Leider habe ich heute keine Fotos zu bieten, weil ich einfach nicht daran gedacht habe zu fotografieren. Dabei hätte es durchaus Motive gegeben – dazu aber später.
Neuer Anfang
Als ich nach der Ferienwoche in der ersten Stunde am Morgen „vor meinen Studenten stand“, wie man meine Berufstätigkeit umschreibend gerne formuliert, waren drei Minuten vor Vorlesungsbeginn nur vier von ihnen anwesend. Zwar stürmten kurz vor dem Klingelzeichen ganz viele und kurz danach nur noch drei herein, dennoch blieben einige Plätze leer. Dabei gilt hier, anders als in Hamburg, auch bei den Vorlesungen Anwesenheitspflicht, und bei Versäumnis von 30 % gibt es keine Zulassung zur Klausur. Als erstes zeigte ich die Klausurergebnisse und erwartete Aufregung und heftige Reaktionen. Aber es herrschte eine stoische Gelassenheit und stille Kenntnisnahme. Nicht mal der doch jetzt erst zu spät hereinplatzende Student bat darum, seine Note noch nachträglich zu erfahren. Ich legte mit meinem Unterricht zu Thema Tiefziehen los und schafft es heute Morgen nicht, die Studenten an den Herleitungen der Rechenaufgaben zu beteiligen, alle waren still. Nach der Stunde kamen zwei von den sehr guten mit Fragen zu mir, und ich entdeckte sogar, dass ich an einer Stelle sehr unlogisch argumentiert hatte. Mangelnde Aufmerksamkeit oder fehlendes Verständnis hat also ganz sicher nicht bei allen zur von mir antizipierten Teilnahmslosigkeit geführt. Die Lösung erfuhr ich später von der Direktorin des Fachgebiets Maschinenbau, als wir die Ergebnisse meiner Klausur mit ihrer Kenntnis der Leistungen der einzelnen Studenten verglichen: Mein deutscher Maschinenbaukollege hatte nach seinem Praktikum vor einiger Zeit eine schriftliche Hausarbeit, ein sogenanntes Laborprotokoll, was in Hamburg selbstverständlich jedes mal gemacht werden muss, mit Abgabedatum heute aufgegeben. Gestern waren die Studenten aus der Ferienwoche zurückgekehrt und hatten in der Nacht erst mit der Hausaufgabe angefangen(!). Dabei war es sehr spät geworden. Um halb acht heute Morgen hat die Direktorin durch die Klassensprecher alle in den Schlafräumen wecken und aufscheuchen lassen. Alle litten heute unter blanker Müdigkeit. Mein Kollege war sauer, dass die Hausarbeiten nicht rechtzeitig abgegeben wurden und dazu noch unvollständig. Die Direktorin erklärte mir das dramatisch schlechte Abschneiden einiger Studenten in meiner Klausur mit für mich erstaunlich weitreichenden Kenntnissen über das private Umfeld jedes einzelnen Studenten. Ein generelles Problem sei, dass diese Gruppe einen extrem häufigen Wechsel der Person der Betreuungslehrkraft habe durchmachen müssen. Die ganz schlechten kämen aus fernen Provinzen und sähen ihre Eltern nur ein oder zweimal im Jahr, sodass sie alle nicht genug beaufsichtigt und angetrieben würden. Kulturell und gesellschaftlich bedingt unterscheidet sich das Akademische Leben in China von dem in Deutschland erheblich: während bei uns ein Lebensabschnitt der Eigenverantwortung für die Studierenden beginnt, leben die Studenten in China kaserniert in ganz engem Vorgabenkorsett. Die chinesischen Professoren kennen hier ihre Studenten persönlich, es gibt für die Studenten keine Möglichkeit auszuscheren, während die Studierenden in Deutschland an manchen Universitäten erst ganz spät im Studium überhaupt einen Kontakt zu ihren Professoren bekommen und manche Professoren oft vor einer unpersönlichen Masse unzählbar vieler Studenten lesen, wobei das Schicksal des einzelnen Studenten niemanden interessiert. In China kann man in unserem Sinne auch nicht „durchfallen“ oder gar wegen mehrfachen Prüfungsversagens zwangsweise exmatrikuliert werden: jeder bekommt ein Abschlusszeugnis, im schlimmsten Fall eines ohne Noten, was lediglich einer Teilnahmebescheinigung gleichkommt.
