Donnerstag, 9. Oktober 2008

Suzhou

Reisevorbereitungen
Der heutige Tag war überraschend mein erster freier Tag während der Woche außerhalb der Ferien, gerade recht um nach Suzhou, der Stadt der Gärten, zu fahren. Um Sechs Uhr, als ich aufgestanden war, kam gerade die Sonne hervor; um sieben Uhr fuhr ich mit Bus und Metro (U-Bahn gerade verpasst – ich musste 1 Minute 49 Sekunden auf die nächste warten. Normaler Takt um diese Zeit ist alle drei Minuten) los, um zum Hauptbahnhof zu gelangen und um acht Uhr fuhr mein Zug ab. Am Shanghaier Hauptbahnhof gibt es einen english speaking counter, wo ich problemlos Hin- und Rückfahrtticket für 24 bzw. 26 Yuan bekam. Ich habe es allerdings anderswo auch schon erlebt, dass meine Frage „do you speak english?“ mit einem fluchtartigen Schließen des Schalters beantwortet wurde. Offiziell wird in China propagiert, dass jeder Englisch lernen soll; praktisch sind es nur ganz wenige die auch bloß ein paar Brocken verstehen. Ohne Fahrkarte kommt nicht in den Bahnhof hinein, weder am Eingang, noch am Ausgang, die beide zudem weit voneinander weg entfernt liegen, damit die Menschenströme nicht miteinander in Kollision kommen. Auf dem Bahnhofsvorplatz wimmelten die Massen; viele sahen aus, als seien sie mal auf gut Glück aus der Provinz in die Großstadt gekommen, wo sie ohne Arbeitsplatznachweis keine Aufenthaltsberechtigung haben – Ehepaare müssen beide den Arbeitsplatznachweis haben, sonst können sie nicht miteinander nach Shanghai ziehen. Vor dem Eingang zum Bahnhof leiten massive Barrieren die Fahrgäste geordnet an den Fahrkartenkontrolleuren vorbei und wer versucht sich durchzumogeln, wird heftig zurückgedrängt. Vor dem Betreten des Gebäudes musste ich durch eine Röntgenschleuse, wie am Flughafen, nur weniger streng in der Handhabung der Kontrolle. Shanghai-Hbf ist ein Kopfbahnhof und das Ende vieler Linien, weswegen die strikte Trennung der ankommenden und abfahrenden Passagiere leicht machbar ist. Die Fahrkarte ist zugleich Platzkarte; mehr Fahrkarten als Sitzplätze vorhanden sind, werden nicht ausgegeben. Zuerst sammelte man sich im dem dem gebuchten Zug zugewiesenen Warteraum und erst kurz vor Abfahrt des Zuges durften meine Mitreisenden und ich auf den Bahnsteig hinunter, wo der Shanghai-Nanjing-D-Zug mit Lokomotive und 12 Waggons schon bereit stand. Auf dem Bahnsteigboden sind die Einstiegsstellen in die Waggons markiert, und man musste den auf der Fahrkarte angegebenen Waggon besteigen, denn die Türen zwischen den Durchgangswagen waren abgesperrt. Uniformierte junge Damen der Chinesischen Bahngesellschaft standen an jeder Tür und wiesen den Weg.
Bahnfahrt
Der Zug fuhr zwei Minuten vor der Fahrplanmäßigen Abfahrt los. Ziemlich schnell verließ er das Stadtgebiet und nach 10 Minuten waren erste großflächig angelegte Foliengewächshäuser zu sehen, dann Fischteiche mit Fischfütterungsautomaten, dazwischen Industrie- und Gewerbebetriebsgebäude, dann wieder Bauern mit Strohhüten bei der Feldarbeit, ein Automobil-Neuwagen-Auslieferungslager, Angler, Satelitenstädte mit Hochhäusern und immer wieder parallel zur Bahnlinie die Erschließungsarbeiten für den Bau einer Betonbahn für ein Verkehrsmittel, das ich in diesem frühen Baustadium nicht identifizieren konnte.

