Dienstag, 30. September 2008

Abends im Yu Yuan

Mein Tagebuch
Mich aufzuraffen, mein Tagebuch zu schreiben, fällt mir zunehmend schwerer; es geht viel Zeit dafür drauf, denn wenn ich mal angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören. Nachdem in Hamburg das Semester gestartet hat, kommen jetzt Anfragen, die ich hier beantworten muss: Studierende wollen, dass ich ihre Studien- und Diplomarbeiten und Praxissemesterberichte von hieraus lese und kommentiere, Artikel für die Freundeskreiszeitung des Departments Maschinenbau und Produktion sollten längst geschrieben sein, die Informationsblätter für den Studiengang, für den ich verantwortlich bin, müssen redigiert werden – das sind alles Tätigkeiten, die ich tatsächlich auch von Shanghai aus termingerecht erledigen kann – Undank der modernen Telekommunikation. Dazu kommen noch die gesellschaftlichen Institutionen, in denen ich zu Hause eingebunden bin. Komisch, meine Kollegen hier kommen irgendwie entspannter davon, einer sagte sogar, er habe, außer privatem, überhaupt keinen Kontakt nach Hamburg. Deswegen habe ich heute viel Zeit am Tag für meine „Hausaufgaben“ eingesetzt – und es ist auch ein gutes Gefühl, wenn wieder etwas abgeschlossen ist. Wenn ich in meinem Hotelzimmer aufräume oder andere Tätigkeiten vollbringe, die meine geistige Konzentration nicht herausfordern, dann lade ich zum Beispiel die Nachrichtenzusammenfassung von NDR-Info ("Das war der Tag") als Podcast herunter und lausche eine halbe Stunde lang, was es in Hamburg und der Welt an neuen Nachrichten zu vermelden gibt. Deswegen bin ich ziemlich auf dem Laufenden – Dank der modernen Telekommunikation.

Marktforschung
Heute habe ich einen Erkundungsgang in verschiedenen technischen Kaufhäusern durchgezogen, denn meine Kinder haben einige spezielle Wünsche geäußert, und ich muss mir einen Marktüberblick verschaffen, was auf einem Gebiet des Fremdinteresses gar nicht so einfach ist. Das Alter meiner Kinder, in dem ich mit einem kuscheligen Stofftier und einer aufregenden Schokolade noch zum unfehlbaren, besten Papa in der Welt gekürt werden konnte, ist leider schon lange vorbei. Die Sucherei war auch ziemlich zeitaufwendig, aber ich habe das mit einer gewissen Genugtuung gerne getan und bin vorerst mit einem Bündel von Nachfragen nach Hause gekommen.


Rote Fahne
Am Abend wollte ich mir das Feuerwerk anschauen, von dem behauptet wurde, es würde am Vorabend des hiesigen Nationalfeiertages abgebrannt werden. Hin und wieder hört man auch an anderen Tagen ein inhaltlich nicht zuordenbares Knattern abbrennender Chinakracher, aber heute gab es den ganzen Abend nicht mal das zu hören, geschweige denn etwas zu sehen .Allerdings, es hängen in der ganzen Stadt jetzt viele chinesische Nationalflaggen (五星红旗, wǔxīng hóngqí, fünf-Stern-rot-Fahne). an den Laternenmasten und einige Autos sind mit ebensolchen in kleiner Ausführung geschmückt. Das Rot des Fahnentuches steht für das Blut der Märtyrer (rot ist aber auch die traditionelle chinesische Glücksfarbe: was für ein Glück für die Kommunisten!), der große fünfzackige Stern für die das ganze Land beschützende Kommunistische Partei und die vier kleinen, auf den großen ausgerichtete Sterne für die vier neuen Stände (Arbeiter, Bauern, Kleinbürger, patriotische Geschäftsleute) des klassenlosen Chinas Mao Tsetungs. Die Bedeutung der Fahnenzeichen kenne ich jedoch besser als alle Chinesen, die ich danach gefragt habe. (Kleine Frage am Rande zum bevorstehenden Tag der Deutschen Einheit: wofür steht schwarz-rot-Gold? Warum liegt der Tag der Deutschen Einheit genau auf dem 03. Oktober?)

Kommunismus
Mein Bild vom chinesischen Kommunismus stammt aus meiner Studentenzeit Mitte der Siebzigerjahre, als die Worte des großen Vorsitzenden Mao an unserer Uni in Karlsruhe in den Hörsälen kontrovers diskutiert wurden. Heute ist die Kommunistische Partei Chinas im marxistisch-leninistischen Sinn im Staat nicht mehr ideologieprägend. Das Land wird zwar noch immer von ihr regiert, aber die kommunistische Politik hat sich, weil ohne Umbruch verlaufend, nur unmerklich, aber ganz erheblich verändert. Das Wort „Kommunismus“ wird sehr wenig benutzt. Stattdessen wird von einer "Harmonischen Gesellschaft" gesprochen. Außerdem sorgen die Leute sich eigentlich mehr um ihre wirtschaftliche Entwicklung. Beim Thema Wirtschaft ist es noch schwerer zu sagen, ob sie kommunistisch oder kapitalistisch ist. Zahlreiche Unternehmen sind privat, wichtige Industrien gehören jedoch dem Staat, zum Beispiel Öl, Stahl, Bahn. Übrigens gehört aller Grundbesitz in China dem Staat.

Religionsfreiheit
Mich interessiert natürlich, wie es um Meinungsfreiheit, speziell um die Religionsfreiheit, bestellt ist. Die Volksrepublik China ist ein laizistischer Staat und nach mehr als einem halben Jahrhundert kommunistischer Herrschaft bekennt sich die Mehrheit der Chinesen zumindest offiziell zu keiner Konfession. (Vergleichbar mit den Deutschen in den Neuen Bundesländern). Zahlen zur Konfessionszugehörigkeit zu bekommen ist problematisch, weil im asiatischen Kulturkreis es normal ist, sich zu mehr als einer Religion zu bekennen.
In der Verfassung der Volksrepublik China ist der Schutz der Religion von Anfang an verankert gewesen, so lange diese durch den Staat legitimiert ist, worunter verstanden wird, dass die Religion nicht zu konterrevolutionären Tätigkeiten missbraucht wird, die Religionsausübung die öffentliche Ordnung nicht stört und die religiösen Aktivitäten durch keine ausländische Macht kontrolliert werden. Anerkannte Religionen werden akzeptiert und sogar gefördert. Wenn ich abends (um kurz vor sechs wird es jetzt dunkel) hier durch das Wohngebiet fahre, leuchten in ganz vielen Geschäften zwei rote Glühbirnen vor einem Opferschrein mit einer Gottheit, der frisches Obst geopfert wird. Offiziell werden in der Volksrepublik China heute fünf Religionen anerkannt: der Daoismus, der Buddhismus, der Islam, sowie das evangelische und katholische Christentum. Nicht von der Regierung anerkannt wird der als Aberglaube bezeichnete chinesische Volksglaube, der, weil er keine Organisation, keinen Klerus und keine Theologie hat, nur schwer zu fassen oder zu kontrollieren ist.
Als chinesischen Volksglauben bezeichnet man das Gemisch aus teils religiösen und teils nicht-religiösen Praktiken, das in allen von Chinesen bewohnten Gebieten verbreitet ist. Er vereint Elemente von Ahnenverehrung, lokalen Kulten, Buddhismus und Taoismus, Konfuzianismus, Aberglauben, Geomantie und Fengshui in sich. Es gibt sehr viele geographische Variationen und Besonderheiten. Die Bezeichnung chinesischer Volksglaube ist eine Bezeichnung, die auch nur im Ausland verwendet wird, denn es gibt keinen chinesischen Terminus dafür, er ist einfach Teil der chinesischen Kultur. Selbst bei der Planung der modernen Wolkenkratzer in Pudong wurden Fengshui-Berater hinzugezogen. Das gibt es übrigens auch in Deutschland in einigen Gemeinderäten.
Die durch die Regierung anerkannten Religionen unterliegen der Kontrolle und dem Management durch das Amt für Religiöse Angelegenheiten, welches direkt bei der Zentralregierung in Peking angesiedelt ist und Zweigstellen im ganzen Land unterhält. Dies betrifft ganz stark das katholische Christentum, das als ihr Oberhaupt offiziell nicht den Papst in Rom, sondern die kommunistische Regierung in Peking betrachten muss. Deshalb sind in der Volksrepublik China nur die sich dem Staat unterordnenden "patriotischen" Kirchen, etwa die Chinesische Katholisch-Patriotische Vereinigung, erlaubt. Diese Kirchen akzeptieren, dass in gesellschaftlichen Streitfällen, wie zum Beispiel Empfängnisverhütung oder Abtreibung, die Linie der Kommunistischen Partei Chinas und nicht die Enzyklika des Papstes für China entscheidend ist. Die römisch-katholische Kirche ist deswegen offiziell verboten. Dass die chinesische Regierung dem Christentum besonders skeptisch gegenüber steht, hat auch historische Ursachen. So bezogen sich die Führer des Taiping-Aufstands der mit 30 bis 50 Millionen Opfern zum blutigsten Bürgerkrieg der Geschichte wurde, auf die Bibel und das Christentum. Die christlichen Missionare waren ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreich in ihrer missionarischen Tätigkeit, wurden dabei allerdings durch die militärische Macht des Westens unterstützt und behalten deshalb bis heute ihr Image, ein Werkzeug der Imperialisten zu sein. Offizielle Politik ist es, das Christentum soweit zu tolerieren, als es von Chinesen dominiert wird. Ausländern ist jede missionarische Tätigkeit untersagt. Personen, die etwa Bibeln in die Volksrepublik schmuggeln wollten, wurden wiederholt ausgewiesen. Die heutige christliche Mission wird maßgeblich von evangelikalen Gruppen aus den USA getragen. Da ist Ärger vorprogrammiert.
Der in Deutschland oft als chinesische Meditations-, Konzentrations- und Bewegungsform zur Kultivierung von Körper und Geist missinterpretierte Falun Gong ist eine in China entstandene, neue religiöse Bewegung auf der Basis von Qi Gong, wurde erstmals 1992 in der Volksrepublik China in der Öffentlichkeit vorgestellt und hat sich seitdem weltweit verbreitet. Dieser Gemeinschaft wird vorgeworfen, unter anderem öffentliche Selbstverbrennungen zu propagieren. So kam es seit 1999 in China zum Verbot und darauf folgender staatlicher Verfolgung.
Der nicht als Religion geltende Konfuzianismus bestimmt bis heute die moralischen Verhaltensweisen der Chinesen, obwohl er speziell unter Mao Tsetung schwer bekämpft wurde.
Yu Yuan
Ich bin in den geschäftigen Yu Yuan Garten geradelt, um dort ein bisschen von der Atmosphäre mitzunehmen, das abendliche Treiben zu beobachten und einen Happen zu essen. Schön, aber teilweise auch an der Grenze zum Kitschigen beleuchtet, sind die im ganz traditionellen chinesischen Stil neu gebauten Häuser dort anzusehen. Das zentrale Teehaus ist baugleich noch einmal nacherrichtet worden, und gerade in der letzten Woche wurde es feierlich eingeweiht. Der zweite Bau steht direkt am Völkerkundemuseum in Hamburg und ist ein Geschenk der Stadt Shanghai an ihre deutsche Partnerstadt.