Honorig empfangen
Am Abend war ich im Radisson Plaza Xingguo Hotel in der Xingguo Lu zum Empfang, den der Deutsche Generalkonsul für alle Landleute anlässlich des Tages der Deutschen Einheit gegeben hat. Ich war dadurch in die Lage versetzt worden, meinen neuen Anzug mit meinem neuen Maßhemd auszuführen, denn im Einladungsschreiben stand Dunkler Anzug. Das Wetter ist so merklich abgekühlt, dass ich ohne Schweißausbrüche im Anzug herumlaufen konnte; allerdings ist es auch noch so warm, dass ich auch nachts noch im kurzärmeligen Hemd und in Sandalen herumlaufe, was, von den besonderen Anlässen mal abgesehen, bisher meine einzige Bekleidungsform ist. Beim Empfang herrschte drängende Enge wie unter Chinesen in der U-Bahn. Aufgefallen ist mir sofort, dass ich nicht mehr über alle Köpfe hinweg schauen konnte. In dieser bundesrepublikanischen Sonderzone fiel mir auf, dass Chinesen nicht nur schlank und zierlich, sondern durchweg von geringer Körpergröße sind. Dass ich überall deutsch hörte und alles verstand, was die Sprecher sich sagten, kam mir zunächst auch „fremd“ vor. Nach dem Defilee händeschüttelnd am Generalkonsul, seiner Gemahlin und weiteren zehn offiziellen Wichtigkeiten vorbei, gab es Wein und Smalltalk in einem Saal, in dem eine Lautstärke herrschte, als wären es lauter Han-Chinesen, die sich da unterhalten.
Reden lauschen
Dann wurden erst die chinesische und anschließend die deutsche Nationalhymne abgespielt; bei letzterer versuchten einige meiner Landsmänner den Text der dritten Strophe mitzusingen, allerdings wurden sie deutlich übertönt von anderen, die partout nicht in ihrer Konversation einhalten wollten und noch anderen, die laufend mit lautem „Pardon“ sich den Weg zum Getränkeausschank durchkämpfen mussten, womit der Spruch bewiesen wäre: „Durst ist schlimmer als Heimweh!“ 59 Sekunden später setzte der Generalkonsul mit seiner Rede an, die er zwar selber Satz für Satz auch korrekt ins Englische übersetzte, aber nicht richtig ins Mikrofon sprach. Unterbrochen wurde er lediglich von einer chinesischen Konsularmitarbeiterin, die seine Worte in klarem, deutlich verstehbarem Chinesisch über die Lautsprecheranlage in den Saal trug. Richtig hängen geblieben ist mir nur, dass der Herr Generalkonsul von der „Wiedervereinigung“ Deutschlands sprach, was ich aus dem Mund des höchsten Vertreters der Bundesrepublik Deutschland in Shanghai für so unangemessen dargestellt finde, dass mir eine Nachschulung durchaus empfehlenswert erschien. Vielleicht hätte ein gewisser Herr Schröder, ein weltweit bekannter Vertreter des russischen Gaspipelinebaus, der zufällig gerade in Shanghai weilt und für eine begrenzte Zeit der dichtgepackten Teutonenansammlung seine Aufwartung machte, im Rückblick auf eine früher von ihm in Deutschland ausgeübte Berufstätigkeit dem Generalkonsul Formulierungshilfe geben können, aber ich vermute mal, dass meine kleinkarierte Denke in seinen auf kosmopolitische Globalwirkung ausgerichteten Hirnwindungen keinen Platz hat. Herr Schröder war sehr begeht als belebender Ausstattungsgegenstand (vielleicht vergleichbar, wie wenn man im Eurodisney in Paris zufällig auf Mickey Mouse trifft und sich dann mit ihm zusammen ablichten lässt) für Portraitaufnahmen anwesender Bundesbürger, die ihrem Lebenssong „I‘ve Been Everywhere“ (das Originallied und auch die deutsche Version sind hörenswert!) gerne noch eine weitere Strophe hinzufügen wollten. Dabei spielte die parteipolitische Präferenz in diesem Moment überhaupt keine Rolle mehr; hier waren alle trennenden Grenzen und Wälle für eine Blitzlichtlänge von 1/60-Sekunde eingeebnet.