Wasserläufe wurden eingeebnet, im Weg stehende Häuser waren geräumt und zum Teil schon abgerissen. Alle paar Kilometer war ein Betonwerk aufgebaut, dann eine Eisenflechterei und Zeltunterkünfte für die Wanderarbeiter. Um 8.25 Uhr fuhren wir ohne Halt durch den Bahnhof von Kun Shan und um 8.42 kamen wir in Suzhou an. Am Bahnhof war alles klar und eindeutig ausgeschildert, aber leider ausschließlich auf chinesisch.
Fahrradhandel
Die Warnung meiner Kollegen, die schon in Suzhou waren, lag mir im Ohr, keinen der sich am Bahnhof anbietenden freien Transportunternehmer und englischsprachigen Stadtführer zu engagieren, weil sie wenig effektiv und zudem teuer seien. Im Reiseführer hatte ich gelesen, dass es an Bahnhof Fahrräder zu mieten geben sollte. Ich brauchte aber eine halbe Stunde von der Ankunft am Bahnhof bis ich endlich einen fand, der mir nach längeren Verhandlungen für 60 Yuan ein Fahrrad vermietete. Wir mussten ziemlich weit bis zu einem bewachten Motorrollerparkplatz laufen, wo ich eins von zwei Rädern gegen eine Kaution von 200 Yuan bekam – kein Service, kein Sattelhöherstellen. Das ganze kam mir ziemlich windig vor. Mietpreis und Kaution lagen so nah beieinander, dass der Wert des Rades sicher unter 200 Yuan anzusetzen ist. Vermutlich hat die diensthabende Parkplatzwächterin mir ihr persönliches Fahrrad in der Zeit überlassen, wo es sie in ihrer Bude ohnehin räumlich nur gestört hätte und sich über den Reibach gefreut, den sie mit mir dummem Ausländer gemacht hat – denn Unwissenheit ist ein Geschäftsnachteil. Ich wiederum wollte wegen der Ausdehnung Suzhous und der von mir gewünschten Flexibilität selbständig und beweglich sein und fand 6 Euro für einen Tag Fahrradausleihe an so einem sonnigen und warmen Urlaubstag nicht übertrieben. Wenn ich dran denke, was ich für die gleiche Dienstleistung auf Sylt ausgegeben habe, wäre ich sogar mit 16 Euro einverstanden gewesen und habe mich über den Reibach gefreut, den ich mit ihr dummer Chinesin gemacht habe – denn Unwissenheit ist ein Geschäftsnachteil.
Der Tiger-Hügel
Mein erster Weg führte mich zum mit 4,5 km entferntest vom Altstadtgebiet liegenden Garten, dem 虎丘 hǔ qiū Tiger-Hügel, der von weitem einem Tiger ähnlich sehen soll und einst als "die höchste Sehenswürdigkeit im Staate Wu" bekannt war. Dort waren fast keine Ausländer, dabei ist er die Attraktion Suzhous, die kein chinesischer Tourist versäumen möchte. Als westlicher Besucher habe ich mich gefragt, warum denn zu dem unscheinbaren Hügel, wo ich es beispielsweise im Garten der 1000 Bonsais oder an der schiefen Pagode von 961 viel interessanter fand. Dort waren kaum Chinesen. Stattdessen haben sich die Einheimischen von allen Seiten vor einem künstlichen Hügel ablichten lassen, der weiter nichts besonderes darzustellen scheint – wäre da nicht die Legende, die ihn für die Chinesen so attraktiv macht: Im Jahr 514 v. Chr., während der „Frühling-und-Herbst-Periode“, wurde Suzhou als „Große Stadt von He Lu“ durch den legendären König He Lu von Wu gegründet. Der liegt seit dem 6. Jahrhundert unter dem Hügel zusammen mit 6000 Schwertern begraben und wird angeblich von einem weißen Tiger bewacht, den ich aber nicht gesehen habe.

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Interessant war es für mich, die sich überschneidenden chinesischen Reisegruppen und ihre sich gegenseitig übertönenden, weil elektrisch verstärkten Führer zu beobachten und die Stille im Bonsai-Garten zu genießen – alles innerhalb des gleichen 13 ha großen Areals, abgeschieden vom Dauergehupe der Autofahrer.