Ich bin an einem im McDonalds-Stil aufgemachten chinesischen Pendant riesigen Ausmaßes vorbeigegangen und habe in einem Lokal gegessen, das ich chinesischer fand. Dort wurde ich als Einzelperson an einen größeren Tisch gesetzt, an dem drei Chinesen saßen, die offensichtlich Touristen aus einer fernen, anderssprachigen Provinz in der faszinierenden Großstadt und von eher derbem Benehmen geprägt waren. Es war interessant, hier Feldstudien zu machen. Ab 21.00 Uhr wurden langsam, einer nach dem andern, die Geschäfte geschlossen und die Betriebsamkeit verlief sich allmählich. Ab 22.00 Uhr wurden in der Stadt die grellen Leuchtreklamen und Gebäudebeleuchtungen abgeschaltet. Kein Feuerwerk weit und breit. Die Chinesen gehen rechtzeitig zu Bett – auch am Vorabend des Nationalfeiertages.


Erkenntnis des Tages: Meine ideologischen Erwartungen haben sich trotz besten Bemühens bisher noch nicht erfüllen lassen.

Montag, 29. September 2008

Ferienbeginn

Mein erster Ferientag begann, nicht anders zu erwarten, trüb. Nicht kalt, nicht regnerisch, aber auch nicht sonnig. So fiel es mir nicht schwer, den Vormittag mit Arbeiten am Computer zu verbringen. So eine Ferienwoche ist in China wichtig, denn die Chinesen haben bislang in der Regel noch keinen individuellen Urlaub, wie wir das als selbstverständlich ansehen. Deswegen wird an solchen zusammenhängenden freien Tagen viel verreist. Die chinesischen Kollegen von der Uni sagten allerdings, hauptsächlich würden sie die Feiertage in der Familie mit ihren Kindern (Singular) verbringen. Erst als ich mitkriegte, dass bei gut ausgebildeten jungen Paaren in der Regel beide berufstätig sind und das Kind normalerweise bei der Oma wohnt, konnte ich in etwa ahnen, was sie meinten. Wenn eine Frau wegen Konjunkturschwäche arbeitslos war, bekommt sie mit 55 Jahren ihre Rente, sonst, wie auch bei den Männern, ist 60 das Renteneintrittsalter. Lediglich die Professoren arbeiten bis 65, woran man die schonende Belastung dieses Berufsstandes ablesen kann. Mit zunehmender Überalterung der chinesischen Gesellschaft wird man das Rentenmodell sicher noch dramatisch anpassen müssen.


Vergnügungsviertel
Am Nachmittag fuhr ich mit ein paar Papier-Ausdrucken mit gezeichneten Schneiderpuppen und eingetragenen Maßen zu meinem Schneider und bestellte für meine Familie ein paar schicke, ausgefallene Sachen. Ich glaube, ich habe dem Monatsumsatz des Schneiders einen ganz nachhaltigen Aufschwung gegeben.
In der Nähe seines garagengroßen (unsere Garage in Hamburg ist größer) „Ateliers“ liegt das Liu Li Gong Fang Museum, wo Bleiglaskunst gezeigt wird und das jeden Abend in einen Kunstsalon verwandelt wird mit Farblichtspielen, folkloristischer Musik, erfüllt von Kaffeeduft; leider musste ich mir das entgehen lassen: geschlossen. Direkt daneben in der nächsten Querstraße liegt das Shanghai Xintiandi, ein geschlossenes Stadtviertel mit diesem Namen, das in einer Rekonstruktions- und Modernisierungsaktion erhalten und umgebaut wurde. Jetzt beherbergt es lauter kleine (teure) Läden, internationale Restaurants und westliche Straßencafes (auch eine Paulaner Brauereischänke ist dabei; es mutet schon befremdlich an, lauter schlanke, schwarzhaarige chinesische Serviermädchen in Dirndln herumlaufen zu sehen) und ein Multiplexkino, wo nur chinesische oder chinesisch synchronisierte internationale Filme laufen. Es war schick hergerichtet, aber hatte kein chinesisches, sondern ein internationales Flair (verbunden mit entsprechendem Preisniveau). Das war also nix für mich. Dabei empfände ich zu Hause ein so eingerichtetes Viertel als Deutsch. Dahinter steckt wohl Gewöhnung: Die Amerikaner halten Pizza für eine amerikanische Erfindung und die Deutschen Kinderschokolade für eine deutsche – aber, wer hat’s erfunden? In diesen beiden Fällen waren es die Italiener.


Wohnen in Shanghai
Im Xintiandi-Komplex gab es als Reminiszenz an die alte Zeit das kleine Shanghai Shikumen Wulixiang-Museum, das mir sehr gut gefallen hat. Es waren nur wenige Besucher dort und nur Europäer. Shanghais Shikumen-Häuser sind das südliche Gegenstück zu den typisch Pekinger Innenhof-Häusern, Hutong genannt. Ab 1870 (also nach der besatzungsgleichen europäischen Einflussnahme in Shanghai) wurde dieser chinesisch und westlich beeinflusste Bebauungstyp weitflächig eingeführt und war für ein Jahrhundert die beherrschende Wohnarchitektur, um die dichter werdende urbane Bevölkerung als Kernfamilien (Vater, Mutter, eigene Kinder, eventuell die Großeltern) mit ihrem Dienstpersonal aufzunehmen. Das war ein Wandel, denn vorher war die übliche Lebensform die Mehrgenerationen-Großfamilie mit vielen Angehörigen und entsprechend hohem Flächenbedarf, der nur auf dem Land zu haben war. Heute leben immer noch ca. 2 Millionen Shanghaier in Shikumen-Gemeinschaften. Shikumen heißt Stein-Tor und beschreibt den Eingang des Hauses in der Wulixiang-Siedlung, wobei Wulixiang in Shanghaier Dialekt für „Heim, zu Hause“ steht. Die Häuser stehen dicht an dicht innerhalb eines großen, gegen die Straße mit einer Mauer abgeschotteten Wohnblocks und sind durch ganz lange, schmale Gässchen miteinander verbunden, die Lilong heißen und im Shanghaier Dialekt Longtang genannt werden. Dort auf den Gassen spielte sich das soziale Leben der Siedlungsgemeinschaft ab – und tut es auch noch heute in den bewohnten Bereichen. Die Steintore hatten zwei solide 5 bis 8 cm starke schwarz gestrichene Holztüren mit Bronze- oder Eisenringen. An den Torabmessungen und Säulengrößen wurde der Sozialstatus der Besitzer abgelesen. Benutzt wurden diese Eingänge aber nur bei wichtigen Anlässen; sonst verließ man sein Haus, wie es in Shanghai üblich war, durch die hintere Küchentür. Eine Familie bewohnte ein Haus auf mehreren Etagen in aus meiner Sicht beengten Verhältnissen. Hinter dem Steintor betrat man den vorderen Innenhof, den man sich mit einer Fläche von vielleicht 3 mal 4 Meter vorstellen muss. Dieser diente dazu, Tageslicht und Luft hereinzulassen und als ruhiges Plätzchen, wo man im Sommer ein kühles Lüftchen und im Winter wärmende Sonnenstrahlen genießen konnte. Er diente auch als Durchgangsraum und akustische Abschottung zwischen der geschäftigen Gasse und dem Privatbereich.

Von dort aus ging es in den wichtigsten Raum des traditionellen Shikumen-Hauses, den zentralen Empfangsraum für Besucher, der mit einer herausnehmbaren, durchbrochenen Holztür auch für größere Empfänge (Familienfest, Hochzeit, Trauerfeier) in Kombination mit dem Innenhof genutzt werden konnte. Ausgestattet ist ein chinesischer Empfangsraum immer mit mehreren Sitzgruppen, bei denen stets zwei Stühle oder Sessel mit einem Tisch(chen) dazwischen nebeneinander stehend angeordnet sind. Außerdem sind die Tafeln zum Ahnengedenken in diesem Raum aufgestellt. Weiter im Haus wurde die typische Einrichtung der Zimmer im Stil der 1930er-Jahre gezeigt, die mich teilweise an das erinnerte, was ich von meinen Großeltern noch kannte. Das kleinste Kämmerlein im dritten Stock wird Tingzijian genannt, war für das Dienstpersonal vorgesehen und war im Winter bitterkalt (Heizung gab es und gibt es bis heute nirgendwo in China südlich des Yangtse-Flusses) und im Sommer schwülheiß. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts zogen dort oft arme Literaten und Künstler ein, die einen eigenen Literaturstil entwickelten: die Tingzijian-Literatur.

Schöner Wohnen in Shanghai
Heute werden diese inzwischen arg heruntergekommenen Viertel beseitigt, um Platz für Hochhäuser zu schaffen, die mehr Menschen in größeren Wohnungen unterbringen – sofern es sich nicht um chinesische oder ausländische (Fehl-)Spekulationsobjekte handelt, deren fehlende Bewohnung vor allem nachts auffällt. Chinesen lieben Wortspiele: Wörter können gleich klingen, aber eine unterschiedliche Bedeutung (und dann natürlich auch ein unterschiedliches Schriftzeichen) haben. Das englisch ausgesprochene „China“ klingt wie Chai na!, und bedeutet „Reißt alles ab!“ In den Wohntürmen ist das Leben anonym. Nachbarn pflegen kaum noch Kontakt, und ein Ausweichen auf Hof und Gasse, wie in den alten Wohnvierteln im Sommer üblich, ist dort nicht mehr Brauch und geht vom Platz her auch gar nicht. Und so mancher, der aus beengten Verhältnissen in eine aufwändig ausgestattete Wohnanlage zieht, muss sich erst langsam an das neue Leben gewöhnen.


Wie alles begann
Direkt nebenan, über die Straße rüber, ist die Kultgedenkstätte, wo 1921 der Gründungskongress der Kommunistischen Partei mit 13 Abgeordneten aus ganz China konspirativ stattgefunden hat. In einem Museum nebenan (die Eintrittskarte erhält man kostenlos) mit zusammengesammelten alten Sachen, die irgendwie grenzwertig mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht werden können (das streng verbotene Fotografieren wird von zahlreichen Uniformierten streng überwacht; was ich, nachdem ich fotografiert hatte, auch gezwungenermaßen streng beachtet habe), ist ein Wachsfiguren-Diorama mit lebensgroßen Puppen aufgebaut. Alle Delegierten sitzen am Tisch, nur der junge Mao Tsetung steht mit ausladender Armbewegung da. Ich habe gelesen, Mao sei an diesem Datum gar nicht in Shanghai, sondern in Changsha, Hauptstadt der chinesischen Provinz Hunan, gewesen. Jedenfalls stellt die Kommunistische Partei ihn in ihrem Huldigungstempel in den Mittelpunkt.

Heerscharen von Chinesen pilgerten mit echter Andacht durch diese Räume, und kurz vor dem Ausgang konnte ich noch einen Blick in den Originalraum des ersten mehrtägigen Kongresses werfen. Damals war das geheime Treffen aufgeflogen, weswegen der eigentliche Parteigründungsakt auf einem (nicht mehr existenten und damit nicht mehr verehrbaren) Ausflugsboot auf einem nahen See (der ganz genaue geografische Ort ist auch nicht überliefert) stattgefunden hat. Auf der Straße ließen sich alle Gläubigen an der Tür, die direkt vor der Originalstätte liegt, fotografieren. Am besten hat mir ein sehr alter Mann gefallen, der, wie weiland Erich Honnecker vor seinem Abflug ins chilenische Exil, mit erhobener linker Faust für Foto den Sieg der guten Sache proklamiert hat.


