Montag, 13. Oktober 2008

Kinoerlebnis

Endspurt
Heute hat meine letzte Vorlesungswoche begonnen. Mein Maschinenbaukollege hat das für sich persönlich ganz geschickt geregelt und in den letzten sieben Wochen mehr Stunden pro Woche gelesen als vorgesehen, sodass er seinen Stoff bereits letzte Woche fertig gekriegte und vergangenen Donnerstag seine Klausur hat schreiben lassen. Freitag und am Wochenende hat er die Korrekturen und Bewertungen gemacht. Heute, mit Beginn der Herbstferien in Deutschland, ist er frei und kann sich jetzt um seine eintreffende Freundin kümmern, mit der er ein Tourismusprogramm vorhat. Aus dieser Situation versuche nun auch ich für die Studenten und mich einen Vorteil zu schlagen und habe den Studenten angeboten, einige oder alle jetzt entstandenen Stundenplanlücken zu übernehmen, um Übungsaufgaben für die Klausur am kommenden Freitag zu rechnen, was die Studenten gerne aufgegriffen haben. Ich will auf jeden Fall darauf achten, dass pädagogisch sinnvolle Lerneinheiten daraus werden. Nach der Vorlesung habe ich die Klausur so lange bearbeitet, bis sie jetzt druckfertig ist.
Doku-Movie
Für den Abend waren meine Kollegen und ich auf einen Dokumentarfilm aufmerksam gemacht geworden, der auch im SHANGHAI EXPRESS, dem Rundbrief des deutschen Generalkonsulats, angekündigt war und im UME International Cineplex-Kino im Xin Tian Di-Viertel an der Xing Ye Lu ganz in der Nähe unseres Hotels gezeigt wurde. In dem Kinosaal werden laufend solche Filme aufgeführt, wie ich der Vorfilmwerbung entnehmen konnte. Das Kino lag im 5. Stock des Gebäudes und der Saal war sehr hoch, was eine steile Staffelung der 325 Sitzplätze erlaubte und gute Luftbedingungen bot. Von jedem Platz aus hatte man eine ungestörte Sicht auf die Leinwand. Ich suchte mir hemmungslos und völlig frei einen Platz ganz vorne aus, von wo ich die Kinodramatik des Riesenbildes am besten auf mich wirken lassen konnte. Wenn ich zu Hause mit meiner Frau, die am liebsten ganz hinten sitzt, ins Kino gehe, landen wir beide kompromissbereit nebeneinander immer im langweiligen und überbevölkerten Mittelfeld. Meine kleine Portion gesalzenes Popcorn kostete 20 Yüan (Europapreise), aber ich fühlte mich in dem zu zwei Dritteln gefüllten Saal mit überwiegend chinesischen und erstaunlich vielen deutschen Besuchern sehr wohl. Der Film „Losers and Winners“ wurde in Anwesenheit der Regisseure Michael Loeken und Ulrike Franke mit anschließender Diskussion u. a. durch Documentary Channel von SMG und die Abteilung Kultur und Bildung des Deutschen Generalkonsulats präsentiert.
Hintergrund zum Film
1992 wurde nach 5 Jahren Planungs- und Bauzeit in Dortmund für 650 Millionen Euro die modernste Kokerei der Welt, Kaiserstuhl III, von ThyssenKrupp Stahl (früherer Eigner Hoesch AG) als Ersatz für die nach deutschen Richtlinien (TA Luft) nicht mehr ausreichend unfallsicheren und umweltschutzgerechten Anlagen Kaiserstuhl II und Hansa errichtet. Durch den Druck des nach dem Fall des eisernen Vorhangs aus osteuropäischer Überproduktion billig importierten Stahls wurden Hochofenkapazitäten im Ruhrgebiet abgebaut. Eine solche, das Stahlwerk der 135 Jahre alten Westfalenhütte in Dortmund, hatte der chinesische Altindustrieanlagenaufkäufer Wei („Wolfgang“) Luan erworben und drei Monate später gewinnbringend nach China weiterveräußert. Koks brauchte man plötzlich im Revier nicht mehr und acht Jahre nach dem Anfahren von Kaiserstuhl III hatte man die unrentable Anlage dann stillgelegt und mitsamt den Bauplänen, wieder über Wei Luan, nach China an den chinesischen Bergwerkskonzern Yankuang verkauft, der die Einrichtungen und die Kokerei nach über einjähriger Demontage in Dortmund in Jining in der Nähe von Zaozhuang, Provinz Shandong, wieder errichtet hat. Der erste Koks ist im Juni 2006 erst nach Überwindung sehr großer Probleme gedrückt worden. Mit Hilfe der übernommenen Zeichnungen wurden aus chinesischer Produktion inzwischen zwei weitere baugleiche Anlagen errichtet und in Betrieb genommen. In Essen steht die Kokerei Zollverein als technisches Denkmal zur Besichtigung, wo ich mit meinen drei Damen mal im Winter auf der ab Dezember geöffneten und mit 150 m längsten Kunsteislaufbahn Deutschlands (Breite aber nur 12 m, weil die lange Piste auf dem ehemaligen Druckmaschinengleis der Kokerei angelegt wurde) Schlittschuh gelaufen bin und mich von den Dimensionen einer Kokereianlage mächtig habe beeindrucken lassen. Ansonsten gibt es in Deutschland noch vier aktive Kokereien, 13 wurden in der Vergangenheit abgerissen.

Der Film
Die Filmemacher haben die eineinhalb Jahre dauernde Demontage mit all ihren Konflikten zwischen den wenigen verbliebenen deutschen Arbeitern und deren 400 chinesischen Kollegen beobachtet und gefilmt. Es ging um Zwischenmenschliches und Vorurteile, Sicherheitsstandards und Termindruck, unterschiedliche Lebensentwürfe und Kulturunterschiede, die ich als jetzt China-Betroffener gut nachvollziehen kann. Im Kino ist mir aufgefallen, dass die Projektion digital war, das heißt, es wurde nicht altvertraut ein Film gezeigt, sondern Computerdaten wurden in völlig ausreichender Qualität auf die Großleinwand projiziert. Leider wurde versehentlich eine Kopie gezeigt, die zwar die deutsche Sprache auf Chinesisch untertitelte, aber nicht umgekehrt das Chinesische auf Deutsch. So konnte ich leider nicht herzhaft mitlachen, als die chinesischen Kinobesucher das nach Textbeträgen des chinesischen Abbauleiters und anderer Handelnder taten.

Erkenntnis des Tages: Man kann die Dinge des Lebens sachlich oder emotional angehen und in beiden Fällen von der Wahrheit berichten.

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