Von der Bergkuppe aus, auf der die schiefe Pagode Yun Yan Si, 云 yún Wolken (Höhe 47 m; Neigungswinkel 3,9 ° seit dem Bau vor über 1000 Jahren – zum Vergleich: der schiefe Turm von Pisa: Höhe 54 m, Neigungswinkel 4,56 ° seit einigen Jahren nach dem dann unterbrochenen Baubeginn vor über 800 Jahren), ein Relikt einer die ganze Bergkuppe überspannenden Klosteranlage, steht, hatte ich einen wunderbaren Blick über das diesige Industriegebiet, die Fabrikanlagen, Autobahnen und Hochspannungsfernleitungen Suzhous nördlich der alten Stadt, für die es heute berühmt ist. Das beschauliche, kleine Städtchen hat 3,2 Millionen Einwohner, der größte Teil der Altstadt wurde in den letzten Jahren radikal abgerissen und neu mit Architektur der Häuser im traditionellen Stil der Ming-Dynastie aufgebaut. Auch alle anderen modernen Zweckbauten haben diese typischen Dachformen und Ausstattungsdetails, so dass die Stadt auf mich einen sehr traditionellen chinesischen Eindruck machte. Es sah irgendwie alles historisch oder zumindestens alt aus.

Dabei ist die Stadt zeitgemäß: 2005 fanden in Suzhou die Weltmeisterschaften im Speedskating statt, 2008 die Weltmeisterschaften im RoboCup. In Suzhou unterhält unter anderem der Hardware- und Computermaushersteller Logitech eine Fabrik, für Apple Computer, Inc. werden dort u. a. Notebooks und iPods produziert. Das von Infineon abgespaltene deutsche Chipunternehmen Qimonda montiert in Suzhou in großem Umfang DRAM-Arbeitsspeicher. Ebenfalls in Suzhou produziert der größte Automobilzulieferer der Welt, die deutsche Robert Bosch GmbH, Bremssysteme. Des Weiteren betreibt die Carl Zeiss Microimaging GmbH in Suzhou eine Produktionsstätte und Glaxo Smith Kline unterhält in Suzhou einen Produktionsstandort für Medikamente für den chinesischen Markt. Der Weltmarktzweite für industrielle Getriebemotoren, die Hamburger Firma Getriebebau NORD GmbH & Co. KG, unterhält in Suzhou ihr Fertigungszentrum für Asien.

Weisheit auf dem Berg
Auf dem Berg gibt es eine Reihe von Pavillons, denn über die Jahrhunderte hinweg hat der Ort berühmte Gelehrte angezogen, die zum Malen, Kalligraphieren oder Dichten hierher kamen und derer gedacht wird. Der Xian Wu-Pavillon, Kleiner (Staat) Wu-Pavillon, hatte es mir angetan, denn von diesem hohen Hügel konnte der König weit in sein Reich hineinschauen und musste erkennen, dass alles von dort aus relativ klein und in der Bedeutung herabgesetzt erscheint. In der „Halle der Fünf Weisen“ wurde der Dichter und Denker Liu Yuxi, Bai Juyi und Wei Yingwu aus der Tang-Dynastie und Wang Yucheng und Su Shi aus der Song-Dynastie gedacht, und es Schriftproben in Stein gemeißelt an der Wand angebracht. Ich muss zugeben, dass ich von denen noch nie etwas gehört habe. Ich weiß zwar, dass die chinesische Geschichte nach den Herrscherdynastien eingeteilt wird, aber ich kann Tang von Song nicht einordnen, weder zeitlich, noch inhaltlich hinsichtlich dessen, wofür diese Zeiträume stehen. Zusammen mit der für mich, mit Ausnahme weniger Zeichen, unlesbaren Schrift fühle ich mich wie ein ungebildeter, ahnungsloser, von der Erkenntnis ausgeschlossener Analphabet – ich fühle mich so, weil ich es tatsächlich bin: bettelarm, trotz gigantischem Wohlstand im Vergleich zu den meisten anderen Menschen hier um mich herum. Jede Supermarktkassiererin führt mich vor, wenn sie mir schnell aufschreibt, was wir sprachlich nicht austauschen können, so wie sie es vermutlich bei den anderssprachigen Chinesen aus fernen Provinzen macht, denn ich kann nur mit dem Kopf schütteln.
Kleine, großartige Bäumchen
Ich rettete mich in den Garten der tausend Bonsais, wo bestimmt tatsächlich soviel Miniaturbäume standen und wo sich fast überhaupt keine Chinesen aufhielten. Die Bäumchen sahen zum Teil hunderte Jahre alt aus, kein Vergleich mit dem, was man in einem deutschen Gartencenter angeboten bekommt. Es sind Pflanzen, die besonders kleine Blätter tragen oder besonders kurze Nadeln, damit die Anmutung eines voll ausgewachsenen, adulten und maturen Baumes im Kleinformat entsteht. Ich dachte, dass sie für Chinesen auch ihre Erziehungsphilosophie ausdrücken: mit starken Drähten wird gleich der junge Trieb und auch später noch die erwachsene Pflanze gefesselt, damit sie in die vorgesehene Richtung entwickelt und sie wird ständig beschnitten, damit sie klein bleibt und nicht den für sie vorgesehen Raum überschreitet. Dann beeindruckt und erfreut sie die Menschen, die sie betrachten, denn, obwohl zu unnatürlichem Verhalten gezwungen, wirkt sie wie das vollkommene Original – und der Mensch hat doch die Natur bezwungen.
Brautpaare
In diesem groß angelegten Garten (eigentlich viele verschiedene Gärten in einem großen Parkareal) hätte ich mich mit dem Kahn auf einem Kanal herumstochern, eine Runde in der Pferdekutsche unternehmen oder mich in einer Sänfte den Berg hinauf tragen lassen können. Aber ich hatte ja niemanden dabei, der mich dabei hätte fotografieren können, weswegen ich großzügig darauf verzichtete. Ich schwang mich wieder auf mein Rad auf den Weg zur Altstadt Suzhou. In der Nähe des Tiger-Hügel-Parks gab es ein Brautkleidergeschäft neben dem anderen, es war eine moderne Mall ausschließlich mit Läden, die nichts anderes führten als Brautkleider, Bekleidung für Bräutigame und Hochzeitsaccessoires. Chinesische Bräute pflegen sich im Laufe ihrer Hochzeitsfeier mehrfach, mindestens drei mal, umzuziehen um jedesmal wieder in einem neuen aufregenden Fummel den Bräutigam und die Gäste zu beeindrucken.