Japan in China
Am Abend machte ich mich mit meinem verbliebenen Kollegen (die anderen beiden sind für drei Tage zu einer Mietfahrradtour auf eine Insel im Mündungsdelta des Jangtsekiang gereist, was mich nicht sehr verlockt hat), mit Jacket bekleidet auf dem Fahrrad auf zur „Shanghai International Piano Academy of Shanghai Conservatory of Music“ losgezogen. Bevor das Konzert begann, wollten wir noch einen Happen essen, was dort in der Nähe wegen des Mangels an Gaststätten nicht wirklich leicht zu realisieren war. Wir kehrten in einem japanischen Restaurant ein, wo alle nebeneinander in einer Reihe saßen und direkt vor einem das Essen auf rieseigen Edelstahlplatten zubereitet wurde. Das gefiel meinem Kollegen, weil er beim Essen ziemlich heikel ist, und nicht gerne blind auf das vertraut, was serviert wird. Das Essen war eine Mordsschau, hat gut geschmeckt, war etwa doppelt so teuer wie das Essen in einem normalen chinesischen Restaurant und ich kann sagen, ich habe in China inzwischen schon viel gegessen, aber noch nie so wenig wie dort.
Die Konzertkarten waren ein Geschenk vom Joint-College, das spontan am letzten Tag vor den Ferien überreicht wurde. Die beiden verreisten Kollegen waren ob der ungeplanten Terminverfügung, die wir hier immer wieder erleben, etwas verschnupft, denn sie konnten an diesem Kulturereignis wegen ihrer geplanten Tour nicht teilnehmen.

Klavierkonzert
Mein Kollege und ich hatten einen sehr guten Platz ganz außen rechts in der letzten Reihe. Dadurch konnte ich nicht nur das Konzert genießen, sondern wunderbar das ganze Geschehen der Konzertbesucher überblicken. Die oben genannte Academy unterstützt und fördert Klavierkünstler und deswegen gab es heute ein Gastkonzert des Israelischen Virtuosen russischer Abstammung, Victor Stanislavsky, der zwei Werke aus der Romantik von Franz Schubert vor der Pause, danach ein Opus von Frederic Chopin nach der Pause und zum Schluss von Robert Schumann die Humoresque, Opus 20 spielte. Die Akustik der Konzerthalle war auch ganz dahinten ausgezeichnet, wenn man davon absieht, dass es guter Brauch in China ist, die Schleimhautbehaftung der Nasennebenhöhlen durch Erzeugung eines Unterdrucks zu lösen zu versuchen, was in hartnäckigen Fällen meist nicht gleich beim ersten und oft auch noch nicht beim zehnten Mal gelingt. Außerdem verfügt der menschliche Schädel über eine Vielzahl von Nebenhöhlen, die alle einzeln ausreichend gepflegt werden wollen – und schließlich lässt sich diese Verrichtung in Gemeinschaft viel angenehmer vollbringen als ganz alleine. Ich freute mich über das Kulturgut chinesischen Körperbeherrschung („begnadete Körper“) und stellte mir vor, wie es mir wohl als Fremdem in einer Volksgemeinschaft ergehen müsste, in der es gesellschaftsfähig sei, als Ausdruck ehrlich gemeinter Befreiung, den Abdonimalbereich vom peinigenden Druck der die natürliche Verdauung begleitenden Gasbildung zu entlasten. So gesehen, habe ich es gut erwischt.
Im abgedunkelten Saal leuchteten ständig die Displays von Fotoapparaten, mit denen aus dreißig Metern Entfernung mit dem in der Kamera eingebautem Miniblitz die Romantik der Situation des Konzertes für die Nachwelt konserviert werden sollte. Bereichernd war auch die Vielfalt der mir noch unbekannten Handyklingeltöne, die für das fernöstliche Ohr Signal sein sollen, hurtig mit der Außenwelt in Kontakt zu treten.
Nur wer sein Leben dem Klavierspiel widmet, wie Herr Stanislavsky, wird mit großer Freude und Bewunderung die Virtuosität und Harmonie des Vortrags von fast zwei Stunden lang auswendig vorgetragenem Klavierspiel richtig würdigen können. Fast die Hälfte der um mich herum sitzenden Konzertbesucher hatte sich daran erinnert, dass der Schlaf vor Mitternacht viel erholsamer sei, als der danach und zog daraus seine Konsequenzen. (Mir könnte sowas nicht passieren, denn spätestens bis zur Pause habe ich stets mein Kontingent an Erfrischungsbedarf ausreichend ausgeschöpft). Dementsprechend fit waren sie, um rechtzeitig den verdienten Applaus zu spenden, auch wenn sie das nicht besonders aufbrausend taten. Nach der Humoreske Nr. 20 war jedoch Schluss mit lustig, und manche eilten, noch bevor im Saal das Licht angeknipst wurde, dem Ausgang entgegen. Victor, nachdem er seinen Abgang schon zelebriert hatte, spurtete kraftvoll zurück auf die Bühne, um mit einer Zugabe das Großmaß seiner Fingerfertigkeit unter Beweis zu stellen. Den schwächer werdenden Applaus deutete er danach als erneute Aufforderung und brachte etwas kurzes Beschauliches zu Gehör.
Ein schöner Abend gehobener Kultur neigte sich seinem Ende zu

Erkenntnis des Tages: Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden (Wilhelm Busch, 1832 - 1908, nachdem er seine Erfahrungen in chinesischen Konzertsälen gesammelt hatte)

Sonntag, 28. September 2008

Sonntag - Arbeitstag

Lehrerfahrung
Der heutige Sonntag hatte von morgens bis abends seinen Namen voll verdient: strahlender Sonnenschein und wegen eines sanften Windes Temperaturen bei richtig angenehmen 26 °C. Leider war das das einzig angenehme an diesem Tag, denn ich hatte Vorholvorlesung zu halten, und das auch noch am Nachmittag. Den Vormittag hatte ich mit Schreibarbeiten verbracht und am Nachmittag eilte ich stramm durch meinen Stoff: das Umformfertigungsverfahren Walzen. Zum Schluss rechnete ich noch eine Übungsaufgabe vor und zwang bei der Lösungsfindung die Studenten sich zu beteiligen. Ich hatte die letzte Unterrichtseinheit vor der „Golden Week“, der Ferienwoche, die die meisten bei ihren Familien zu Hause verbringen. Wegen der Aussicht, schneller in die Ferien starten zu können, waren viele engagiert; einige jedoch, die ich namentlich aufreif, hatten die Aufgabe auf deutsch nicht richtig verstanden und Sprechblockaden beim antworten auf Deutsch. Eine zweite Aufgabe am Schluss der Stunde bot ich an, als Hausaufgabe daheim zu rechnen oder, für die Freiwilligen, direkt im Anschluss vorgerechnet zu bekommen. Die meisten wollten lieber „Hausaufgabe“ und pünktlichen Unterrichtsschluss. Also forderte ich diejenigen, die gehen wollten, auf, das zu tun – ich wartete – und keiner traute sich zu gehen! In Hamburg wären die Studenten gegangen und nur die an weiterer Übung echt interessierten wären geblieben. Nun hatte ich also eine Meute unwilliger „Freiwilliger“ vor mir. Ich entschloss mich also, ganz schnell den Rechenweg für alle sichtbar aufzuschreiben und die Vorlesung zu beenden. An den anschließenden Nachfragen Einzelner merkte ich, dass ihnen die Kniffeligkeiten nicht klar geworden waren. Meine als Angebot gemeinte Überzeit war als willkürlicher Zwang meinerseits aufgefasst worden, der schließlich nicht seinen beabsichtigten didaktischen Zweck erfüllte.

Andere Länder – andere Sitten
Ich hatte erfahren, dass der mir bei meinem Dienstantritt genannte Klassensprecher abgesetzt worden war und zwei andere, ein Mädchen und ein Junge diesen Posten bekleideten. Der alte Klassensprecher war mir, was seine Sprach- und Fachleistungen anbelangt, als schwach aufgefallen und er fehlte bisweilen, während die beiden neuen zur Gruppe der erfreulichen Studenten gehören. Auf meine Frage, wie die Neuwahl zustande gekommen sei, wurde mir erklärt, warum der Wechsel erfolgt sei – aber das war mir ohnehin klar. Ich präzisierte meine Frage und erfuhr, dass „der Führer“ die Ab- und Einsetzung vorgenommen hatte. Nachdem ich richtiggestellt hatte, dass diese Anrede in Deutschland nur einem zukäme und es zum Beispiel nicht angeraten sei, Frau Merkel mit Führer der Deutschen zu bezeichnen (meine Studenten nennen ihren Staatspräsidenten Hu Jintao, der zugleich Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas ist, den Führer der Chinesen), bekam ich das chinesische Pendant zur akademischen Selbstverwaltung in Deutschland mit: Einem Studienjahrgang ist ein Professor als „Klassenlehrer“ vorgesetzt, der über alle Belange der Studenten bestimmt. Von ihren chinesischen Professoren hören die Studenten über das gelehrte Fachgebiet hinaus keine Meinungsäußerungen („Mahnende Worte“, „Hinweise für’s Leben“, „Erkenntnisse und Wahrheiten“, so subjektiv sie auch eingefärbt sein mögen), also das, was im Westen unter „Freiheit der Lehre“ von den Professoren so idealistisch hochgehalten und von der Verwaltung so verständnislos ausgebremst wird. Chinesische Studenten haben ihren Weg an die Hochschule mit Fleiß, Auswendiglernen, Disziplin, Gehorsam und Guanxi (关系, guān xì, zumachen-System, das Netzwerk persönlicher Beziehungen, ohne das man hier keine geschäftlichen und persönlichen Erfolge erzielen und mit dem man alle Regeln und Gesetze aushebeln oder zumindest aufweichen kann) geschafft. Wenn ein deutscher Professor auf einmal in noch nie erlebter Weise nach Kreativität, Selbstbeteiligung, öffentlicher Meinungsäußerung und Widerspruch fragt, führt das ganz sicher auf beiden Seiten zu großen Akzeptanzproblemen. Das Shanghai-Hamburg-College ist seit vielen Jahren etabliert und trotzdem am Anfang der Chinesisch-Deutschen-Zusammenarbeit. Es ist auf vielen Gebieten noch viel zu tun.

Später telefonierte ich noch nach Hause, bis meine Telefonkarte aufgebraucht war. Das ist nicht zu teuer, ich kaufe immer eine 100 Yuan-Karte, für die ich 25 Yuan bezahlen muss; dafür kann ich etwa 20 Minuten nach Deutschland telefonieren. Manche Kollegen lassen sich täglich anrufen oder skypen; ich berichte mittels meines Internet-Blogs und tausche persönliche Gedanken per E-Mail aus. Inzwischen ist für mich Halbzeit. Natürlich möchte ich gerne hin- und wieder oder vielleicht auch öfter mit meiner Frau zusammen sein, aber ich finde, dass diese Lebenserfahrung in Shanghai zu wertvoll ist, als dass ich mich über die Trennung beklagen müsste. Außerdem: ich habe mich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und mit Zustimmung meiner Familie dafür entschieden und nutze die Zeit gerne aus.

Erkenntnis des Tages: Je besser ich China kennenlerne, desto weniger verstehe ich.

Samstag, 27. September 2008

Strahlender Sonnenschein

Tolles Wetter!
Heute war vom Morgen bis zum Abend der schönste Tag in all der Zeit, die ich jetzt hier bin: strahlender Sonnenschein, leichte Bewölkung, eine leichte Briese, kein Smog, Temperatur gleichbleibend bei angenehmen 26 °C, Regenwahrscheinlichkeit (und -tatsächlichkeit) 0%.