Speisen
Ich konnte mich leider, leider nicht mit Herrn Schröder fotografieren lassen, weil am kalten Buffet ein solches heißes Gedränge entstand, wie Reinhard May das in einem seiner Songs beschrieben hat und ich dringend befürchten musste, die Bundesrepublik Deutschland würde Peer Steinbrücks Haushaltsdefizit ausgerechnet mit Sparmaßnahmen in Shanghai zu bekämpfen versuchen. Ich reihte mich geschickt von links kommend ein und hatte nach beträchtlicher Wartefrist mit heftigem Gegenverkehr zu tun, weil der Food und Beverage Service die Teller auf beiden Seiten des Buffets platziert hatte. Wahrscheinlich waren das Chinesen, die die Shanghaier Straßenverkehrssituation vor Augen und sowieso nichts anderes im Sinn hatten, denn schließlich seien die Deutschen zum Feiern ihrer Einheit heute zusammen gekommen. Zum Essen suchte ich mir einen Platz an einem der verschwindend wenig vorhandenen Stehtischen und ergatterte tatsächlich einen im großen Saal, nahm Kontakt mit meinem Stehnachbarn auf, der mir sofort gellend ins Ohr schrie und versuchte zu erklären, was er in Shanghai tut. Damit konnte er zwar die höllisch laut spielende Jazzband übertönen, aber mich nicht erfreuen, weswegen ich sofort nachdem ich mein Tellerchen aufgeputzt hatte, unter dem Vorwand nachfassen zu müssen erneut am Buffet vorbeiging und nachlud. Meine Befürchtungen um die Nahrungsmittelknappheit waren unbegründet, denn lauter Namentlich auf einem Plakat im Foyer aufgeführte deutsche Firmen mit Sitz in Shanghai hatten was springen lassen und so den Abend für die erwartungsgierigen Deutschen gerettet. Ich verzog mich ins duster beleuchtet Zelt vor dem Saal, wo es das Bayrische Bier gab, stark nach feuchtem, frisch niedergetrampeltem Gras roch und mogelte mich erneut an einen Stehtisch heran.
Plaudern
Dort bewegte ich mich vorläufig nicht mehr weg, denn ständig wurde ich in neue interessante Gespräche mit richtig in Shanghai als Expats residierenden Deutschen verwickelt, die ich ordentlich ausfragen konnte und die es offensichtlich ganz angenehm fanden, dass ein richtiger Professor sich richtig für Ihre Situation interessierte. Ich wurde dem katholischen der beiden Pfarrer der Deutschen Christlichen Gemeinde in Shanghai vorgestellt, der mit mir Kontakt aufnehmen will, lernte drei Ehepaare kennen, von denen eins mich nächste Woche in seinen Compound einladen will (mal sehen, was daraus wird) und wurde von einem Arzt angesprochen, der in Hamburg am UKE seine Facharztausbildung gemacht hat und meine Lions-Nadel an Revers sah und fragte, ob er nicht aus der Ferne Mitglied in einem Hamburger Lions-Club werden könnte, weil es sowas in Shanghai noch nicht gibt. Ein anderer aus dem Textilgewerbe bat mich, ihm gute Studenten vom Shanghai-Hamburg-College zu vermitteln, weil wegen des riesenhaften Konjunkturwachstums die Fluktuationsrate bei 35 % liegt, denn Chinesen wechseln den Job schnell, wenn sie woanders ein paar Yuan mehr geboten bekommen. Es waren aufschlussreiche, amüsante und angenehme Gespräche und Menschen, die ich da kennenlernte. Nachdem ich alle meine Visitenkarten aufgebraucht hatte und das vom Generalkonsul angegebene Empfangsende schon lange überschritten war, ging ich schließlich auf die Suche nach meinen deutschen und chinesischen Kollegen vom Joint-College und fand sie noch nicht aufbruchsbereit, sodass wir zum plaudern noch einen Stuhlkreis bildeten, nachdem ich, ausschließlich aus Ehrfurcht vor der Heimat meiner Frau und unserer heute so geliebten Wahlheimat Hamburg, mich ordentlich mit Schwarzwälder Kirschtorte und Roter Grütze mit Sahnehalbgefrorenem als ernstgenommenem landsmannschaftlichen Bekenntnis ausgerüstet hatte. Herr Schröder war längst nicht mehr da, den Herrn Generalkonsul konnte ich auch nicht mehr ausmachen, aber zum Glück war der Riesling noch nicht ausgegangen, so dass wir den netten Abend noch weiter sehr angenehm ausklingen lassen konnten.
Erkenntnis des Tages: Je netter der Abend, desto nachteiliger wirkt es sich auf meine persönliche Energiebilanz aus, die ich mir vorgenommen habe, noch eine geraume Zeit auf niedrigem Niveau zu halten. Ab Morgen wieder.