Darunter ist auf jeden Fall ein rotes Kleid, weil rot die chinesische Farbe des Glücks und der Liebe ist und ein weißes Brautkleid als Konzession an die aus dem Westen stammenden, inzwischen internationalen Gepflogenheiten, obwohl weiß im Fernen Osten eigentlich die Farbe der Trauer ist. Vielleicht kommt noch für Braut und Bräutigam jeweils ein traditionelles Hochzeitsgewand hinzu. Suzhou ist jedenfalls die Hochburg der Hochzeiter, die ich an vielen romantischen Ecken mit ihren Fotografen beim Posieren für die offiziellen Fotos beobachten konnte.

Venedig des Ostens
Ich radelte an einem der Kanäle dieses „Venedig des Ostens“ genannten Städtchens entlang, das mich aber mehr an die Grachten von Amsterdam erinnerte. Der Vergleich mit Venedig rührt vielleicht daher, dass Marco Polo die Stadt im Jahr 1276 besucht und als großartig empfunden hat. Bekannt auch als die „Seidenhauptstadt“ des damaligen Kaiserreichs China ist Suzhou seit dem 14. Jahrhundert bis heute führend in der Seidenproduktion. Zum Glück hatte ich nicht genug Zeit das Seidenmuseum zu besuchen, denn sonst müsste ich jetzt eine weitere Seite meines Internettagebuchs der Herstellung und Verarbeitung dieses Naturprodukts widmen. Sehr schöne Seidenwaren werden überall angeboten, allerdings richten sich die Damenkonfektionsgrößen eher an zierliche chinesische Damen als an die wenigen aus Sicht der Chinesen maßlosen Kundinnen aus dem Westen. Der Kanal mit seinem braunen Wasser wurde zum Wäschewaschen, als Wasserstraße für Touristenboote (fast nur westliche Passagiere) und zum Angeln genutzt. Eine mir unbekannte Angelmethode wurde auch angewandt: eine an einem Seil befestigte, schwere Kugel wurde weit ausgeworfen und dann ganz langsam wieder eingeholt. Ich vermute, dass die auf dem Markt zahlreich angebotenen Wollhandkrabben auf diese Weise gefangen werden. Am antiken Opernhausplatz, einer noch im Original erhaltenen Freilichtbühne mit Holzhäusern drum herum, machte ich am Stadtkanal im Schatten Mittagsrast und Fotografierte hübsche Bräute, die in ihren Kostümen nett anzuschauen waren und vom offiziellen Fotografen in adrette Positionen gerückt wurden und Bräutigame, die in ihren Anzügen etwas deplatziert aussahen – das war keine gewohnte Kleidung für sie und sie fühlten sich darin sichtlich unwohl.
Konfuzius
Ich radelte dann ziemlich weit mitten durch die geschäftigen Straßen Suzhous, wo mir auffiel, dass viel mehr nervtötend gehupt wird als in Shanghai und, schlimmer noch, viel mehr extrem geräuschvoll gerotzt wird als dort. Außerdem Parken die Autos auf den ausgewiesenen breiten Fahrradfahrbahnen, weswegen viele Absperrgitter errichtet wurden. Der Konfuzianische Tempel in der Ren Min Lu, der Haupt-Nord-Süd-Straße Suzhous, hat mir sehr gut gefallen. Zuerst war ich wegen des auch dort aufgestellten Konfuziusdenkmals versehentlich in das elegante Campus-Gelände der Universität Suzhou-Süd eingebogen. Der Konfuziustempel ist eine Halle mit Garten drumherum und ehemaligen Klostergebäuden, die heute lauter Läden mit vorgeblich antiken Gegenständen anbieten. Ich fand auch das nett anzuschauen.
Meister der Netze
