Freitag, 10. Oktober 2008

Volles Programm

Ein Tag wie jeder andere
Wie jeden Freitag hatte ich zuerst meine Vorlesung für heute abgewickelt. Dafür war ich aber auch zur Mittagspause mit meinem Tagewerk durch. Meine Studenten waren heute ziemlich anhänglich und fragten mich nach der Vorlesung zum Stoff des Tages und der vergangenen Tage aus. Das freut mich, auch wenn es immer dieselben, sind; und ich bedauere, dass andere die Gelegenheit nicht nutzen. Dass sie soviel Zeit hatten, lag daran, dass sie chinesische Deutschlehrerin krank war. Deswegen wollten sie mit mir zum Essen gehen, denn Essen ist allen ganz wichtig. Ich hätte gerne verzichtet, wegen des bevorstehenden Abendessens, aber ich wollte die Gelegenheiten nutzen, ins Gespräch zu kommen.

Shanghaier Küche?
Einer meiner deutschen Professoren-Kollegen klinkte sich in unsere Gruppe ein und wir marschierten eine ziemliche Strecke, bis wir das passende, shanghainesische Restaurant fanden. Die chinesische Küche stellt eine Ausdrucksform der chinesischen Kultur dar. Als einheitliche Kochtradition gibt es sie aber eigentlich nicht; es handelt sich vielmehr um einen aus unserer Außensicht geprägten Begriff, wie in China von der europäischen oder gar der westlichen Küche gesprochen wird. Es gab heute also Süß-saueres und für einen Mittagsimbiss unverschämt viel. Es wurde aber ziemlich aufgegessen, und was nicht, ganz selbstverständlich, im Styroporbehälter eingepackt und (von den Studenten) nach Hause ins Wohnheim mitgenommen. Chinas Küchen werden in vier oder in acht große Regionalküchen unterteilt und nur weil Peking und Shanghai auf anderen Gebieten als in der Kochkunst von überragender Bedeutung für China sind, spricht man, höflicherweise, zusätzlich auch von beijinger und shanghaier Küche. Die Su-Küche im Osten ist sauer, die Chuan-Küche im Westen ist scharf, die Yue-Küche im Süden ist süß und die Su-Küche im Norden ist salzig. Kochen hat in China mit der Lebensphilosophie zu tun. Wichtig ist generell neben Farbe, Aroma und Würze die Konsistenz (Schwalbennester- und Haifischflossensuppe werden fast nur wegen ihrer Konsistenz gegessen und weil sie den Organismus kräftigen sollen) sowie der harmonische Gesamteindruck eines Gerichtes. Eine bedeutende, aber auch nicht zu überschätzende, Rolle spielen hierbei die Fünf Elemente (hier muss man sich von der ebenso wenig einleuchtenden klassisch-griechischen Vorstellung von vier Elementen (Wasser-Erde-Luft-Feuer) vollkommen lösen): Holz (sauer), Feuer (bitter), Erde (süß), Metall (scharf), Wasser (salzig). Das ist nur ein einfacher Einblick in dieses Konzept, denn ich habe das längst noch nicht durchblickt, welches auch andere Lebensbereiche durchdringt, und neben der Einteilung in Yin- und Yang-Zubereitungen sowie Nahrungsmittel, die Grundlage für diverse Gesundheitsaspekte der Speisen darstellt. Scharfes soll angeblich die innere Körpertemperatur senken und dadurch zu Abkühlung führen. Auch sehr kalte Speisen sollten nach dieser Vorstellung eher gemieden werden, da sie dem Körper Energie rauben. Deswegen wird alles gekocht, gedünstet, gebraten, frittiert usw. Eine knackig frische Salatplatte findet man hier nicht, weil sie für ungesund gehalten wird. Andererseits identifizieren Chinesen in Deutschland das Essen, dass es im China-Restaurant gibt, nicht als Chinesisch; zu viele Konzessionen an deutsche Gewohnheiten und den deutschen Geschmack fließen dort ein.