Feiertagsvorbereitung
Wie kommt das, heute ist doch Samstag? Ganz einfach: Heute hatte ich keinen freien Tag! Das liegt daran, dass nächste Woche „Golden Week“ ist, wegen des Nationalfeiertages am 1. Oktober. Dann ist der ganze Hochschulbetrieb geschlossen und auch sonst wird in öffentlichen Einrichtungen nicht gearbeitet. Einer der früher üblichen staatlichen arbeitsfreien Tage wurde seit diesem Jahr auf das Mondfest verlegt und deswegen wird vorgearbeitet, um doch noch auf sieben freie Tage am Stück zu kommen, die die Chinesen angeblich in vollen Zügen genießen – sofern sie auf landgebundene öffentliche Fernverkehrsmittel angewiesen sind und den Genuss nicht im Stau auf der Fahrt zur Familie im Bus oder Auto vorziehen.


Heute ist also der Montagsstundenplan drangewesen und morgen findet Unterricht nach Dienstagsstundenplan statt. Ich war zwar schon vor dem Mittag mit meinen Aufgaben durch, trotzdem blieb mir keine Zeit, das Wetter und den Tag zu genießen, weil ich einige termingebundene Schriftstücke solange vor mir hergeschoben hatte, dass ich heute und morgen mit dem Schreiben beschäftigt sein werde. Außerdem habe ich die Klausuren der ersten Teilklausur noch nicht korrigiert und muss die zweite Teilklausur auch noch fertigstellen. Aber auch arbeitend war der Tag schön: mit frischem Obst und duftendem, neu eingekauftem Tee saß ich das erste Mal ohne laufende Klimaanlage bei offenem Fenster in meinem Hotelzimmer den ganzen Nachmittag an meinem Laptop und gönnte mir zwischendurch sogar einen kleinen Mittagsschlaf.


Fein Speisen zur Kontaktpflege
Heute Abend war ich zusammen mit meinem Maschinenbauprofessorkollegen von acht unserer Studenten anlässlich des bevorstehenden Nationalfeiertages zum Essen in ein feines Restaurant eingeladen, wo eine vorher lang und breit diskutierte Auswahl an besonderen Delikatessen aufgetischt wurde.
Es gab lecker Hähnchen in der Casserolle geschmort, gekochte getrocknete Bambussprossen, schmackhafte Pilze, die ich nicht kannte, gekochten Ochsenfrosch in sehr scharfer Soße (das Fleisch hat gut geschmeckt, aber die Soße war mir zu scharf), große Garnelen in der einen Soße, kleine Garnelen in anderer Soße, eine besonders wohlschmeckende Entensuppe mit ganzer Ente, Tofu mit Krabbenmehl zubereitet, verschiedene Gemüse, fermentierte Tofuhaut, Rindfleischstreifen mit frischen, geschmorten Bambussprossen, kandierten Mais, gesüßten, roten Klebreis und weiteres, woran ich mich nicht mehr recht erinnere. Nur ein einziger faux pas ist mir unterlaufen: ich habe eine wunderschön zu einem Schmetterling zurecht geschnitzte Karotte genüsslich aufgegessen. Das Entsetzen spürend, dachte ich zuerst, es sei frevelhaft so ein optisches Meisterwerk der Kochkunst zu vernichten, aber nein! Das mache man nicht, wurde ich aufgeklärt, weil die Karotte roh und nicht gekocht sei. Ich verzichtete, mit der leisen Ahnung, es sonst nur noch zu verschlimmern, darauf zu berichten, dass rohe Karotten in Deutschland viel verspeist würden und dass das dort als gesund gelte. Mein Schweigen hat mich bestimmt davor bewahrt, als Barbar zu gelten.


Der Ernst des Lebens
In Deutschland ist es mir noch nie passiert, dass ich von Studenten eingeladen wurde – und ich bin mir nicht sicher, ob ich so eine Einladung überhaupt annehmen würde; zu leicht könnte das in den Verdacht der Bevorzugung bei der Notengebung führen. Auch hier sind das ja nicht alle unsere Studierenden, mit denen wir zusammen waren, sondern einige besonders agile, unter denen einer als der Motor und Treiber herausragt. Diese Studenten sind auch diejenigen, die fachlich und sprachlich als leistungsstark auffallen. Und sie haben es sich zu Marotte gemacht, alle deutschen Professoren, bei denen sie im Laufe ihres Studiums Vorlesungen gehört haben, zum Essen einzuladen. Mein Kollege, der ein ernster Mensch ist, hielt zum Schluss spontan eine mahnende Ansprache über das Lernen im Allgemeinen, die Gerechtigkeit des Professors bei der objektiven Notenvergabe und die Wichtigkeit, sich gründlich auf die kommenden beiden Klausuren von ihm und mir richtig vorzubereiten, denn sie seien ja die einzigen, die in nächster Zeit anstünden. Außerdem bestand er beredt darauf, aus Fürsorge um die schmalen Geldbeutel der Studenten, dass die Rechnung durch die Zahl der Köpfe geteilt würde. Sichtlich betroffen von seiner ganz und gar nicht scherzhaften Rede und zunächst sprachlos, stimmten alle ihm nach einer Weile zu und einer derjenigen, die in diesem Sommer zum Sprachunterricht in Hamburg gewesen waren, meinte, jetzt müsste jeder 6 Euro zahlen. Unter höflichen, gegenseitigen Dankesbezeugungen fand nun ein schneller Aufbruch statt, denn unter den Studenten hatte sich irgendwie die Überzeugung breit gemacht, heute Nacht unbedingt noch etwas für das Studium lernen zu müssen.

Erkenntnis des Tages: Das Leben besteht eben nicht aus Essen allen, auch wenn es ziemlich wichtig ist

Freitag, 26. September 2008

Shanghai Museum

Ein Musentempel für die Relikte der langen chinesischen Kulturgeschichte
Am Morgen hat es etwas geregnet, wegen meines Labortages gestern, bei dem ich die Studenten ganztägig beanspruchte, musste ich meine Vorlesungsstunden heute an einen Kollegen abtreten und hatte deswegen frei. Trotzdem bin ich früh aufgestanden, weil ich mit zwei anderen meiner Kollegen verabredet war; wir fuhren mit der Metro zum Olympia-Fussballstadion, von wo aus ein Busunternehmen Fahrten zu besonders attraktiven Orten anbietet. Unser Ziel war Zhouzhuang, ein großer, erhaltener, historischer Ort: täglich Busabfahrten um 8.30 Uhr, 9.30 Uhr und 10.30 Uhr. Um den letzten Bus ja nicht zu verpassen, trafen wir bereits um 9. 38 Uhr dort ein, um zu erfahren, dass heute leider wegen schlechten Wetters diese Fahrt ausfalle.


Zunächst konsterniert, entschloss ich mich, den Regentag im Schanghai Museum zu verbringen, und meine Kollegen schlossen sich an. Vor dem Museum baten uns drei junge Leute, sie zu fotografieren (was denn sonst?). Sie spannen uns in ein Gespräch ein, was häufig vorkommt, wenn jemand Englisch kann und die Gelegenheit zu Sprachübungen nutzen will. Es ging alles sehr freundlich und höflich zu und es stellte sich heraus, dass sie Touristen waren und aus Qingdao kamen. Von 1897 bis 1914 stand Qingdao (Tsingtau) als Hauptstadt des „Deutschen Schutzgebiets Kiautschou“ unter deutscher Herrschaft – ein Anknüpfungspunkt für das Gespräch. Sie wollten uns überreden, den Museumbesuch sausen zu lassen und mit ihnen den Tag zu verbringen. Ich glaube, das war ernst gemeinte, chinesische Gastfreundschaft.


Trotzdem ging’s ins Museum. Dort kostenloser Eintritt, dennoch Schlange wegen des Security-Checks wie auf dem Flughafen. Ich schaffte in drei Stunden etwa die Hälfte der Abteilungen und werde nochmal dorthin gehen.
Danach schlenderten wir zur Nanjing Lu, die als Mischung aus 5th Avenue und Broadway in New York und Oxfordstreet in London bezeichnet wird (für Harburger: wie die Lüneburger Straße, nur ein bisschen größer). Es ist die beliebteste Einkaufstrasse für Shopping in der Stadt. An der Kreuzung zur Xizang Lu findet man das Kaufhaus No. 1, welches das zweitgrößte Kaufhaus in China ist und welches wir durchstreiften: gleiches Preisniveau, wie in Deutschland, jedenfalls nicht wesentlich billiger. Neben dem Kaufhaus No. 1 wurde ein Ableger, das Dongfang, gebaut, das Waren auf 21 Stockwerken anbietet.


Der Mythen-Check im Selbsttest
Hier trennten sich unsere Wege, denn keiner wollte an meinem „BigMac-Test“ teilnehmen. Es heißt, am Preis für den BigMac könne man die wahre Währungsparität ablesen, jedenfalls soll das einmal so gewesen sein. Bei McDonald’s in China sieht es aus wie bei McDonald’s eben. Trotzdem ist die Bestellung schwierig, weil alles ausschließlich auf Chinesisch beschriftet ist. Auch in Deutschland hängt irgendwo in dem Burger-Restaurant die Preisliste der Einzelartikel, aber ich war hier nur in der Lage, anhand eines Werbefotos ein BigMac-Meal zu bestellen, bestehend aus BigMac, Pommes small und Cola small. Das wurde für 22,50 Yuan angeboten. Ich habe dann noch spezielle, landestypische Add-Ons geordert (in den USA wird mit der Familienfreundlichkeit der Restaurantkette geworben und garantiert, dass jede Niederlassung absolut alkoholfrei ist; trotzdem ist die nationale Spezialität in Deutschland das Bier, das man nur in unserem Vaterlande bei McDonald’s bekommt), das waren warme Maiskörner und ein Pfirisch-Sundae. Pfirsch-Sundae war aber „Mei you“ ausverkauft, weswegen ich auf internationales Strawberryaroma auswich. Kosten des Gesamtmeals 32,25 Yuan. Demnach stimmt die von mir gefühlte, mittlere Kaufkraftrelation von 1:10 nicht ganz, sondern liegt bei 1:5 bis 1:7. Meine persönliche Wohlfühlrelation zwischen McDonald’s-Essen und meiner inzwischen vierwöchigen Gewöhnung an chinesisches Essen, war sehr unangenehm zu Ungunsten von BigMac mehr nach Osten verschoben. Der Fleischklops lag mir irgendwie schwer im Magen. Von dort bis zum Ende alles Verdaulichen mag er jetzt anrichten, was er wolle. Jedenfalls hat sich meine Nahrungsumstellung auf das chinesische Essen in den letzten Wochen deutlich erkennbar bis zu diesem Point of no Return ausgewirkt. Zwei Unterschiede zum Ablauf bei McDonald’s fielen mir auf: Nach der Bestellung und dem Abschuss der Bezahlung, rückt man eine Schlangenposition weiter zur Seite und wird von Warenversorgungspersonal weiter betreut, während der Speisenauswahlberater an der Kasse den nächsten Kunden bedient. Sein Essen auszusuchen und zu bestellen geht in China eben überall immer ziemlich langwierig über die Bühne. Nach dem Essen lässt man sein Tablett mit den gesamten Abfallhinterlassenschaften einfach auf dem Tisch stehen und, schupp-di-wupp, wird es von einem der Abfallbeseitigung-und-Tischabwischbeauftragten entsorgt, die zuvor wie Geier auf die nächste Beute gewartet hatten. In Shnaghai ist Kentucky Fried Chicken wegen der Freude der Chinesen am Hühnerknochennagen viel verbreiteter als die Burger-Ketten. Und dann gibt es noch McKungFu, Bee Cheng Hiang und andere Fastfood-Nachahmer, die chinesische Esskultur der Amerikanischen entgegensetzen.