Neuer Anfang
Als ich nach der Ferienwoche in der ersten Stunde am Morgen „vor meinen Studenten stand“, wie man meine Berufstätigkeit umschreibend gerne formuliert, waren drei Minuten vor Vorlesungsbeginn nur vier von ihnen anwesend. Zwar stürmten kurz vor dem Klingelzeichen ganz viele und kurz danach nur noch drei herein, dennoch blieben einige Plätze leer. Dabei gilt hier, anders als in Hamburg, auch bei den Vorlesungen Anwesenheitspflicht, und bei Versäumnis von 30 % gibt es keine Zulassung zur Klausur. Als erstes zeigte ich die Klausurergebnisse und erwartete Aufregung und heftige Reaktionen. Aber es herrschte eine stoische Gelassenheit und stille Kenntnisnahme. Nicht mal der doch jetzt erst zu spät hereinplatzende Student bat darum, seine Note noch nachträglich zu erfahren. Ich legte mit meinem Unterricht zu Thema Tiefziehen los und schafft es heute Morgen nicht, die Studenten an den Herleitungen der Rechenaufgaben zu beteiligen, alle waren still. Nach der Stunde kamen zwei von den sehr guten mit Fragen zu mir, und ich entdeckte sogar, dass ich an einer Stelle sehr unlogisch argumentiert hatte. Mangelnde Aufmerksamkeit oder fehlendes Verständnis hat also ganz sicher nicht bei allen zur von mir antizipierten Teilnahmslosigkeit geführt. Die Lösung erfuhr ich später von der Direktorin des Fachgebiets Maschinenbau, als wir die Ergebnisse meiner Klausur mit ihrer Kenntnis der Leistungen der einzelnen Studenten verglichen: Mein deutscher Maschinenbaukollege hatte nach seinem Praktikum vor einiger Zeit eine schriftliche Hausarbeit, ein sogenanntes Laborprotokoll, was in Hamburg selbstverständlich jedes mal gemacht werden muss, mit Abgabedatum heute aufgegeben. Gestern waren die Studenten aus der Ferienwoche zurückgekehrt und hatten in der Nacht erst mit der Hausaufgabe angefangen(!). Dabei war es sehr spät geworden. Um halb acht heute Morgen hat die Direktorin durch die Klassensprecher alle in den Schlafräumen wecken und aufscheuchen lassen. Alle litten heute unter blanker Müdigkeit. Mein Kollege war sauer, dass die Hausarbeiten nicht rechtzeitig abgegeben wurden und dazu noch unvollständig. Die Direktorin erklärte mir das dramatisch schlechte Abschneiden einiger Studenten in meiner Klausur mit für mich erstaunlich weitreichenden Kenntnissen über das private Umfeld jedes einzelnen Studenten. Ein generelles Problem sei, dass diese Gruppe einen extrem häufigen Wechsel der Person der Betreuungslehrkraft habe durchmachen müssen. Die ganz schlechten kämen aus fernen Provinzen und sähen ihre Eltern nur ein oder zweimal im Jahr, sodass sie alle nicht genug beaufsichtigt und angetrieben würden. Kulturell und gesellschaftlich bedingt unterscheidet sich das Akademische Leben in China von dem in Deutschland erheblich: während bei uns ein Lebensabschnitt der Eigenverantwortung für die Studierenden beginnt, leben die Studenten in China kaserniert in ganz engem Vorgabenkorsett. Die chinesischen Professoren kennen hier ihre Studenten persönlich, es gibt für die Studenten keine Möglichkeit auszuscheren, während die Studierenden in Deutschland an manchen Universitäten erst ganz spät im Studium überhaupt einen Kontakt zu ihren Professoren bekommen und manche Professoren oft vor einer unpersönlichen Masse unzählbar vieler Studenten lesen, wobei das Schicksal des einzelnen Studenten niemanden interessiert. In China kann man in unserem Sinne auch nicht „durchfallen“ oder gar wegen mehrfachen Prüfungsversagens zwangsweise exmatrikuliert werden: jeder bekommt ein Abschlusszeugnis, im schlimmsten Fall eines ohne Noten, was lediglich einer Teilnahmebescheinigung gleichkommt.