Mein Weg in der Nachmittagshitze führte mich zum Garten des „Meisters der Netze“, 网师园 wǎng shī yuán, Netz-Meister-Garten, das im Englischen ("Fishermen's hermitage") noch weiter von der Bedeutung wegführt als die deutsche Übersetzung. Er hat nämlich überhaupt nichts mit Fischern zu tun. In dem kompakten, 9 Mu (m²) großen Garten gibt es eine Pflasterung mit einer Netzstruktur, wobei das chinesische Wort Wang = Netz aber auch eine andere Bedeutung hat, die mir gerade entfallen ist, weswegen der Garten so benannt ist. Ich hatte mich in eine Gruppe Amerikaner eingeschleust, die eine wirklich kompetente Führung durch einen sehr engagierten Chinesen namens Peter auf gut verständlichem, vokabelreichem Englisch präsentiert bekam, bei der ich viel über chinesische Kultur lernen konnte und einiges erfragt habe.
Der Garten des Meisters der Netze in Suzhou zählt zu den berühmten südchinesischen Privatgärten. Er entstand um die Wanjuan Halle, die als frühere Residenz eines Regierungsbeamten der südlichen Song-Dynastie namens Shi Sheng Shi in der Zeit von 1174 bis 1189 gebaut wurde. Erst während der Qianlong-Regierung der Qing-Dynastie im 18. Jahrhundert übernahm ein Beamter namens Song Zongyuan das Gelände als (Alters-)Residenz, wandelte es in den Garten um und gab ihm seinen heutigen Namen, der denjenigen des Gründers, Shi, immer noch enthält und übersetzt vielleicht gar nicht Meister heißt. .
Der Garten ist sehr dicht bebaut und ein Beispiel für die Verbindung eines Wohnhauses mit einem Teich und einem Landschaftsgarten. Er und weist eine Vielzahl verwinkelter, stiller kleiner Höfe auf. Mittelpunkt des Gartens ist der Teich von nahezu quadratischer Form, der eine verhältnismäßig große Fläche des Grundstückes einnimmt und von Pavillons, Wandelgängen, über dem Wasser stehenden Bauten, Brücken und Felsen eingefasst ist, so dass eine abwechslungsreiche Szenerie entsteht.
Die Wandelgänge sind überdacht, laufen im Zick-zack und auf und nieder. Dadurch konnten alte Menschen auch bei Regen einen abwechslungsreichen Spaziergang machen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Das Ufer ist mit Kalkstein ausgeführt, wobei kunstvolle Nischen gebildet wurden – die typische Übernahme aus der chinesischen Landschaftsmalerei in die Gartengestaltung. Die Anordnung des kleinen inneren Gartens hinterlässt einen weitläufigen Eindruck. Er ist wie eine Bühne konzipiert und deswegen wird dort allabendlich die „klassische Nacht“ inszeniert, bei der Schauspieler und Musikanten mit bunten Kostümen für optische Akzente sorgen. Das hätte ich mir zu gerne angesehen.
Die einzelnen Gebäude haben exotische Namen. Im Pavillon "Der Mond ist aufgegangen und der Wind kommt" wehte tatsächlich an diesem heißen Nachmittag ein angenehmes Lüftchen.
In einem chinesischen Garten findet man keine Blumen, weil deren Schönheit zu kurzlebig ist. Chinesen lieben mit Bedeutung belegte Bäume. Einerseits sind das die Bäume der Weisheit Kiefer, Bambus und Pflaume, oder solche, die in Kombination gepflanzt eine Aussagen machen: so zwei Bäume, deren Namen nacheinander ausgesprochen „schneller Kindersegen“ bedeuten. Fußtritte werden gerne aus einem bei Feuchtigkeit extrem rutschigen Stein gemacht, der Wolkenstein heißt, weil man beim betreten mit einem Bein dann schon im Himmel sei. Ich bin mal fast böse ausgeglitten auf so einem Stein und hätte dann jetzt schon ganz im Himmel sein können.