Tunnelbaumuseum
Mit meinem Kollegen hatte ich verabredet, das Tunnelbaumuseum zu besuchen, weil ich herausgefunden hatte, dass es ein solches gibt. Es befindet sich an der Ecke Fuxing/Zhonghua Lu ganz in der Nähe von der Einfahrt in den Fuxingtunnel unter dem Huangpu in dem unscheinbaren Verwaltungsgebäude der Tunnelbetriebsgesellschaft. Es ist nur an wenigen Nachmittagen in der Woche geöffnet und nur mit der Leitung durch den Security-Mann fand ich den Eingang. Im Foyer warteten vier junge Damen darauf, etwas zu tun, eine führte uns im Aufzug in den 5. Stock (in China ist die Zählung so, dass das Erdgeschoss erster Stock - first floor - heißt und jede weitere Etage weitergezählt wird, manchmal unter Auslassung der Nummern 4 und 14, weil die Silbe für vier ähnlich klingt wie bald sterben und die für vierzehn ähnlich klingt wie umgebracht werden). Dort waren zunächst Plakate aufgehängt mit langweiligen Fotos von Shanghaier Tunneln, die zeigten, dass die Tradition des Tunnelbaus vielleicht zwanzig Jahre beträgt und damit mehr als hundert Jahre gegenüber dem europäischen Erfahrungshorizont zurückliegt. Ich war etwas enttäuscht darüber, wie sehr oberflächlich und wenig fachbezogen dieses Museum, das bestimmt nur ein speziell interessiertes Publikum ansprechen kann, seine Besucher empfängt. Naja, wenigstens gab es keinen Eintritt zu bezahlen. Dann ging es über einige Gänge weiter in thematische Ausstellungsräume und nun fing die Ausstellung an, mir zu gefallen. Danach durchschritten wir, von unserer Führerin sprachlos geleitet, eine Eisentür, hinter der wir eine Stahltreppe hinabsteigen mussten, um in den Tunnel zu gelangen. Das war natürlich eine Attrappe, aber in Originaldimensionen im vierten Stock!
Hinter dem Tunnel ging es durch eine schmale Tür weiter in die Tunnelbaustelle hinein, direkt in den Raum hinter der Tunnelvortriebsmaschine. Natürlich alles fake, kein Dreck, kein Lärm, kein Staub, keine Hitze, aber doch so, als sei man selber dort gewesen. Beim Bau des neuen Hamburger Autobahnelbtunnels (vierte Röhre) hatte ich mal die Gelegenheit, die echte Baustelle zu besichtigen, als das Schneidrad sich etwa in Flussmitte befand. Diese Attrappe hier in Shanghai hat mir den gleichen Eindruck anschaulich vermittelt! Das ist so gut gemacht, wie die Bergwerke im Deutschen Museum in München, wo ich auch das Gefühl hatte, unter der Erde zu sein. Zwischendrin waren wir auf Höhe der Tunnelleitstelle angelangt und konnten über eine vollflächige Glaswand zuschauen, was dort (nicht) aufregendes passiert. Weiter ging zur Erläuterung der verschiedenen Tunnelbaumethoden.

