar gemacht hat und dann den die Zusammenhänge theoretischen gelehrt bekommt, oder ob man zuerst den „theoretischen Überbau“ lernt und dann in der Praxis die Wirklichkeit nacherlebt: Beides gehört aber auf jeden Fall zusammen. Die Direktorin des Bereichs Maschinenbau hat mich vor ein paar Tagen abends aufgesucht und erklärt, dass sie im November noch einmal mit den Studenten in das zentrale Trainingszentrum fahren wird, um Mängel nachträglich auszugleichen. Toll, dachte ich, es geht also vielleicht doch! Aber da bin ich schon wieder weg und sie wusste schon im Voraus worauf es bei mir ankommt, denn sie war im vergangenen Herbst in Hamburg gewesen und hat bei meinen Laborübungen hospitiert. Ihre diesbezügliche plötzliche Betriebsamkeit hängt ganz sicher mit den Gesprächen und Verhandlungen zusammen, die meine neu angekommenen Kollegen mit ihren chinesischen Kollegen führen und die zwar höflich und gesichtswahrend, aber doch heftig geführt werden. Immerhin müssen chinesische und deutsche vitale Interessen und unverrückbare Maßstäbe in einem gemeinsamen Curriculum verankert werden und schließlich müssen der schriftlich fixierte Anspruch und die später gelebte Wirklichkeit auch noch übereinstimmen. Dass der berühmte chinesische Pragmatismus, mit dem das Reich der Mitte so sehr erfolgreich ist, sich gerade die Abweichung von Anspruch und Wirklichkeit zu Nutze macht, seht der Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit von Absprachen manchmal ganz schön hinderlich im Wege. Aber noch wird heftig verhandelt und die Kollegen sind abends oft ganz schön geschafft.

Lunch mit Studenten
Mir ging es heute auch so, aber aus ganz anderem Grund. In der Mittagspause war ich mit Studenten zum Essen in einer der zahlreich um den Campus herum vorhandenen Nudelsuppenküchen. Nach Nahrungsaufnahme war mir eigentlich nicht, aber gemeinsam Essen hat immer auch eine soziale Komponente und ich wollte nicht als desinteressierter Sonderling gelten. Von den Studenten bekam ich, als ich die Wochenendplanung erzählte, schon mal Hintergrundinformationen zu dem Ort, wohin die deutschen und chinesischen Professoren am Samstag früh abreisen werden, um miteinander gemeinsam das Wochenende zu verbringen. Dort werden u. a. auch Kinofilme gedreht, die in China sehr berühmt sind und von denen es einer bis zu Oskarauszeichnungen geschafft hat. Auf dem Rückweg zum Campus haben wir dann in einem DVD-Shop nach dem Machwerk geschaut und nun muss ich mir irgendwann das Ding reinziehen – vielleicht erst in Deutschland wieder.
Dinner mit Kollegen
Am Abend wurde ich von den neu angekommenen, alt shanghaierfahrenen Kollegen gefragt, ob ich nicht mit in ein Lokal gehen wolle, dass sie „Die kleine Engländerin“ nennen. Schon wieder essen, wo ich mir doch eine Kalorienreduktion vorgenommen hatte? Nach Nahrungsaufnahme war mir eigentlich nicht, aber gemeinsam Essen hat immer auch eine soziale Komponente und ich wollte nicht als desinteressierter Sonderling gelten. Ich bin also mit ins Grape Restaurant in der Xin Le Lu gegangen, dass richtig nett chinesisch eingerichtet ist, über freundliches und zum Teil englisch sprechendes Personal verfügt, wovon zwei junge Mädchen ausgesprochen hübsch und attraktiv anzuschauen sind. Die eine ist also die kleine Engländerin. Die Bestellung war recht gigantisch, das Essen sehr gut und reichlich (in Shanghai ist es in allen Restaurants üblich, dass Gäste, die ihr Essen nicht aufgegessen bekommen, sich ein „Doggiebag“ bestellen, worauf die Restaurants, von der größeren Imbissbude bis zum Edelschuppen, auch eingerichtet sind. Styropor-Behälter, zum Teil mit den Logos der Restaurants bedruckt, gibt es ohne Aufschlag dazu) und das Lokal war auf Westler eingestellt, was man auch an der größeren Zahl von Langnasen an den Tischen ablesen konnte: auf Verlangen haben wir unsere Pekingente (eine von neun Speisen für fünf Personen; sonst rechnet an immer eine Speise pro Person plus eins) knochenfrei tranchiert bekommen, was bei Chinesen nicht beliebt ist. Da wird einfach quer durch den Vogel gehackt, damit sie möglichst viele kleine Knochenstücke zum Abnagen haben. Mit 100 Yuan pro Nase war das mein bislang teuerstes Abendessen, von der Mahlzeit im Jin Mao-Wolkenkratzer mal abgesehen, wo wir die Aussicht vom 86. Stockwerk mitbezahlen mussten.

Nachwirkungen ganz alleine
Leider erwischte mich, kaum im Hotel angekommen, eine Diarrhö, die mich die ganze Nacht begleitete und mein Schlafpolster der vergangenen Nacht wieder aufbrauchte. Ich war schon wieder nicht zu gebrauchen für das abendliche, Dienstbesprechung genannte, Zusammentreffen der Kollegen in einem der Hotelzimmer. Dabei erfahre ich dort interessantes und durchaus auch blogwürdiges. Zum Beispiel weiß ich jetzt, warum das Sino-Britisch-College trotz der enormen (auch für chinesische Verhältnisse unverschämt hohen) Kosten so beliebt, erfolgreich und im Wachsen begriffen ist. Dorthin melden sich diejenigen an, die die landesweite, zentrale Universitätsaufnahmeprüfung endgültig nicht bestanden und damit keine Chance haben, jemals an irgendeiner chinesischen Universität zu studieren. Diese Schulabsolventen werden, voll in englischer Sprache, auf ein Studium in Großbritannien oder den USA vorbereitet. Eine Aufnahmevoraussetzung gilt natürlich für alle: sie müssen wohlhabende Eltern haben, die sich das leisten können und wollen. Dass die USST sich diese Gelddruckmaschine nicht entgehen lässt, kann ich nachvollziehen.
Deswegen ist genügend Geld für die Verschönerung des Areals und de Gebäude vorhanden; gerade wurden repräsentative Portiken an normale Eingangstüren nachmodelliert und Ziegelsteinimitationen nachgepinselt. Vielleicht wollen sie auch wegen des Rufs und nicht nur wegen des Raumbedarfs des expandierenden Colleges alle richtigen universitären Studiengänge am Jun Gong-Campus, dass ja auch dramatisch erweitert wird, konzentrieren. Für mich chinaerfahrungssammelnden und nur befristet anwesenden Gastprofessor ist die Aussicht natürlich traurig, entweder nicht mehr im Stadtzentrum wohnen zu können oder täglich eine mindestens einstündige Hin- und ebenso lange Rückfahrt zukünftig auf mich nehmen zu müssen, die entweder als Taxifahrt teuer ist oder mit dem Shuttlebus (wird es den dann noch geben?) zu unattraktiven Zeiten stattfindet. Hier wird auch noch eine pragmatische Lösung zu verhandeln sein.

Erkenntnis des Tages: Was ich mich nicht traue, selber abzusagen, erledigt mein Körper für mich – ungefragt.

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