Ich bin begehrt
Mein Weg führte mich weiter die geschäftige Nanjing Lu, eine Fußgängerzone, entlang, und alle paar Meter klettete sich, ein paar Englischbrocken beherrschend, eine Person an mich an, um zu versuchen, mich in seinen oder ihren „Shop“ abzuschleppen, wo es Original Rolex-, Montblanc-, Gucci- , Louis Vuitton- und andere Imitate geben sollte. Am besten komme ich möglichst kurz belästigt davon, wenn ich gar nicht reagiere, mich weder umwende, noch Augenkontakt gewähre oder gar etwas sage. Ich sammelte Fotomotive und machte Aufnahmen. Etwas weiter östlich in Höhe der Fujian Lu betrachtete ich eine ausgezeichnete, öffentliche und umfangreiche Profi-Fotoausstellung über der Yu Yuan-Garten, die mir sehr gefiel. Ein Kunststudent aus Peking beherrschte die englische Sprache recht flüssig und suchte Kontakt mit mir, bis ich merkte, dass er mich zu seiner Kunst-Verkaufsausstellung abschleppen wollte und in Wirklichkeit eher Kontakt mit meinem Portemonnai als mit mir persönlich haben wollte. Noch ein Stück weiter die Nanjing Lu hinab wurde ich von zwei Mädchen angesprochen, die ich sofort etwas barsch anraunzte: „No watches, no bags!“ Spürbar beleidigt entgegneten sie mir, sie wollten mir doch gar nichts verkaufen, sie seien für Massage zuständig. Nun hatte ich endgültig die Nase voll und bog von der Nanjing ab, und sofort hörten die Anmacherangriffe auf. Zufällig kam ich an einer großen Passage mit lauter Antiquitäten und u.a. auch kostbaren chinesischen Teekannen vorbei, was jetzt mein latentes Interesse daran, schon mal in eine erwägenswerte Erwerbsabsicht gewandelt hat. Nachdem ich noch ein paar schöne Artikel in einem Schreibwarenladen gekauft hatte, trollte ich mich heim, um für den Rest des Abends meine Erlebnisse in Ruhe zu verarbeiten.

Erkenntnis des Tages: Die Lüneburger Straße in Harburg ist als Einkaufsmeile in mancher Beziehung doch nicht so schlecht wie ihr Ruf

Donnerstag, 25. September 2008

Schwäche des Labors

Auf zum Labortag
Heute war der groß angekündigte Tag des Labors. Dazu muss ich zuerst erklären, was gemeint ist. An der HAW in Hamburg legen wir sehr großen Wert darauf, dass die Studierenden nicht nur durch die angebotenen Vorlesungen und aus der eigeninitiativen Lektüre von Fachliteratur, sondern ausdrücklich betont auch durch die Durchführung von sogenannten Labors zu der im Curriculum vorgesehen theoretischen und praktischen Kompetenz in ihrem Studienfach kommen. Labors begleiten die Studierenden während ihres gesamten Studiums. In der Fertigungstechnik findet „das Labor“ oder, je nach Denkweise, finden „die Labors“ im dritten Fachsemester statt. Die Studierenden melden sich rechtzeitig vor Semesterbeginn an und werden in Vierergruppen eingeteilt, die während des Semesters vierzehntäglich für zwei Viertel, das sind 4 Unterrichtsstunden oder ein halber Tag, eine der Laboraufgaben durchführen; insgesamt sind das acht Veranstaltungen. Auf jede Aufgabe muss sich jeder Student der Laborgruppe gemäß einem in Internet downloadbaren Aufgabenskript gründlich vorbereiten und die Vorbereitung nachweisen, indem er auf gestellte Fragen zum Stoff erschöpfend antworten können muss. Unvorbereitete Studierende werden nicht zum Laborversuch zugelassen und müssen sich im nächsten Semester wieder von vorne der ganzen Prozedur mit Anmelden usw. unterziehen. (Da bereits in der ersten Veranstaltung klar wird, wie ernst die Vorbereitung genommen wird, kommen „Rausschmisse“ praktisch nur am Anfang des Semesters in Einzelfällen vor). Jede Vierergruppe wird von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter oder einem Professor persönlich betreut. Der vorgesehene Versuch wird von den Studenten weitgehend alleine durchgeführt. Nach jedem Versuch ist von reihum einem aus jeder Gruppe ein umfangreiches Protokoll zu schreiben, dass in der Regel in einer Nachbesprechung mit Korrektur- und vor allem Verbesserungstipps ein weiteres mal nachgearbeitet werden muss. Nur bei bestehen aller vorgeschriebenen Laboraufgaben wird die Note der Klausur Fertigungstechnik überhaupt anerkannt. Das ist ein ziemlich voluminöser Arbeitsumfang, durch den in Hamburg alle Maschinenbaustudierenden hindurch müssen, mit dem Ziel ein Höchstmaß am fachdidaktischem Gewinn zu erzielen. Genau auch von diesen Erfahrungen aus Hamburg soll das Joint-College profitieren und gibt ausdrücklich an, solche Laborpraxis in seinem Curriculum zu berücksichtigen. (Für einen zahlenmäßigen Vergleich ist nun noch zu berücksichtigen, dass ich in meiner Blockvorlesung Fertigungstechnik 1 in diesem Wintersemester den halben Stoffumfang, der in Hamburg in einem Semester dran ist, behandle. Die zweite Hälfte ist im folgenden Sommersemester dran).


Weit entfernt liegende Labors
Nun also zu meinem Bericht von Labor in Shanghai, wobei ich feststellen muss, dass für dieses Labor nur ein Vormittag und ein Nachmittag in Summe vorgesehen sind und dass beide Termine für dieses Semester auf den heutigen Tag zusammengelegt wurden. Die einzige Vorbereitung, die die Studierenden hier leisten mussten, war pünktlich um 8.15 Uhr zur Abfahrt des Busses auf dem Fuxing-Campus bereit zu stehen. Sie wussten weder, wo es hingehen, noch was dort geschehen würde und leider war auch ich nicht im Bilde, weil die vorbereitenden Laborassistenten des Jun Gong-Campus zwar meine Wünsche an Versuchen kannten, aber mich mit immer wieder neuen Informationen über machbares, nicht machbares und dann wieder nur anders machbares verwirrten; vielleicht ist das noch unter der Überschrift Kommunikationsmängel in der Fremdsprache Englisch erklärlich.




Bei herrlichstem Sonnenschein und klarem Wetter mit für die Jahreszeit etwas zu warmen 33 °C ging es pünktlich los. Da hätte auch ein Tag für Schwimmbad sin können. Ich genoss die Fahrt von meinem Sitz in der ersten Reihe aus durch den schönen Morgen und den zähen Verkehr. Ob alle Studierenden dabei waren, interessierte niemanden, denn eine Nichtteilnahme hat keine Konsequenzen für sie. Um 8.50 Uhr kamen wir endlich am vom Gouvernement eingerichteten und finanzierten riesengroßen Shanghai Vocational Training Center, das für Aus-, Fort- und Weiterbildungswillige aus vielen technischen Bereichen nach Anmeldung und Zahlung der nötigen Gebühren weit offen steht – Außer für Menschen, die keine langen Hosen und geschlossene Schuhe anhaben. Tennisschuhe zählen zum geschlossenen, festen Schuhwerk. Trotzdem hatten die meisten Studenten und alle Studentinnen, passend zum Wetter, entweder kurze Hosen oder Badelatschen oder beides an. Weil auch noch etwas in der Kommunikation schief gegangen und nicht bekannt war, dass wir zur Besichtigung bestimmter Fertigungsverfahren kommen würden, mussten zu erst organisatorischen Fragen geregelt werden. Das Training im Trainingscenter wird von einer chinesischen Firma im Auftrag der Regierung durchgeführt, die wiederum von Siemens in einem Joint Venture gecoacht und angeleitet wird. Und Siemens legt strengen Wert auf Einhaltung der Sicherheitsregeln, „That’s the rule!“, wurde mir erklärt: es sei ein Element des Lernprogramms, gleich von Anfang an mit aller Härte auf konsequentes Sicherheitsverhalten hinzuwirken. Für ganz billiges Geld könne man sich Hose und Schuhe kaufen – wenn’s ans Portemonnaie gehe, lerne man am nachhaltigsten. Gut so!, dachte ich. Ich hatte extra deswegen meine Lederschuhe angezogen und fühlte mich darin, weil es keine Sicherheitsschuhe sind, under dressed.



Beim Warten sah ich, dass wahrlich vorbildlich genügend Feuerlöscher vorhanden waren, mit denen man jeden Brand hätte auslöschen können. Eigenartigerweise waren sie alle an einem Platz beieinander im Treppenhaus unter der Treppe deponiert; vermutlich, damit die alle zwei Jahre vorgeschriebene Wartung praktischerweise kompakt an einem Ort abgewickelt werden kann und man die komischen Dinger nicht erst umständlich irgendwo in der Maschinenhalle suchen muss. Um 9.35 Uhr kamen unsere Badeschlappenträger zurück, wie sie gekommen waren, und wir wurden erst mal in einen Nebenraum zur Sicherheitsbelehrung geführt. Die führte der freundliche und energische chinesische Siemensmitarbeiter natürlich auf Chinesisch durch, trotzdem verstand ich vieles. Ganz oft hat er den Buchstabenkürzel „pie-pie-iih“ benutzt und ihn einmal mit Personal Protection Equipment übersetzt. Pantomimisch zeigte er an seinem Stoppelhaarschnitt, wie gefährlich es ist, wenn die langen Haare von Bohrfutter mitgerissen werden oder wie herumfliegende Späne schwere Verletzungen am Auge verursachen können.


Um 10.10 Uhr wurde unser 40 Studierenden Trupp dann zweigeteilt, und die anderen gingen in den dritten Stock zum Rapid Prototypen, was ich bestellt hatte. Unsere Halbgruppe ging an stillstehenden Kunststoffspritzgießmaschinen vorüber, unser Führer hielt an und erklärte Wortreich; ein Student, der neugierig näher an die Maschine heran trat (ich dachte, wenigstens einer, der nicht bloß in der Herde mitstolpert), wurde sogleich weggedrängt: keine Extratouren! Bei den Stanzautomaten (auch um deren intensive Besichtigung hatte ich gebeten, weil es dort keine Umformpressen gibt) wurden zuerst die hervorragenden Sicherheitssysteme lang und breit gepriesen: Lichtvorhang, Einzelhub-Zweihand-Bedienung, Schnellbremse (Der Lichtvorhang ist in einigem Abstand nur unmittelbar vor der Maschine angebracht und von allen Seiten aus umgreifbar; die Zweihandbedienung kann man mit Ellbogen und Hand eines Armes auslösen, was ich demonstrierte. So eine Presse würde die jährliche TÜV-Prüfung nicht überstehen, schon gar nicht, wenn sie in einem Lehrbetrieb steht). Die Stanzen waren wenigsten nicht ausgeschaltet, wie alle anderen Maschinen, aber ein Stück Blech war nirgends zu sehen. Kein Teil, an dem man mal hätte nachprüfen können, was denn beim Stanzen herauskommt und eine Fertigung schon gar nicht. Auf jeder Werkzeugmaschinenmesse wird mehr produziert als in diesem Trainingszentrum.

