Den heutigen Tag habe ich früh begonnen, spät beendet und wollte ihn alleine verbringen, dass heißt zwar unter den Menschenmassen, aber ganz für mich. Als ich um 6.00 Uhr am Morgen aufstand, beleuchtete die gerade aufgegangene Sonne das erste Mal die Wolkenkratzer, die meinem Hotelzimmerfenster in der Ferne gegenüber stehen. Darunter sind futuristische Designerbauten, die das rotgoldene Sonnenlicht so interessant reflektierten, dass ich dadurch erst richtig auf sie und ihre architektonische Schönheit aufmerksam wurde. Es gibt eine Reihe solcher Edelstücke, mit denen ihre Architekten sich bestimmt gerne ein bleibendes Zeichen setzen wollten. Aber so eng, wie die Prachtbauten nebeneinander stehen, ergibt das kein harmonisches Ensemble. Mein Gesamteindruck ist deswegen gestört, und intuitiv bin ich mit „den Hochhäusern“ als Gattungsbegriff nicht einverstanden – und deswegen beachte ich die Einzelstücke nicht so, wie sie es verdient hätten. Das ist die urbane Umkehrung der Erkenntnis aus der Natur: den Baum vor lauter Wald nicht wahrzunehmen.

Das Tomorrow-Radikal
Genau voll voraus, von meinem Fenster aus gesehen, steht ein solches bemerkenswertes Gebäude: das Tomorrow-Building, ein Marriott Hotel, (chinesisch: 明天广 ming tian guang = Morgen+[Zählwort für Tage]+breit. Das Zeichen für guang besteht aus dem Radikal Nr. 53. Die (Kangxi)-Radikale sind die Einzelelemente, aus denen die chinesischen Schriftzeichen gebildet werden. Egal, ob das Zeichen aus einem oder zwei Radikalen gebildet wird, egal, ob das linke Radikal aus einem oder bis zu 17 Strichen gebildet wird und egal, ob dann noch ein oder bis zu 20 weitere Striche zum Zeichen gehören: alle Zeichen sind in etwa quadratisch und gleich groß.

Das Radikal des nebenstehenden Zeichens, zum Beispiel, hat links 11 Striche; dann kommen rechts noch 19 hinzu. Ausgesprochen wird es li – eine(!) Silbe – und bedeutet Rappe. Das Radikal Nr. 53 (das dritte ganz rechts im Hotelnamen) mit der Bedeutung „breit“ ist ein Schrägdach und steht für Schutz, Unterschlupf, Unterbringung. Das ist doch ziemlich passend für ein futuristisches Hotel. Die Chinesen können mit Ihren Schriftzeichen, die sie sich beim sprechen der immer nur einen Silbe vorstellen, viel mehr ausdrücken, als das die Übersetzung hergibt: Morgen-Hotel.
Die Spitze des Morgen-Hotels wirkt aus der Ferne wie ein geschlossenes pyramidenförmiges Dach, aber die einzelnen Teilspitzen berühren sich nicht. Damit beschäftigte ich mich beim Aufstehen.
Der Himmel über Shanghai
Ich hatte Frühvorlesung, und gleich danach gönnte ich mir einen Abstand vom Joint-College und wollte mit dem Rad zum Bund und von dort aus zu Fuß im Tunnel den Huangpu unterqueren und dann auf den Oriental Pearl Tower hinauf steigen, denn das Durchdringen des goldenen Sonnenscheins in der Frühe war ein Merkmal, aus dem ich auf das Vorhandensein von blauem Himmel schloss – und tatsächlich war etwas hellblau zu sehen gewesen. Also der richtige Tag, die Aussicht zu genießen.
Wenn bei uns in Hamburg der Himmel weitgehend wolkenfrei ist, dann ist er blau und die Sonne scheint. Und wenn der Himmel wolkenverhangen ist, dann ist der Himmel, je nach Wetterlage, hell- bis dunkelgrau. Dann ist es zwar nicht finster, wie in der Nacht, aber das Sonnenlicht erreicht den Boden diffus gebrochen, und es gibt keine Richtung aus der die Sonne zu scheinen scheint und somit auch keine Schatten. Hier in Shanghai zeigt der Himmel fast immer ein geschlossenes, gleichmäßiges grau, nur hin und wieder kann man dicke oder dünne Anhäufungen hinter den Grauhelligkeitswertabstufungen als Wolken erahnen. Trotzdem werfen die Gegenstände am Tag deutlich sichtbare Schlagschatten (es sei denn, dass es regnet). Smog müsste doch an der Quelle, also am Boden, dichter sein als in der Höhe. Auf jeden Fall handelt es sich um sehr feine feste Partikel, die man nicht sehen kann, wie Hausstaub, aber deren Existenz durch ihren permanenten Schleier in der Luft zu erkennen ist.