Bescheidenheit
Am Zhuozheng Yuan, dem „Garten des bescheidenen/aufrichtigen Beamten“ (gibt es bescheidene und aufrichtige Beamte so selten, dass man für die Ausnahme extra einen Garten errichten muss?) konnte ich, weil es schon so spät war und die Dämmerung einsetzte, leider nur vorbeifahren. Auch in diesem Fall erzeugt die deutsche Übersetzung ein völlig falsches Bild der überlieferten Tatsachen: Geschaffen wurde der Garten während der Ming-Dynastie (frühes 16. Jahrhundert) von dem hohen Mandarin Wang Xianchen. Er wurde vom Dienst suspendiert (oder designierte vom politischen Leben, um seine Unzufriedenheit mit der Politik zum Ausdruck zu bringen, wie offizielle Verlautbarungen gerne formuliert werden) und zog sich in die Provinz zurück. Hier kam ihm sein Amt als Politiker töricht vor – daraus leitet sich die eine Übersetzung des Gartennamens ab. Der andere Name bezieht sich auf den Grund seiner Entlassung: Der Beamte wurde der Korruption überführt (ist das in China ein Entlassungsgrund?) und bereute später (englischer Gartenname: „humble administrator“). Wenn dieser Zusammenhang heute in Deutschland auch praktiziert würde, gäbe es bald eine große Vielzahl Garten für die Nachwelt – das wäre keine schlechte Perspektive, finde ich. Aber das kann in Deutschland nicht vorkommen, denn bei uns gibt es keine Mandarine. Außerdem spricht die lange Bauphase des Gartens von 1522 bis 1566 eigentlich gegen eine spontane Entscheidung.

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Auf Umwegen fand ich bei einsetzender Dunklheit meinen Weg zurück zum Fahrradverleih am Bahnhof und tauschte das Gefährt gegen meine Kaution zurück.