(Foto von mir im Einsatz wird nachgereicht)

Bei den Pressen habe ich mir herausgenommen, meine Studenten selber auf wichtiges hinzuweisen, sonst hätten sie die besten Sachen gar nicht mitbekommen.
Wir kamen an vier Schleifmaschinen vorbei, an denen junge Leute Schleifübungen machten (es läuft also doch was!). Unser Sicherheitsführer führte mich an die hinterste der vier Schleifmaschinen und zeigte mir, wie gefährlich diese Technik ist, weil eine tiefe Beule im 5 mm dicken Sicherheitsblech von der Schlagkraft eines aus dem Futter heraus gerissenen Werkstücks zeugte. Das hat mich nicht so sehr beeindruckt, wie die Beule in einem Sicherheitsblech direkt neben mir, die während meines Studium-Vorpraktikums bei der (damals noch existierenden) Firma Singer in Karlsruhe durch ein aus einer Schleifmaschine herausgerissenes Werkstück mit ohrenbetäubendem Knall erzeugt wurde. Aber das konnte mein Sicherheitsbetreuer natürlich nicht wissen. Auf meine Frage, warum die jungen Leute alle beim Schleifen keine Sicherheitsbrillen tragen würden, sagte er, die Gläser von den Sicherheitsbrillen würden nach längerer Zeit eintrüben, und nichts zu sehen sei noch gefährlicher. Und auf meine Frage, warum denn jetzt unsere halbnackten Studierenden doch mit Badeschlappen und kurzen Hosen überall mit herumlaufen dürften, sagte er wörtlich: „everything need communication; communication is very important. – and safty is very important.“
Wir liefen an den Stationen Messmaschinen, Kleinteile-Hochregallager, flexible Fertigung und Kunststoffgießen im Silikonformen vorbei, wechselten in den nächsten Stock, um wie eine Parteidelegation gemächlichen Schrittes staunend an zig DNC-Dreh- und Fräsmaschinen (von Fanuc, Pa, Haas, Gildemeister, Demag, und Mazak. Die Mazak-Maschinen dürfen vertraglich nicht nach außerhalb dieser Halle verbracht werden. Jährlich kommt ein japanischer Kontrolleur und fotografiert die Vertragseinhaltung) vorbei zu defilieren und kamen um 10.52 Uhr, noch einen Stock höher, im Raum für Rapid Prototyping an, wo der Gruppenwechsel stattfand. Ich habe manchmal den Eindruck, meine Studenten hätten als Berufsziel „defilierender Parteidelegierter“, weil sie damit den angemessenen Abstand zu den Maschinen des Maschinenbaus gewahren könnten.



Der mitgebrachte Laborassistent vom Jun Gong-Campus erklärte sehr wortreich wie das Rapid Prototyping funktioniert. Er war sehr engagiert, weil er, wie ich später erfuhr, vor seiner Zeit an der USST in einer RP-Firma gearbeitet hatte. Ich habe seine Worte nicht verstanden und fand es ziemlich langweilig, wie wohl andere auch, denn die Hälfte der Studenten lag da und schlief unübersehbar. Nach einer Weile wurden zahlreiche FDM-Tisch-RP-Maschinen angeworfen, die mit erkennbarem Tempo Höhe produzierten. Das war noch langweiliger, weil man einfach nur abwarten muss. Es gab Studenten, die konsequent (Un)Tätigkeiten nachgingen, die sie wohl für effektiver in der Zeitausnutzung hielten. Um 11.40 war dann auch endlich Schluss. Großzügig wurde an die Studenten verteilt, was sie produziert hatten – wenn man so sagen darf. Denn weder die CAD-Konstruktion, noch das Oberflächenmodell, noch die Umsetzung in das Arbeitsprogramm noch das Entfernen des überflüssigen Supportmaterials stammte von irgendeinem von ihnen – in Wirklichkeit hatten sie wieder nur anderen bei der Arbeit zugeguckt – oder selbst das verschlafen.


Der Bus fuhr endlich um 11.56 Uhr am Shanghai Vocational Training Center ab und erreichte um 12.40 Uhr den Jun Gong-Campus, wo jeder für sich erst mal zum Essen in die Mensa ging. Um 13.20 ging es in vier Gruppen, die nacheinander für 30 Minuten jede vier Stationen aufsuchte, weiter. Ein Professor Lu war extra gewonnen worden und zeigte seine Umformpresse, weil diejenige des Labors defekt ist. Lus Umformpresse hat die Größe eines größeren Bürodruckers und kann Näpfe von der Größe der Reflektoren von Handscheinwerfern tiefziehen. Damit kann man auch die Versagensfälle Bodenreißer und Faltenbildung demonstrieren – aber ein Eindruck von der Praxis ist das wahrlich nicht. Ich war auch eine der Stationen und habe mich redlich bemüht, viermal nacheinander das Tiefziehverhältnis und die Spannungen während des Tiefziehens deutlich zu machen. Das fand neben der kaputten Umformpresse statt. An der konnte ich mit den Studenten üben, worauf man achten muss, wenn man eine Maschine einschätzen soll. Auf 16.00 Uhr war die Rückfahrt terminiert, aber nachdem man mich Nachzügler endlich in den Bus bekommen hatte, waren wir schon um 15.45 Uhr wieder auf der Strecke. Der am Nachmittag niedergegangene Regenschauer passte sehr gut zu meiner Stimmung. Einer der Jun Gong-Laborassistenten offenbarte sich mir und beklagte, dass die Laborbetreuung für das Joint-College eine lästige Zusatzbelastung sei. Eigentlich würden sie Forschungsarbeiten betreuen, und wenn dann nur für die Studenten des Joint-College Versuche vorbereitet werden sollten oder kaputte Maschinen, die sonst keiner mehr braucht, extra dafür wieder einsetzbar gemacht werden müssten, wäre das zutiefst uneffektiv. Außerdem sei die Entfernung zwischen den beiden Standorten Fuxing-Campus und Jun Gong-Camps nervig. Er hoffe, dass mit der Verlagerung des Joint College auf den Jun Gong -Campus das Joint College endlich eigene Labors und Labormitarbeiter bekomme und dann diese undankbare Zusatzbelastung aufhöre.
Auf dem Restweg zum Fuxing-Campus unterhielten wir uns sehr nett über seine Familie, die bevorstehenden Feiertag, was jeder vorhabe und dass zwei Kinder zu haben besser sei, als nur eins. Für Ihn und alle anderen war mit unserer Ankunft auf dem Fuxing-Campus um 16.35 Uhr Feierabend, von dann folgenden Weg nach Hause mal abgesehen.
Bilanz: Gesamteinsatzzeit: 8h20‘; Fahrzeit: 2h10‘; Organisation: 2h55‘; Mittagspause: 40‘ bleibt für‘s „Labor“: 2h35‘ (Mehr Labor Fertigungstechnik gibt es in diesem Semester nicht!). Das ist ein zutiefst unzufriedenstellender Wert. Den multipliziert mit dem miserablen Qualitätswert des Laborinhalts und der fehlenden persönlichen Vor- und Nachbereitung durch die Studierenden, muss man zu dem Schluss kommen, die gepriesenen Vorzüge der Lehrmethoden an der HAW, die ein Qualitätsmerkamal der Fachhochschulausbildung für praxisorientierte Ingenieure in Deutschland darstellt, sind noch lange nicht in Shanghai angekommen. Wenn es irgendeinen Grund gibt, einem Studierenden der HAW in Hamburg wegen fehlender erlangter Kompetenz das Bachelorzeugnis zu verweigern, dann gilt das selbstverständlich in exakt gleicher Weise für die Studierenden des Shanghai-Hamburg-College, die neben ihrem chinesischen Dipolma auch den deutschen Bachelorabschluss erreichen sollen. Hier wird die AISIIN bei der Wiederholungsakkreditierung ziemlich genau hingucken müssen.

Firmenkontakt
Für 18.00 Uhr war ich eingeladen worden, bei einem Kennenlernbesuch des kaufmännischen Geschäftsführers von Siemens Shanghai für den Vertrieb in mehreren Provinzen Ostchinas im Sitzungszimmer des Joint-College teilzunehmen, weil ich bei der Begrüßung der Erstsemester vor zwei Wochen als gerade hier weilender Professor aus Deutschland aufgefallen war. Bis dahin war noch Zeit und ich fragte Herrn Xu nach der angeblich vorhandenen deutschen Ausgabe der Präsentation, die die Dekanin bei der Erstsemesterbegrüßung auf Chinesisch gehalten hatte (Die Daten zur Geschichte der USST, des Fuxing-Campus und des Joint College interessieren mich. Ich hatte mich schon an die Übersetzung herangemacht). Diese gab es nicht, aber eine andere vom letzten Jahr, die auf einer Hochschulmesse in Shanghai gehalten worden war. An der spielte ich ein bisschen herum, ich hatte ja noch etwas Zeit und nichts anderes zu tun, machte sie schöner und aktualisierte sie, so dass ich, wie die Jungfrau zum Kinde kam und auf einmal der Referent für den Besucher von Siemens wurde. Ich legte mich richtig mit Begeisterung ins Zeug und Pries die Idee des Joint-College, die Zweisprachigkeit der Absolventen, deren binationale Kulturorientierung, das meiner Überzeugung nach qualitätsmaßstabsetzende praxisorientierte Ausbildungsmodell der HAW für Ingenieure und strich die Vorzüge von Hochschul- und Länderübergreifenden Partnerschaften im Allgemeinen heraus. Ich bin nämlich tatsächlich von der Idee des Joint-College überzeugt, sonst hätte ich mich nicht für diesen Einsatz in Shanghai gemeldet gehabt. Aber der angemeldete Anspruch an Inhalte und Qualität muss dringend mit der gelebten Realität in Übereinstimmung gebracht werden. Da reicht ein bisschen „very important communication“ einfach nicht aus. Hier ist Konsequenz gefragt, und im worst case darf auch die bittere, ungewollte Lösung kein Tabu sein.

Übrigens, meinen Anzug und mein Hemd habe ich noch nach dem Siemens-Besuch auch noch abgeholt und bin ganz begeistert.

Erkenntnis des Tages: Es hilft in Wirklichkeit doch kein Schönreden.

Mittwoch, 24. September 2008

Kunstausstellung

Unterschiede in der Esskultur
Ich war in Hamburg auch schon mal in einem Chinarestaurant. Hier gehe ich, das ist natürlich eine Plattitüde, fast täglich in ein Chinarestaurant. Aber erst hier habe ich wesentliche Unterschiede entdeckt, von denen ich berichten will: wie essen die Chinesen? – und höchsten nebenbei will ich vielleicht erwähnen, was sie essen, denn das spielt zunächst keine Rolle. Wenn Deutsche miteinander ins Restaurant gehen, gibt es entweder ein gesetztes Essen oder jeder bestellt à la Carte. Je nach dem, was man ausgeben will, kann das ein Gang sein oder mehrere. Wenn man höflich sein will, fragt man seine Begleitung: „was wollen Sie bestellen?“ Und dann gibt jeder seine Bestellung auf. Später bekommt man sein Essen serviert (in guten Restaurants werden alle Bestellungen gleichzeitig serviert, damit die Gäste zusammen anfangen können und keiner aus Höflichkeit sein Essen „kaltwarten“ muss), isst es brav auf und zum Schluss zahlt jeder für sich, was er bestellt hat. Wenn vorher eine Einladung ausgesprochen wurde, übernimmt der Gastgeber die Rechnung – eine zum Beispiel bei auswärts studierenden Kindern stets als willkommene erlebte Abwechslung beim Besuch der Eltern.


