Sonntag, 12. Oktober 2008

Unter Deutschen

Kleiderkammer
Auch heute wieder habe ich es genossen, auszuschlafen und meine Erlebnisse nachzubereiten. Erst am Nachmittag habe ich mein Hotelzimmer verlassen, um die restlichen bestellten Kleidungsstücke bei meinem Schneider in Empfang zu nehmen. Teilweise bin ich richtig begeistert und gespannt, wie sie ankommen werden.
St Francis Xavier
Anschließend war ich am Nachmittag mit meinen neuen Bekannten vom Treffen beim Generalkonsul zum deutschsprachigen katholischen Gottesdienst in der St Francis Xavier Kirche verabredet, die zum 1843 von drei französischen Jesuiten gegründeten Priesterseminar gehört und unmittelbar am Rand der Chinesischen Altstadt liegt. Die Jesuiten hatten sich damals sehr für die Ausbildung der Kinder in Shanghai engagiert. Heute gehört die Kirche zum chinesischen Bistum Shanghai und wird auch Ausländern für die Messe zur Verfügung gestellt. Der deutsche Gottesdienst war sehr gut besucht und zeigte einige ortstypische Besonderheiten. Weil am deutschsprachigen Gottesdienst nur Deutsche oder deren chinesischen Ehegatten interessiert sind, handelt es sich bei den Besuchern hauptsächlich um Expats mit ihren Familien, die meist für drei bis fünf Jahre in der Stadt bleiben und Studenten, die in Shanghai studieren. Es gab, ungewohnt für einen Gottesdienst und doch nachvollziehbar, also gar keine alten Menschen dort. Dafür waren sehr viele Kinder da, denn es war der erste Gottesdienst nach den Oktoberferien und nun beginnt der Erstkommunionsunterricht in vier Gruppen nach Shanghaier Stadtteilen geordnet. Der Gottesdienst war sehr Kind gerecht aufgebaut und es wurde sehr verständlich und eingängig erläutert, wann und warum man steht, sitzt oder kniet und wann welches Kreuzzeichen gemacht wird. Zugehörig ist man dort zur Deutschsprachigen Christliche Gemeinde Shanghai („DCGS“), die sich als Gemeinde für alle deutschsprachigen Christen versteht. Es ist eine ökumenisch geprägte Gemeinde. Die Gottesdienste werden wöchentlich abwechselnd von zwei deutschen professionellen Pfarren der beiden großen Konfessionen gehalten und sind insofern entweder katholisch oder evangelisch geprägt. Im Übrigen sind aber an allen Veranstaltungen und Aktivitäten Christen beider Konfessionen beteiligt. Die Unterschiede in der Konfession spielen keine Rolle. Im rechtlichen Sinne besteht keine Anerkennung der DCGS seitens der zuständigen chinesischen Behörden. Vor dem Jahr 2000 wurde ein Anerkennungsantrag gestellt, der ohne Begründung abgelehnt wurde und mit einer Anerkennung ist derzeit nicht zu rechnen. Bisher sind überhaupt nur sehr wenige ausländische christliche Vereinigungen und Gemeinden in China genehmigt worden sind. Es bestehen jeweils die Auflagen, einen chinesischen Geistlichen einsetzen zu müssen und chinesische Bürger von den Veranstaltungen auszuschließen. Die Gemeinde operiert daher unter dem Dach der chinesischen katholischen Kirche in Shanghai und bietet neben den Gottesdienste, Hausbibelkreise, Singtreffs, Taizé-Gebete und Nachmittage für Kinder von 5-12 Jahren sowie, konfessionsbezogen, Unterricht für Konfirmation, Erstkommunion und Firmung an.
Inzwischenhabe ich auch herausgefunden, dass in der Community Church in der Heng Shan Lu Sonntag nachmittags um 14.00 Uhr und um 16.00 Uhr internationale Gottesdienste auf Englisch stattfinden, die aber nur von Ausländern mit nichtchinesischem Pass besucht und nicht beworben werden dürfen. Jetzt habe ich also mehr Möglichkeiten zum Gottesdienstbesuch als mir noch Sonntage zur Verfügung stehen.
Fortbewegung in Shanghai
Erstaunen rief ich hervor, weil ich mit dem Fahrrad angekommen war. Es schwang auch ein Anklang von Bewunderung und Neid mit in der Stimme, weil ich durch alle engen Gassen und Straßen in den typisch chinesischen Vierteln fahren kann, durch die kein Auto hindurch passt und ungebunden wie ein Chinese am Straßenverkehr teilnehmen kann. Normalerweise ist es so, dass die Expats nicht nur einen Firmenwagen gestellt bekommen, wie ich das in Deutschland früher auch gewohnt war, sondern auf jeden Fall auch einen persönlichen Fahrer; manche Firmen untersagen ihren Expats sogar, selber zu fahren. Die Personalkosten spielen gegenüber Deutschland eine völlig untergeordnete Rolle; aber aus deutscher Sicht ist ein eigener Fahrer natürlich sehr prestigeträchtig. Das erinnert mich an den Anfang der Achtzigerjahre, als ich die bedeutende Wichtigkeit des Vorstandstands meines damaligen Arbeitgeber-Unternehmens nicht am großen Auto, sondern daran abgelesen hatte, dass er darin ein Mobiltelefon besaß. Heute können meine Kinder sich das gar nicht vorstellen und in Shanghai hat jeder Straßenfeger ein Handy und telefoniert damit mehr als ich mit meinem. Um in China Auto fahren zu dürfen, braucht man einen chinesischen Führerschein; den kann man als ausländischer Autofahrer nach Beantragung bekommen, wenn man in einer schriftlichen Prüfung auf Englisch 96 von 100 Fragen richtig beantwortet. Die 100 Fragen sind bekannt; die Reihenfolge wechselt auf den einzelnen Prüfungsbögen. Zur Fahrausbildung für Chinesen gehört auch ein praktischer Teil: Einparken auf einem Übungsgelände und eine Fahrstunde im Straßenverkehr. Eine Statistik besagt, dass in Shanghai 60 % der Autofahrer ihren Führerschein vor weniger als zwei Jahre gemacht haben. Praktisch bedeutet das, dass überwiegend Fahranfänger unterwegs sind, die ihr Fahrzeug wegen mangelnder Fahrpraxis gar nicht richtig beherrschen können.
Wir verabredeten uns auf meinen Wunsch zu einem Besuch bei meinen neuen Bekannten zu Hause. Sie nahmen mich direkt gegenüber von meinem Hotel in ihrem Auto mit, denn dort ist die St. Peters Church, wohin wir beide ohne weitere Erklärungen den Weg wussten. Wir fuhren 25 Minuten bei untergehender Sonne auf den verschiedenen Hochstraßen entlang an der METRO (deutsche Handelskette), an IKEA (schwedisches Möbelhaus), am Südbahnhof, am Riesenrad des Jinjiang-Vergnügungsparks vorbei bis zur Autobahnkreuzung A8/A20 ganz in der Nähe der Endhaltestelle der Metrolinie 1 die ganz nah an meinem Hotel eine Haltestelle hat (Huang Pi Nan Lu) und bogen in den streng bewachten Compound ein, wo besonders andere Ausländer und wohlhabende Chinesen wohnen.