Honorig empfangen
Am Abend war ich im Radisson Plaza Xingguo Hotel in der Xingguo Lu zum Empfang, den der Deutsche Generalkonsul für alle Landleute anlässlich des Tages der Deutschen Einheit gegeben hat. Ich war dadurch in die Lage versetzt worden, meinen neuen Anzug mit meinem neuen Maßhemd auszuführen, denn im Einladungsschreiben stand Dunkler Anzug. Das Wetter ist so merklich abgekühlt, dass ich ohne Schweißausbrüche im Anzug herumlaufen konnte; allerdings ist es auch noch so warm, dass ich auch nachts noch im kurzärmeligen Hemd und in Sandalen herumlaufe, was, von den besonderen Anlässen mal abgesehen, bisher meine einzige Bekleidungsform ist. Beim Empfang herrschte drängende Enge wie unter Chinesen in der U-Bahn. Aufgefallen ist mir sofort, dass ich nicht mehr über alle Köpfe hinweg schauen konnte. In dieser bundesrepublikanischen Sonderzone fiel mir auf, dass Chinesen nicht nur schlank und zierlich, sondern durchweg von geringer Körpergröße sind. Dass ich überall deutsch hörte und alles verstand, was die Sprecher sich sagten, kam mir zunächst auch „fremd“ vor. Nach dem Defilee händeschüttelnd am Generalkonsul, seiner Gemahlin und weiteren zehn offiziellen Wichtigkeiten vorbei, gab es Wein und Smalltalk in einem Saal, in dem eine Lautstärke herrschte, als wären es lauter Han-Chinesen, die sich da unterhalten.
Reden lauschen
Dann wurden erst die chinesische und anschließend die deutsche Nationalhymne abgespielt; bei letzterer versuchten einige meiner Landsmänner den Text der dritten Strophe mitzusingen, allerdings wurden sie deutlich übertönt von anderen, die partout nicht in ihrer Konversation einhalten wollten und noch anderen, die laufend mit lautem „Pardon“ sich den Weg zum Getränkeausschank durchkämpfen mussten, womit der Spruch bewiesen wäre: „Durst ist schlimmer als Heimweh!“ 59 Sekunden später setzte der Generalkonsul mit seiner Rede an, die er zwar selber Satz für Satz auch korrekt ins Englische übersetzte, aber nicht richtig ins Mikrofon sprach. Unterbrochen wurde er lediglich von einer chinesischen Konsularmitarbeiterin, die seine Worte in klarem, deutlich verstehbarem Chinesisch über die Lautsprecheranlage in den Saal trug. Richtig hängen geblieben ist mir nur, dass der Herr Generalkonsul von der „Wiedervereinigung“ Deutschlands sprach, was ich aus dem Mund des höchsten Vertreters der Bundesrepublik Deutschland in Shanghai für so unangemessen dargestellt finde, dass mir eine Nachschulung durchaus empfehlenswert erschien. Vielleicht hätte ein gewisser Herr Schröder, ein weltweit bekannter Vertreter des russischen Gaspipelinebaus, der zufällig gerade in Shanghai weilt und für eine begrenzte Zeit der dichtgepackten Teutonenansammlung seine Aufwartung machte, im Rückblick auf eine früher von ihm in Deutschland ausgeübte Berufstätigkeit dem Generalkonsul Formulierungshilfe geben können, aber ich vermute mal, dass meine kleinkarierte Denke in seinen auf kosmopolitische Globalwirkung ausgerichteten Hirnwindungen keinen Platz hat. Herr Schröder war sehr begeht als belebender Ausstattungsgegenstand (vielleicht vergleichbar, wie wenn man im Eurodisney in Paris zufällig auf Mickey Mouse trifft und sich dann mit ihm zusammen ablichten lässt) für Portraitaufnahmen anwesender Bundesbürger, die ihrem Lebenssong „I‘ve Been Everywhere“ (das Originallied und auch die deutsche Version sind hörenswert!) gerne noch eine weitere Strophe hinzufügen wollten. Dabei spielte die parteipolitische Präferenz in diesem Moment überhaupt keine Rolle mehr; hier waren alle trennenden Grenzen und Wälle für eine Blitzlichtlänge von 1/60-Sekunde eingeebnet.