Tischsitten
Wenn Chinesen für sich alleine Essen oder in die Mensa gehen, dann bestellt auch jeder, was er haben will und schiebt sich den Inhalt seiner Plastiknudelsuppenschüssel oder seines Edelstahlmensamuldentabletts möglichst wenig zeitraubend in den Mund.
Wenn aber Chinesen gemeinsam essen gehen, dann ist das immer ein (kleines) Festessen. Wenn möglich, und dass ist ab sechs Personen der Fall, sitzt man an einem runden Tisch. Wenn dessen Durchmesser so groß ist, dass man nicht einschließlich Stäbchenverlängerung bis in den Nahbereich des genau gegenüber Sitzenden reichen kann, dann steht auf dem Tisch eine Drehscheibe, selbst in den schummerigsten, kleinsten Betrieben. Wenn man höflich sein will (und Chinesen wollen oft höflich sein und immer höflich erscheinen), fragt man: „was wollen wir bestellen?“ und sucht dann von der Karte Speisen aus, zu denen jeder eine Zustimmung hat und von denen alle der Meinung sind, dass sie miteinander harmonieren. Bis die immer sehr umfangreiche Karte durchdiskutiert ist und bis dann endlich die Bestellung erfolgen kann, dauert es also immer ziemlich lange. Die Serviererin steht währenddessen geduldig dabei und gibt auch mal Ratschläge, von denen ein häufiger 没 由 „méi yóu“ (nicht haben-wegen) ist, aber auch Aussagen zur Portionsgröße macht sie, damit man nicht unnötig viel bestellt. In der Regel ordert jeder „sein“ Essen und alle zusammen eins mehr als Personen am Tisch sind. Wenn Reis gewünscht wird, muss man den ausdrücklich als gedämpften Reis portionsweise oder als gebratenen Reis wie eine Speise bestellen (Nicht so in der Mensa, wo gedämpfter Reis zur Grundmagenabfüllung standardmäßig dazu gehört). Zu den sehr scharfen Sichuan-Speisen empfiehlt es stets für jeden Reis als Neutralisator zu bestellen. Zum Gedeck, das schon vorbereitet auf dem Tisch steht oder gleich nachdem man zum Tisch geleitet wurde (selber reinstürmen und sich seinen Platz suchen, wie in Deutschland, gibt es nicht. Wenn einem der zugewiesene Platz aber nicht gefällt und andere Tische noch frei sind, dann sagt man es und kriegt den Wunschtisch angezeigt) serviert wird, gehört auf jeden Fall ein kleiner Teller, eine ganz kleine Schüssel und ein Porzellanlöffel, der in einfachen Lokalen aus Plastikimitat sein kann. Selbstverständlich gibt es die Stäbchen, die von der Serviererin (kellnern ist eine eher weibliche Beschäftigung) aus der Papierhülle herausgezogen werden und an den Platz jedes Gates gelegt werden. Oft gibt es eine Serviette dazu, die in vornehmen Lokalen aus Stoff ist und feucht und heiß dampfend serviert wird, die in weniger vornehmen Lokalen aus einem Einfachstoffgewebe besteht und feucht und leicht parfümiert in einer vorgefertigten Kunststofftüte zum aufreißen serviert wird, die in einfachen Lokalen aus Papier (trocken) besteht und die in simplen Buden ganz fehlt. Manche Wirte verlangen für Serviette und Stäbchen einen Gedeckaufschlag, den man zurückweisen kann. Dann bekommt man kurze Einmalstäbchen und muss sich die Finger heimlich an der Hose abwischen. Zur Restaurantkultur gehört das Einschenken einer kleinen Tasse Tee, kaum dass der Gast sich gesetzt hat. Das ist hervorragend schmeckender, frisch aufgebrühter Pu-er-Tee oder grüner Tee, der vielleicht schon länger in der während des ganzen Essens auf dem Tisch verbleibenden Teekanne auf den Gast gewartet hat oder es ist eine deutlich nach der Chlorbeimengung des Trinkwassers schmeckende Lieblosigkeit. Die Tasse Tee trinkt man auch zum Abschluss der Mahlzeit, sofern einem danach ist.


Andere Speisezubereitung
Da alle Speisen nur mit Stäbchen gegessen werden, müssen sie mit diesen auch handhabbar sein, dass heißt, alles wird vor dem kochen, braten, sautieren bereits fein geschnippelt; das machen aber keine Maschinen, sondern zahlreiche Küchenhelfer. Entsprechend schnell ist das Kochgut gar, Gemüse bleibt knusprig und behält seine Farbe. Wenn etwas im Ganzen zubereitet werden muss, zum Beispiel eine Ente gebraten, dann wird dieses unmittelbar vor dem servieren mit dem Hackebeilchen quer durch alle Knochen hindurch in mundgerechte Stücke zerkleinert. Manchmal werden auch Speisen serviert, der Einzelstückgröße in keinen Mund passt. Dann wird das betreffende mit den Stäbchen gegriffen und davon abgebissen; dabei ist es auch üblich mit dem Löffel zu unterstützen. Ein Steak, das man auf dem Teller erst in Happen schneiden müsste, gibt es einfach nicht. Wenn die englische Übersetzung der Speisekarte von einem Steak spricht, ist Fleisch, gebraten, gemeint, und das wurde schon vor dem Braten zerschnitten.


Dann kommt das Essen, und zwar zuerst das, was der Koch in der Küche zuerst fertig gemacht hat. Hält das Lokal was auf sich, dann ist die Präsentation des Essens auch eine Augenfreude. Schon beim Schnippeln wurde auf geometrische Gleichförmigkeit geachtet; aus Schalen werden Ornamente oder in der Kombination mit anderen Gemüsen stilistische Kunstwerke. Sobald etwas serviert wurde, fangen alle mit dem essen an. Jeder nimmt sich aus der in der Tischmitte stehenden oder der auf dem Drehteller herbeirotierbaren Schüssel, was er zwischen den Stäbchen greifen kann. Handelt es sich um etwas zu kleines oder zu flüssiges, dann holt man sich mit dem Porzellanlöffel eine kleine Menge in sein kleines Schälchen und schiebt es dann mit den Stäbchen daraus direkt in den Mund. Nach und nach kommt in schneller oder in langsamer Folge, was bestellt wurde. Chinesen lieben das Abnagen; wenn Ente serviert wird ziehen sie einen Flügel den schieren Brustfleisch vor. Auch Schweinerippchen mögen sie, da muss das Fleisch möglichst durchwachsen sein. Was an unzerkaubarem übrig bleibt, wird auf dem Tisch auf einem Häufchen abgelegt. Jeder isst von allem. Wenn alles auf dem Tisch steht, wechselt man beliebig hin und her, keiner nimmt alles von einer Speise, nur weil sie ihm besonders schmeckt, sondern man achtet darauf, das alle drankommen. Dazu helfen die Höflichkeitsformen, die vorsehen, dass man den anderen mit gestellter Fürsorge geradezu auffordert, sich zu bedienen und der dann mit gespielter Bescheidenheit schroff ablehnt, jemandem anderen etwas wegzunehmen. Dazu eine mögliche Szene, bei der ein Besucher (B) gerade beim Hausherrn (H) angekommen ist:

H: „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
B: „Nein danke!“
H: „Etwas heißes oder etwas kaltes?“
B: „Nur keine Umstände!“
Weil es draußen heiß ist, wird was Kaltes vorgesetzt.
B: „Danke!“ Er trinkt sofort ein paar Schlucke, weil er wirklich durstig ist.


Trinkt man ganz aus, wird sofort wieder aufgefüllt. Will man tatsächlich nichts (mehr) haben, lässt man das Getränk einfach stehen. Zum Essen trinkt man nicht unbedingt etwas. Wenn doch, dann meistens Bier, das Nationalgetränk der Chinesen. Tee wird eher als Heiltrank verstanden, wie überhaupt das ganze Essen; jede Speise hat ihre spezielle Wirkung. Frauen vermeiden Alkohol oft ganz, weil Chinesen nicht viel vertragen. Dann gibt es eben Sojamilch, Wassermelonensaft, Maiskernsaft oder anderes. Abgegessene Teller werden sofort abserviert, selbst wenn die lecker Soße eigentlich noch verspeist gehörte, man sie aber mit den Stäbchen leider nicht greifen oder schöpfen kann. Am Schluss gibt es, wenn bestellt, eine Suppe, die aber deutlich dünner ist als Suppen in Deutschland zu sein pflegen. Das dient der Flüssigkeitsaufnahme; außerdem sind meistens leckere Brocken unten in der Suppe drin, die man gerne mit dem Stäbchen herausgreifen darf. Vor der Rechnung wird dann noch der Reis serviert. Der dient nicht etwa zur besseren Aufnahme einer leckeren Soße, sondern ist lediglich zum Restabfüllen immer noch nicht Sattgewordener da.
Um die Rechnung spielt sich ein Schaukampf chinesischer Höflichkeit ab, wer denn nun bezahlen darf. Allerdings wird genau registriert, wer schon mal dran war, und niemandem würde es gelingen, sich dauernd zu drücken. Deswegen ist es immer öfter üblich, es „going dutch“ zu machen: jeder zahlt, was er bestellt hat oder die Rechnung wird durch die Zahl der Köpfe geteilt. Kein Kellner würde aufgefordert, einzeln abzurechnen, das sähe in chinesischen Augen geizig aus.
Nach dem Essen gibt es, wie gesagt, den Tee wegen seiner medizinischen Wirkung. Ein Zusammentreffen zum Biertrinken oder bei einem gepflegten Glas Wein zusammensitzen kennt man nicht.
Mir gefällt die Art des gemeinsamen Essens sehr und ich will zu Hause sowas auch gelegentlich einführen. Dann müssen die Speisen kleingeschnitten sein – schöne Bambusstäbchen habe ich für die ganze Familie schon besorgt. Für die Ablage der Abfälle wird es jedoch eine Extraschale geben, die Sauerei auf der Tischdecke will ich meiner Frau nicht zumuten.


Kunstausstellung
Heute bin ich mit einem Kollegen bei trübem Wetter ins Shanghai Art Museum geradelt, wo wir uns die 7. Biennale, die wichtigste Ausstellung zeitgenössischer internationaler Kunst in China anschauten. Als Thema konstruierte man den Begriff „Translocalmotion“, um die Migrationsbewegungen und die Mobilität in der globalisierten Welt besonders herauszustellen. Die künstlerischen Arbeiten sind den drei Rubriken „Project“, „Keynote“ und „Context“ zugeordnet. Unter dem Stichwort „Project“ wurden 25 der eingeladenen Künstlerinnen und Künstler gebeten, den nahe gelegenen Volkspark (People’s Square) als visuelle Metapher und Ausgangspunkt ihrer Arbeiten zu nehmen, was jedoch nur zum Teil umgesetzt wurde.