Compound
Dort war als erstes ein Spaziergang durch die Anlage angesagt. Vor dem Haus schlängelt sich ein künstlicher Bach mit fließendem Wasser und ein ebenso in Schlangenlinien angelegter Fußweg. Das ist in China üblich, um ein gutes Ji zu haben, was in meiner Sicht Aberglaube ist, aber nach chinesischem Verständnis etwas mit der Einheit von Mensch und Natur und geistigen Kräften zu tun hat. Außerdem erzeugt ein nicht geradliniger Weg das Gefühl von Weite und Größe und es ist eben „typisch Chinesisch“, wie die Vorgartenhecke oder der Zaun ums Grundstück „typisch Deutsch“ und noch Überreste der Einfriedung nach Rechtsauffassung des Sachsenspiegels sind, innerhalb dessen ursprünglich der Hausfriede und ein Fehdeverbot galt, bis erst auf dem Reichtag von 1495 der Ewige Landfrieden ausgerufen und die Selbstjustiz abgeschafft wurden. Daran denkt doch auch kein Deutscher mehr, wenn er an einem Samstagnachmittag im Sommer die Hecke schneidet; der findet es einfach nur „schön“ und „normal“. Auf dem Gelände, das von einer Betreiberfirma gemanagt und die auch die Ein- und Zweifamilienhäuser möbliert vermietet, gibt es einen Gemeinschaftsswimmingpool, an anderer Stelle ein Hallenbad mit frei zugänglichen Fitnessgeräten, die jede Art von Workout ermöglichen, die aber an dem Sonntagabend alle unbenutzt waren und von mir nie genutzt würden, im Gegensatz zur therapeutical Massage, die auch täglich von 6.00 Uhr bis 22.00 Uhr angeboten wird und die ich mir nach einem Aufenthalt im Schwimmbecken bestimmt ab und an gönnen würde. Kicker, Tischtennis, Billard und ein Kino, wo man seine DVDs und Freunde mitbringen und dann vor der Großleinwand einen Filmeabend erleben kann, stehen den Bewohnern der hermetisch abgeschlossenen Wohnanlage ebenfalls zur Verfügung. Morgens um 7.15 Uhr bietet die Gesellschaft eine Direktbuslinie zur Deutschen Schule an. Dort ist Ganztagsunterricht, die Rückfahrten sind um 15.00 Uhr und um 17.00 Uhr. Zwischen Hin- und Rückfahrt bietet der Bus den Frauen Fahrten in die verschiedenen Einkaufszentren an, an einem Wochentag zu IKEA, an einem anderen zur Metro usw. Unterwegs kamen uns Zweierstreifen in Camouflage-Uniformen mit hellem Handstrahler entgegen, um versehentlich eingedrungenen Fremdpersonen den Weg nach draußen zu zeigen. Dafür trugen sie längliche Hartgummi-Zeigestäbe am Gürtel mit sich, und sahen ganz so aus, als seien sie schnell bereit, sich um solche Leute angemessen zu kümmern. Neben dem Compound stehen sechs oder acht radioteleskopgroße Satelitenantennenschüsseln der Armee, die angeblich ein Geschenk Nixons anlässlich seines Staatsbesuchs im Rahmen der Ping-pong-Diplomatie waren. Je nach Geschmack und örtlicher Vorliebe leben die Expats, vor allem die mit Kindern, für drei bis fünf Jahre in solchen Verhältnissen; Singles weichen manchmal davon ab. So ein Leben im goldenen Käfig kann man genießen. Alle Expats machen sich aber Gedanken, was nach Ende ihres befristeten Auslandsaufenthalts sein wird, wenn sie wieder in die entsendende Firma nach Deutschland zurückkehren und vielleicht keine adäquate Stelle vorfinden. Mancher hat auch Schwierigkeiten nach einer Zeit des Wichtiggenommenwerdens wieder ganz normaler Bundesbürger zu sein, der selber seinen Rasen mähen muss und niemanden hat, der für ihn die täglichen Einkäufe macht, wie es meine Frau für mich tut.