Es war aufgemacht, wie im Lehrbuch, mit dem Unterschied, dass in Shanghai und Umgebung gleichzeitig alle Methoden an erschreckend vielen Baustellen, je nach Untergrund, Tunneltiefe und topographischer Tunnelführung, im Einsatz sind: Bagger, Bohrhämmer, Drehschlagbohrmaschinen, Schrämmaschinen, Tunnelbohrmaschinen, Schildvortriebsmaschinen und Sprengmittel. Obwohl die Hamburger Tunnelprojekte von beeindruckender Technik und von ebenso beeindruckenden Kosten gekennzeichnet werden, sind T.R.U.D.E. und V.E.R.A. nur Randerscheinungen gemessen an der unterirdischen Baugewalt in Shanghai, was die technische Vielfalt, die Radikalität der Maßnahmendurchführung und die Milliarden an Yuan, die verbuddelt werden, anbelangt. Alle Geräte, Maschinen, Anlagen sind aus chinesischer Produktion. Ganz in der Nähe meines Er Yi-Hotels wird unter der Fuxing Lu gerade eine Haltestelle für eine neue U-Bahn-Linie gebaut. Ich habe mir da mal unerlaubt Zutritt zur Baustelle verschafft und war von der Tiefe und dem Betonvolumen stark beeindruckt. Der Abtransport des Bauaushubs kann nur nachts per LKW erfolgen, aber die Baustellen in Shanghai sind ohnehin 24 Stunden am Tag an 7 Tagen die Woche, auch am Mondfest und am Nationalfeiertag, in Betrieb. Das Tunnelmuseum hat sich also doch richtig gelohnt gehabt. Und Shanghai wird wahrscheinlich den Mangel an Tunnelbauerfahrung aus den letzten 150 Jahren bis zur Expo 2010 durch schiere Masse ausgeglichen haben.
Konfuzius
Auf der Rückfahrt habe ich einen Abstecher zum Konfuzianischen Tempel in Shanghais Altstadt gemacht und die Ruhe im Trubel und das Kontrastprogramm genossen. Es gab dort auch ein „Museum“ mit besonders schönen Stücken aus alter oder neuer Produktion, die anlässlich des Geburtstages von Konfuzius in den letzten Jahren von Anhängern dem dortigen Kloster gestiftet wurden und nun zu horrenden Preisen zur Finanzierung des Klosterlebens verkauft werden. Sicher waren die Preise angemessen, aber sie lagen weit über denen, die ich zu zahlen bereit gewesen wäre. So eine Tempelanlage in der Stadt lädt zur Besinnung und zur Stille ein.
Aber ich musste weiter, denn heute war ein großes Essen wegen der Ankunft der neu angekommenen deutschen Professoren angekündigt. Zu Fuß ging es wie immer um kurz vor 18.00 Uhr los, denn das ist heilige Abendessenszeit. Wir marschierten ziemlich weit die Huaihai Lu, das ist die prächtige Einkaufsstraße Shanghais, entlang, bis wir zu C&A kamen, wo wir einbogen. Nun ist C&A für mich nicht der Inbegriff einer Luxusmarke, aber beim Generalkonsulatsfest hatte ich den Ost-Chinavertriebsverantwortlichen für C&A in Süd-Ost-Asien kennen gelernt, der mir sagt, sie wollten im Billigkleiderland China als westliche Marke wahrgenommen werden. Bei einem späteren Bummel inspizierte ich die Herrenabteilung genauer und war währenddessen der einzige Kunde im Laden (bei der Damenkonfektion ging es etwas lebhafter zu). Alles war aus Baumwolle zu europaähnlichen Preisen. Vom Modegeschmack, der sich in China selbst von einem Banausen wie mir erkennbar vom europäischen unterscheidet, habe ich keine Ahnung und kann die Auswahl deswegen nicht beurteilen.
Fresstempel
Wir waren im Qian Xiang Ge (Ostprovinz Qian-Wohlgeruch-Pagode)-Restaurant im C&A-Gebäude und es war das schönste und am geschmackvollsten eingerichtete, das ich bisher gesehen habe. Die Speisenauswahl war natürlich allerfeinst und es kamen seltener kredenzte Sachen auf die Drehscheibe.
Unter anderem Abalone, die aussieht wie eine Muschel, aber eine Schnecke ist. Sie ist bei und wegen des grünlichen Perlmuttschimmers als Schmucklieferant mehr bekannt als wegen des Wohlgeschmack ihres Fleisches (kein Wunder, sie und wächst in Europa auch nicht). Leider hatte ich die von mir geangelte Belegschale, die ich vor der Abfallabräumenden Kellnerin retten musste, zum Schluss dann doch vergessen mitzunehmen.

1688

Ein Zen-Spieler sorgte für dezente Life-Musik. Das Lokal ist allemal für einen besonderen Shanghai-Abend besuchenswerter als das verwestlichte Restaurant im 86. Stock des Jin Mao-Wolkenkratzers. Einen Preisvergleich kann ich nicht nennen, denn hier war ich eingeladen. Um acht war aber alles vorbei, wie üblich in China. Auf der Straße gab es Verabschiedungsszenen und jeder ging seines Weges (wie männliche chinesische Geschäftsleute ihre männlichen chinesischen Geschäftspartner zwecks Anbahnung eines Vertragsabschlusses bearbeiten, weiß ich nicht. Es heißt, dass wichtiger als die Verhandlungen das gemeinsame Essen sein soll. Und ob dazu noch ein anschließender Digestiv gehört, entzieht sich meiner Kenntnis.