Speisen
Ich konnte mich leider, leider nicht mit Herrn Schröder fotografieren lassen, weil am kalten Buffet ein solches heißes Gedränge entstand, wie Reinhard May das in einem seiner Songs beschrieben hat und ich dringend befürchten musste, die Bundesrepublik Deutschland würde Peer Steinbrücks Haushaltsdefizit ausgerechnet mit Sparmaßnahmen in Shanghai zu bekämpfen versuchen. Ich reihte mich geschickt von links kommend ein und hatte nach beträchtlicher Wartefrist mit heftigem Gegenverkehr zu tun, weil der Food und Beverage Service die Teller auf beiden Seiten des Buffets platziert hatte. Wahrscheinlich waren das Chinesen, die die Shanghaier Straßenverkehrssituation vor Augen und sowieso nichts anderes im Sinn hatten, denn schließlich seien die Deutschen zum Feiern ihrer Einheit heute zusammen gekommen. Zum Essen suchte ich mir einen Platz an einem der verschwindend wenig vorhandenen Stehtischen und ergatterte tatsächlich einen im großen Saal, nahm Kontakt mit meinem Stehnachbarn auf, der mir sofort gellend ins Ohr schrie und versuchte zu erklären, was er in Shanghai tut. Damit konnte er zwar die höllisch laut spielende Jazzband übertönen, aber mich nicht erfreuen, weswegen ich sofort nachdem ich mein Tellerchen aufgeputzt hatte, unter dem Vorwand nachfassen zu müssen erneut am Buffet vorbeiging und nachlud. Meine Befürchtungen um die Nahrungsmittelknappheit waren unbegründet, denn lauter Namentlich auf einem Plakat im Foyer aufgeführte deutsche Firmen mit Sitz in Shanghai hatten was springen lassen und so den Abend für die erwartungsgierigen Deutschen gerettet. Ich verzog mich ins duster beleuchtet Zelt vor dem Saal, wo es das Bayrische Bier gab, stark nach feuchtem, frisch niedergetrampeltem Gras roch und mogelte mich erneut an einen Stehtisch heran.
Plaudern
Dort bewegte ich mich vorläufig nicht mehr weg, denn ständig wurde ich in neue interessante Gespräche mit richtig in Shanghai als Expats residierenden Deutschen verwickelt, die ich ordentlich ausfragen konnte und die es offensichtlich ganz angenehm fanden, dass ein richtiger Professor sich richtig für Ihre Situation interessierte. Ich wurde dem katholischen der beiden Pfarrer der Deutschen Christlichen Gemeinde in Shanghai vorgestellt, der mit mir Kontakt aufnehmen will, lernte drei Ehepaare kennen, von denen eins mich nächste Woche in seinen Compound einladen will (mal sehen, was daraus wird) und wurde von einem Arzt angesprochen, der in Hamburg am UKE seine Facharztausbildung gemacht hat und meine Lions-Nadel an Revers sah und fragte, ob er nicht aus der Ferne Mitglied in einem Hamburger Lions-Club werden könnte, weil es sowas in Shanghai noch nicht gibt. Ein anderer aus dem Textilgewerbe bat mich, ihm gute Studenten vom Shanghai-Hamburg-College zu vermitteln, weil wegen des riesenhaften Konjunkturwachstums die Fluktuationsrate bei 35 % liegt, denn Chinesen wechseln den Job schnell, wenn sie woanders ein paar Yuan mehr geboten bekommen. Es waren aufschlussreiche, amüsante und angenehme Gespräche und Menschen, die ich da kennenlernte. Nachdem ich alle meine Visitenkarten aufgebraucht hatte und das vom Generalkonsul angegebene Empfangsende schon lange überschritten war, ging ich schließlich auf die Suche nach meinen deutschen und chinesischen Kollegen vom Joint-College und fand sie noch nicht aufbruchsbereit, sodass wir zum plaudern noch einen Stuhlkreis bildeten, nachdem ich, ausschließlich aus Ehrfurcht vor der Heimat meiner Frau und unserer heute so geliebten Wahlheimat Hamburg, mich ordentlich mit Schwarzwälder Kirschtorte und Roter Grütze mit Sahnehalbgefrorenem als ernstgenommenem landsmannschaftlichen Bekenntnis ausgerüstet hatte. Herr Schröder war längst nicht mehr da, den Herrn Generalkonsul konnte ich auch nicht mehr ausmachen, aber zum Glück war der Riesling noch nicht ausgegangen, so dass wir den netten Abend noch weiter sehr angenehm ausklingen lassen konnten.
Erkenntnis des Tages: Je netter der Abend, desto nachteiliger wirkt es sich auf meine persönliche Energiebilanz aus, die ich mir vorgenommen habe, noch eine geraume Zeit auf niedrigem Niveau zu halten. Ab Morgen wieder.
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