Vergnüglicher Abend
Wir hatten einen kurzweiligen Abend mit lecker Abendessen und angenehmen und interessanten Gesprächen; eine Kooperation zwischen Firma und Hochschule (Praktikantenplätze für deutsche Studierende und Vermittlung von deutschsprechenden chinesischen Absolventen) konnte ich zu beiderseitiger Zufriedenheit auch anstoßen. Dabei merkte ich, dass ich bei meinen Radtouren schon manches gesehen hatte, was die immerhin schon seit Jahresbeginn hier ansässige Neubekanntschaft noch nicht entdeckt hatte. Ich bin eigentlich sehr zufrieden, ganz zentral in der Stadt zu wohnen, kurze Wege zu haben und überall mit dem Rad hinzugelangen, wobei das in dieser Klimazone lange anhaltende warme Wetter seinen wesentlichen Beitrag tut.

Nach Hause
Später als von mir beabsichtigt wurde für mich ein Taxi bestellt, wobei ich eine abenteuerlicher Metrofahrt deutlich bevorzugt hätte, es aber für unangebracht hielt, dieses in diesem Augenblick zu äußern. Mit ein paar Brocken Chinesisch wurde der Taxiwunsch unter Nennung der Hausnummer dem Wachpersonal am Einfahrtstor telefonisch mitgeteilt, der dann auf der Straße ein vorbeifahrendes Taxi herbeiwinkte, telefonisch das Kommen meldete und dann im Fahrzeug mitgefahren ist, bis ich eingestiegen und das Taxi wieder aus dem Tor hinaus gerollt war. Security komplett. Ich war nicht in der Lage, für den Fahrer oder den Wachmann verständlich, mein Fahrziel zu nennen, obwohl ich völlig korrekt Chóng Qìng Lù èr Bǎi Qī Shí Qī gesagt hatte. Erst als ich die Visitenkarte des Hotel vorzeigte, strahle der Ausdruck der Erleuchtung über die chinesischen Gesichter und sie sagten Oh, Chóng Qìng Lù èr Bǎi Qī Shí Qī. Sagte ich bereits! Die Fahrt über schwach befahrene Straßen (es war nach 22.00 Uhr, der inoffiziellen shanghaier Bürgersteigehochklappzeit), dauerte eine halbe Stunde und kostete 45 Yuan.

Erkenntnis des Tages: Man kann die gleiche Stadt aus völlig verschiedenen Perspektiven kennenlernen und bin mit meinem Schicksal sehr zufrieden.

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