Verwandtschaftsbeziehungen
Zum Abendessen war ich bei Tante Wu eingeladen. Das ist zwar nicht ganz zutreffend ausgedrückt, richtig ist vielmehr, dass ich am Bahnhof in einem Restaurant der Kette diesen Namens, 吴大娘 (wú dà niáng: wörtlich: chinesischer Familienname Wu-groß-Frau) eingekehrt bin. Der deutsche Begriff Frau wird aber sonst folgendermaßen übersetzt:
女 nǚ Frau (weiblich) Radikal Nr. 38 = Frau, weiblich;
女人 nǚrén Frau;
女子 nǚzǐ Frau;
太太 tài tai (Ehe)frau;
(妈妈 māma Mama).
Die chinesischen Familien sind groß, das Zusammengehörigkeitsgefühl ist ausgeprägt und jeder Verwandtschaftsgrad hat seine eigene Bezeichnung, wobei es immer auf den individuellen Blickwinkel ankommt. Es gibt in China nicht wie im Deutschen einfach nur Brüder und Schwestern, Großväter und Großmütter, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, sondern nach Alter und Abstammung jüngere und ältere Verwandte mütterlicher- und väterlicherseits. Da man sich mit diesen Bezeichnungen auch anspricht, kann ein Außenstehender durch bloßes Zuhören herausfinden, in welcher Beziehung die Mitglieder einer versammelten Großfamilie zueinander stehen. Der jüngere Bruder ist der Di Di, der ältere der Ge Ge. Eine jüngere Schwester ist die Mei Mei, eine ältere die Jie Jie. Gibt es mehrere Schwestern und Brüder, wird durchnummeriert. Dann ist die zweitjüngere Schwester die Er Mei und der drittältere Bruder der San Ge. Ein Onkel mütterlicherseits heißt Xiao Jiu, wenn er jünger ist als die Mutter, ist er älter, heißt er Da Jiu; stammt er aus der väterlichen Linie und ist er jünger als der Vater, heißt er Xiao Shu, ist er älter, wird er Da Bo genannt. Natürlich unterscheidet man auch bei Cousins und Cousinen nach Alter, Abstammung und Rangfolge: ein Er Biao Di ist der zweitälteste Cousin mütterlicherseits, der jünger ist als man selbst, ein Tang Ge ist dagegen ein älterer Cousin väterlicherseits.
Da eine Frau mit der Heirat ihre eigene Familie verlässt und fortan der des Mannes angehört, obwohl sie auch weiterhin ihren Mädchennamen trägt, gelten ihre Angehörigen als die „von außen Kommenden“. Die Kinder nennen deshalb die Großeltern mütterlicherseits „äußerer Opa“, Wai Gong, und „äußere Oma“, Wai Po, während es väterlicherseits Ye Ye und Nai Nai heißen muss.
Eine 大娘 dàniáng ist die Frau des älteren Bruders des Vaters; im Deutschen kurz Tante; aber es ist auch die respektvolle Anrede für eine ältere Frau.

Abkassiert
Als ich im Kiosk kurz vor Abfahrt des Zugs eine Dose Pfefferminzbonbons bezahlen wollte, weigerte man sich an der Kasse mit lautem Aufschrei, meinen 100 Yuan-Schein anzunehmen: Falschgeld. Das war ein Schein aus dem Pfand für mein Fahrrad! So ein Schlitzohr, dachte ich, und überlegte, wie ich den faulen Schein wieder loswerden könnte. Aber dann wäre ich ja genauso ein Schlitzohr, wie das, über das ich mich gerade aufgeregt hatte. Da hat mich mein Mietfahrrad also doch tatsächlich soviel gekostet, wie ich bei härteren Verhandlungen bereit gewesen wäre von vorne herein zu bezahlen! Nicht so schlimm. Aber betrogen worden zu sein, ist ein schmerzhaftes Gefühl. Viel schlimmer als selber zu betrügen. Eben genauso, wie beim Schwarzer Peter-Spiel. Jedoch, an dem Gefühl kann ich gut erkennen, was ich nicht machen soll.

Dienstbesprechung
Erst später am Abend kam ich heim. Inzwischen sind vier weitere Professoren von der HAW-Hamburg hier eingetroffen, die zum Zweck der Vorbereitung der deutschen Reakkreditierung (die Akkreditierung eines Studiengangs wird immer nur für einen begrenzten Zeitraum, in der Regel drei Jahre, erteilt. Dann muss die Prozedur von einer anerkannten, unabhängigen Akkreditierungsgesellschaft erneut durchgeführt werden. Etwas flapsig und unkorrekt könnte man das im deutschen Umgangssprachgebrauch mit „Hochschul-TÜV“ beschreiben) der drei Studiengänge ein strammes Programm von Verhandlungen, Änderungs- und Korrekturbeschlüssen und Beiratssitzungen mit Vertretern aus Industrie und Wirtschaft mit den chinesischen Partnern von der USST zusammen in den nächsten zwei Wochen absolvieren müssen. Wir trafen uns zu einer dichtgepackten Dienstbesprechung in einem unserer Hotelzimmer und führten einen intensiven Informationsaustausch zur Lage des Shanghai-Hamburg-College aus, der zwecks Meinungsbildung zu einem ersten, heftigen Abstecken der verschiedenen Vorstellungen und daraus ableitbaren Konsequenzen führte.
Nach einem gefüllten Tag bin ich ohne mein Internettagebuch zu schreiben ins Bett gesunken.

Erkenntnis des Tages: Den besonderen Gewinn eines ereignisreichen Tages muss ich leider mit zeitaufwändiger Mühe um mein Internettagebuch teuer verzinsen.

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