Direkt auf dem Platz oder in seiner unmittelbaren Nähe sind keinerlei künstlerische Ergebnisse zu sehen. Alles findet ausschließlich in dem historischen Gebäude selber statt, wo nur eine kleine Schicht Kunstinteressierter hineingeht. Obwohl einige Arbeiten das Thema kritisch bearbeitet haben (z.B. eine Wanderarbeiter-Normalunterkunft im Maßstab 1:2 von Jin Shi mit dem mehrdeutigen Titel „½-Life“), hatte ich den Eindruck, dies sei eine Vorbereitungsveranstaltung auf die Expo2010, mit der die Richtigkeit des Weges, den die Regierung eingeschlagen hat, künstlerisch bestätigt werden soll. Mich hat eine Zwischenetage besonders begeistert, wo die historische Entwicklung des Volksplatzes von den Reisbaufeldern über die Pferderennbahn der Britischen Konzession und über den Volksaufmarschplatz in der Zeit kommunistischer Omnipräsenz bis zur Kultur- und Konsummeile von heute zu sehen war.


Eines der sehr zahlreichen Videowerke hat mir auch gut gefallen, von Zhou Tao mit dem Titel 1,2,3,4. Das war ein Zusammenschnitt von Aufnahmen von Shanghaier Firmen- und Geschäftsbelegschaften, bei deren morgentlichen Motivationdrillübungen. Das Video kann ich leider nicht zeigen, aber eine Beschreibung auf Deutsch gibt es hier: http://www.artnet.de/magazine_de/reviews/aschmid/aschmid09-16-08_detail.asp?picnum=8
Aufgefallen ist mir, dass eigentlich nur junge Menschen als Besucher da waren; das fand ich erstaunlich gut, weil junge Menschen in Deutschland meist kulturresistent sind. Vielleicht war das aber auch nur eine subjektive Täuschung meinerseits, denn in die Ausstellung werden nur 5000 Besucher gleichzeitig eingelassen und bezogen auf die 16 Mio. Einwohner Shanghais, ist das in Relation so, als ob würden 42 junge Harburger zu einer besonderen Ausstellung ins Helms-Museum finden. Das lässt mich wieder für Deutschlands Jugend hoffen. Die chinesische Jugend widmete sich übrigens nicht in erster Linie den Kunstwerken, sondern verschoss vornehmlich tausende von Fotos pro Person mit Titeln wie: „Ich in einer Ausstellung“, „Meine Freundin in einer Ausstellung“, „Wir beide in einer Ausstellung“. Dabei wies ein Schild am Eingang darauf hin, dass Fotografieren strengstens verboten sei. Keiner der zahlreichen Aufpasser dachte überhaupt daran, jemals deswegen einzuschreiten. Auf dem gleichen Hinweisschild stand übrigens auch, dass Psychopathen die Ausstellung nicht besuchen dürften – ich bin mir ziemlich sicher, dass die Security-Leute auch da nicht so genau darauf achten!


Erkenntnis des Tages: Bei Kunst und Essen kommt es stark auf den Geschmack an

Dienstag, 23. September 2008

Schlecht-Gute Erfahrungen

Handel und Händel mit meinen Studenten
Mit meinen Studenten habe ich heute eine ganz herbe Enttäuschung erlebt, bezogen auf die Klausur von gestern. Dazu die Vorgeschichte: Ich wollte ursprünglich eigentlich nur eine Abschlussklausur ganz zum Schluss anbieten, wie ich das in Hamburg auch tue. Hier ist es aber unter den deutschen Kollegen üblich, eine Zwischenklausur schreiben zu lassen, weil man sich gegenseitig und die Gepflogenheiten hier noch nicht so gut kennt.
Also habe ich auf Bitten der Studenten, für alle sichtbar „an der Tafel“ (das ist ja inzwischen auf meinem Laptop mit Projektion über den Beamer – und Speicherung des Beweismittels!) zwei Varianten angezeichnet: eine erste Klausur zur Probe, die den bisherigen Stoff umfasst und zu 20% in die Note eingeht und eine zweite Klausur über den ganzen Stoff, die zu 80% in die Note eingeht. Die zweite Variante war eine erste Klausur, nachdem 40% des Stoffs unterrichtet worden ist mit 40% Anteil an der Note und die zweite Klausur nur über die restlichen 60% des Stoffs mit 60% Notenanteil. Große Zustimmung kam allenthalben zu zweitem Verfahren. Jetzt haben manche „kein gutes Gefühl“ und wollen, dass die ersten 40% nur zu 20% in die Note eingehen. Mein gespeichertes Beweismittel ließ keine faulen Behauptungen zu. Solches kindisches „Nachverhandeln“ hat mich richtig erbost. Meine ironisch gemeinte Anfrage, ob sie mir nicht alle der Einfachheit halber die Note ansagen wollten, die ich ihnen geben sollte, wurde leider nicht verstanden.

Alles klar an diesem Tag
Dabei hatte der Tag so klar und hell begonnen; Wind wehte Wolken über den Himmel und die Sicht war gut. Weil einer meiner Kollegen davon geschwärmt hatte, wie beeindruckend ein Essen im 86. Stockwerk des Jin Mao Towers (金茂大厦 Jīnmào Dàshà, Gold-prächtig-groß-Gebäude; trotz inzwischen direkt nebenan gebauter, noch höherer Konkurrenz immer noch das fünfthöchste Gebäude der Welt) sei, schlug ich vor, die seltene Fernsicht zu nutzen und dort am Abend über der beleuchteten Stadt Essen zu gehen. Nachdem Herr Xu, unser deutschsprechender Betreuer vom Joint-College, mich im Brustton der Überzeugung aufgeklärt hatte, dort müsse man keinen Tisch reservieren, weil ein Buffet für 120 Yuan all inclusive angeboten würde, fuhren wir zu dritt, etwas früher als sonst, noch während der Rushhour, mit der U-Bahn Linie 1 (einschließlich langwierigem Umsteigen am Peoples Square in die Linie 2) nach Pudong, wo wir von der Haltestelle aus wegen endlos sich hinstreckender Riesenbaustellen einen weiten Umweg zu Fuß laufen mussten.

Über die Zukunft der Metro
Die 1995 gebaute Metro Linie 1 ist mit rollendem Material des Firmenkonsortiums ADtranz-Siemens ausgerüstet worden (1500 V Gleichstrom – wie die S-Bahn Hamburg – mit Stromzuführung aus Oberleitungen), also ein deutsches Produkt. Die Linie 2 ist mit CSR-Siemens-Triebwagen (gleiche Technik wie Linie 1) ausgestattet. CSR (chinesisch: 株洲电力机车 zhūzhōu diànlìjīchē: Zhuzhou(Stadt im Osten der chinesischen Provinz Hunan)-Elektrizität-Kraft-Maschine-Wagen), die Zhuzhou-Electric Locomotive Works, ein Tochterunternehmen der China Southern Locomotive & Rolling Stock Industry (Group) Corporation, hat bereits 1999 für die Phase 2 des Ausbaus der Shanghai Metro den Auftrag zum Bau von 28 Sechs-Waggon-Triebwageneinheiten, alle Waggons angetrieben, für die 22 km lange, 17 Stationen umfassende Strecke der Linie 2 erhalten, also ein chinesisches Produkt mit deutscher Technik. Inzwischen, nach 13 Jahren, gibt es bereits 9 Metro-Linien in Betrieb. Zurzeit sind sieben Strecken im Bau (darunter auch Verlängerungen bestehender Linien) und weitere sieben in Planung, die bis Mitte der 2020-Jahre fertiggestellt werden sein sollen. Jetzt gerade läuft wegen der bevorstehenden Expo 2010 (Motto: Better City – better Life) ein besonders ehrgeiziges Erweiterungsprogramm. Metro ist ein zutreffenderer Begriff für die U-, S-, Hoch-, und Regionalexpressbahn.



Das Edelrestaurant in krasser Höhe
Im Jin Mao gab es natürlich kein Buffet, sondern ein Western-Style-Restaurant im 55. Stockwerk, ein Kantonesisches in 56. Stockwerk und ein Restaurant mit Shanghaier Küche in 86. Stockwerk, für welches wir uns wegen der erwarteten besseren Aussicht in größerer Höhe spontan entschieden. Oben angekommen war bedauerlicherweise angeblich kein Tisch mehr vorhanden, weswegen ich behauptete, Herr Xu von der Technischen Universität Shanghai (上海理工大学 shànghǎi lǐ gōng dà xué geht mir inzwischen chinesisch glatt von den Lippen und hat einen gewissen Beeindruckungsfaktor bei den Menschen in Shanghai) hätte alles für uns arrangiert. Damit war die Lösung des Problems „fehlende Tischreservierung“ von mir auf die Damen vom Empfang verlagert, und somit in dafür sehr professionellen Händen; schließlich wollten wir in einem Edelrestaurant speisen und uns nicht an einer Nudelsuppenimbissbude abfüttern lassen. Mit dem Ausdruck des Bedauerns für unsere Unannehmlichkeiten haben wir nach kurzem Warten einen Tisch im pikfeinen Restaurant mit Blick auf den Pearltower und den Huangpu bekommen. Viele der Gäste waren Europäer, und Chinesen gab es auch. Wir waren also nicht underdressed, weil Chinesen in Shanghai im Sommer nirgends mit einem Anzug herumlaufen; höchstens schwarze Hose und weißes, kurzes Hemd mit Krawatte; auch bei tropischen Temperaturen. Wir haben zwar Chineese Style gegessen, bekamen aber neben den Stäbchen Messer und Gabel gedeckt. Der westliche große Teller wurde jedoch durch das chinesische Gedeck (kleiner Teller mit kleiner Schale und Porzellanlöffel) ausgetauscht. Richtig chinesisch ging es aber trotzdem nicht zu, weswegen wir später den Tisch auch nur mit kleiner Sauerei verließen. Das Essen war gut, aber nicht so, dass ich behaupten müsste, ich hätte nicht woanders auch schon gut gegessen. Im direkten Vergleich mit der Schuddelkneipe vom Samstag kann ich sagen, beide Essen waren gleichwertig, jedenfalls dem Geschmack und der Menge nach. Wir hatten hier als arme beamtete Professoren vorsichtshalber die kostengünstigeren Gerichte (vier Bestellungen) gewählt und dafür zehnmal mehr als wir sonst ausgeben, bezahlt, nämlich 220 Yuan pro Person mit Getränken. In Vergleich zu einem Essen in gutbürgerlicher Gaststätte in Hamburg sind wir also dennoch preiswert davongekommen und haben gepflegt und unterhaltsam in atemberaubendem Ambiente gespeist. Sehr schön, muss ich aber nicht jeden Tag haben. Während unseres ganzen Essens war übrigens stets mindestens ein anderer Tisch nicht besetzt.



Zum Abschluss gönnten wir uns noch einen Drink in der Cocktailbar „Cloud 9“ im 87. Stockwerk, einem ganz internationalen Etablissement, das, von der Höhe mal abgesehen, auch in San Fransisco, Rio, London oder sogar in Stuttgart zu finden sein könnte. Beim Verlassen des Jin Mao Towers beeindruckte mich dann doch die Höhe des daneben stehenden Shanghai World Financial Center, weil es sich im Schein der es anstrahlenden lichtstarken Beleuchtungskörper als echter Wolkenkratzer im Sinne des Wortes zeigte.

Ich fühle mich jetzt verpflichtet, morgen mal die wesentlichen Unterschiede zwischen einem deutschen und einem chinesischen Essen zu beschreiben, wobei ich dann gar nicht auf die Verschiedenartigkeiten der Speisen eingehen werde.

Erkenntnis des Tages: Manche Tage sind richtig gut und richtig schlecht zugleich