JZ-Club
Mit zwei Kollegen war ich anschließend im JZ-Club (einem in Shanghai und in der Szene darüber hinaus renommierter Jazz-Club) in der Fuxing Xi Lu verabredet, wo wir um 21.00 Uhr eintrafen. An der Tür wurden wir von einem Türsteher kontrolliert – der sich vor lauter Überraschung und Ehrerbietung beinahe überschlug: es war einer meiner Studenten und mir war sofort klar, weswegen er so oft in den Vorlesungen durch Abwesenheit geglänzt hatte und seines Postens als Klassensprecher enthoben wurde. Vielleicht kann er in diesem Beruf mehr verdienen, als als Maschinenbauingenieur. Er stellte mich sofort seinem Onkel vor, der irgendwie etwas mit dem Geschäftsbetrieb des JZ-Clubs zu tun hatte. Der Onkel war selber Ingenieur (gewesen) und versuchte mit mir mit ein paar Brocken Russisch, die wir beide drauf hatten, über Brennstollzellen zu parlieren. Vom JZ-Club hatten wir beim Generalkonsul erfahren, denn er hatte die Bigband des Clubs für den Empfang anlässlich des Tags der Deutschen Einheit engagiert gehabt. An diesem Wochenende war John Jorgenson mit seinem Quintett im Hauptprogramm angekündigt. Der Gitarrist John Jorgenson ist Gründungsmitglied der Desert Rose Band, der Hellecaster und war sechs Jahre lang Mitglied in der Band von Elton John. Außerdem hat er Django Reinhardt im Film Head in the Clouds gespielt. Diesen brillanten Studiogitarristen hatte mein musikalischer Professorenkollege entdeckt und ich war gespannt. Bis 22.00 Uhr mussten wir warten, dann ging das Vor-Programm los.

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Es war eine Spitzenband die zuerst Musik mit einem turkmenischen Einschlag spielte und dass edle Gitarrenmusik aus Spanien und das Publikum eine Stunde und 15 Minuten richtig begeisterte. Inzwischen war die Bude voll, fast nur Langnasen, denn Jazz ist nicht traditionell Chinesisch. Es war ein Szenetreff für Expats, die keine Kinder haben. Vor dem Hauptprogramm hatte ich auf dem Weg zur Toilette auf Jorgensons Konzertankündigungsplakat entdeckt, dass er gestern und morgen auftreten würde, heute aber eine Latino-Bigband dran war. Die waren auch sehr gut, sehr laut und stilistisch ganz anders. Etwas ernüchtert verließen wir um Mitternacht den Schuppen, mit dem festen Vorsatz morgen dann wirklich bei Jorgenson vorbei zu schauen. Der JZ-Club ist eine merkenswerte Adresse, wenn man in Shanghai nachts was nettes unternehmen will: 46, West Fuxing Rd (near Yongfu Rd), Shanghai 200031, China.

Angenehmer Homerun
Vor der Tür wimmelte es an Taxis, weil die ganzen Expats normalerweise in den Vororten Shanghais wohnen und lukrative Kunden sind. Ich machte mich auf dem Fahrrad auf den kurzen Heimweg und glaube, dass eine Innenstadtwohnlage mir gemäß ist. Wie schön, dass mein Hotel so zentral liegt. Auf der Rückfahrt fiel mir auf: es wird Herbst. Blätter von den Platanen sammelten sich auf dem Boden, weil inzwischen die Straßenkehrer mit ihrem Tagwerk aufgehört haben. Wenn es die nicht gäbe, wäre Shanghai innerhalb einer Woche total vermüllt, denn jeder schmeißt alles einfach auf die Straße. Aber es war so ein herrlicher Sommerabend nach Hamburger Maßstäben, dass ich das viel mehr genoss als anderes mich störte. Ich kam rundum ganz zufrieden zu Hause (so heißt mein Hotelzimmer inzwischen) an.

Erkenntnis des Tages: An manchen Tagen ballen sich die interessanten Erlebnisse; da muss ich ausnutzen, was sich mir bietet.

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