Das Straßenleben
Auf meinen Weg mit den Rad zum Bund fiel mir wieder mal auf: In den Straßen spielt sich das Leben ab, und zwar alle Lebensbereiche betreffend: die Wäsche wird mit Wäscheklammern an Kleiderbügeln befestigt und an der Leine aufgehängt, die zwischen den Bäumen vor dem Haus in fünf Metern Höhe gespannt ist und mit der Bambusstange erreicht wird. Wenn das Geschäft ein Fahrradshop ist, dann ist der davor liegende Bürgersteig einschließlich der Straße von der Breite eines Parkplatzes die dazugehörige Werkstatt. Mitten in der Stadt vor dem Haus putzen sich morgens die Kinder, noch im Schlafanzug, fleißig die Zähne. Die Verkaufsauslagen des Handlers stehen auf der Straße, ebenso wie die Garküche des Kleinimbisses, wo man schnell mal ein paar Dim Sum verspeisen kann. (Es handelt sich dabei um kleine Gerichte, die meist gedämpft oder frittiert sind und meistens in kleinen Bambuskörbchen gereicht werden. Die Bambuskörbe haben einen Durchmesser von knapp 20 cm und können zum Dämpfen aufeinander gestapelt werden, der oberste wird danach abgedeckt. In jedem befindet sich ein auch aus Bambus bestehendes Gitter, auf das die Speisen gelegt werden. Den Großteil der Gerichte machen gefüllte Teigtaschen aus. Die Füllungen können aus allen denkbaren Sorten von Fleisch, Meeresfrüchten, Gemüse, aber auch aus Ei und Süßem bestehen. Lecker!). Auch zum dösen oder schlafen stellen sich die Anwohner ihren gemütlichen (weil bis zur Verschleißgrenze abgenutzten) Halb-Liegestuhl aus Bambus auf den Bürgersteig oder sie spielen mit den Nachbarn an einem Tisch Domino. Zu guter Letzt dient die Straße auch dem Straßenverkehr: Fußgänger, Fahrräder, Kleinkrafträder, Autos, Busse: jeder sucht seinen Weg und macht mit Lärm, Hupen, Klingeln auf sich aufmerksam. In der chinesischen Altstadt ist die Situation im Prinzip ähnlich, nur erlaubt die Gassenbreite höchstens einem Fußgänger und einem Fahrrad gleichzeitig die Passage, die zwischen den Auslagen von den Händlern auf rechter und linker Seite freigelassen wird. Auf den großen Hauptverkehrsstraßen fällt nicht so sehr auf, das das Prinzip dort ebenso gilt, weil zwei Autofahrspuren je Richtung und eine Fahrradfahrspur je Gegenrichtung am meisten Platz beanspruchen.
Techno-Gimmicks
Am Bund stellte ich mein Fahrrad ab. Diese 1A-Sehenswürdigkeit (der Bund, nicht mein Fahrrad!) werde ich später mal beschreiben. Von dort führt der „Bund Scenic Sightseeing Tunnel“ an das andere Flussufer. Diesen Namen fand ich ziemlich verlockend. Welche Sights wird man in einem Tunnel sehen können? In bergmännischer Bauweise wurde dort der Tunnel unter den Huangpu gebohrt und eine Standseilbahn eingebaut. Während der Fahrt (wegen des hohen Fahrpreises von 50 Yuan hin und zurück musste ich nicht warten und hatte eine der panoramaverglasten Kabinen für mich alleine) flackern tausende Glühbirnen, LEDs, Laserstrahler, Stroboskope und was sonst an Elektronikfirlefanz gerade auf dem Markt ist, unter abspielen lauter Musik und wichtigtuerischen Erklärungen auf chinesisch und englisch, man befände sich in der Tiefe der Meeres, dann im Magna des Erdkerns schließlich in einem außergalaktischen Sternengürtel und in weiteren Phantasiereichen. Die geringe Transportkapazität der Bahnkabinen und die niedrige Fahrgeschwindigkeit erlauben nicht, dass man diese Bummelbahn als Verkehrsmittel bezeichnen kann. So etwas hätte man auch in eine fensterlose Wellblechhalle einbauen, und den teuren Tunnel für sinnvollere Zwecke nutzen können.

Die Perle des Ostens
Der Weg auf den Oriental Pearl TV Tower war mir als Geduldsprobe beschrieben worden, wo man gemeinsames Warten mit Chinesen in Schlangen einüben könne. Das muss nicht der Tag dazu gewesen sein, denn die Basishalle war zwar mit Zick-Zack-Geländern so vollgepflastert, dass die ganze Fläche mit einer einzigen Warteschlange ausgefüllt werden konnte, aber die drei Security-Leute an der obligatorischen Gepäckröntgenanlage schienen sich darüber zu freuen, dass ich ihnen Abwechslung vom Beine-in-den-Bauch-stehen geboten hatte. Erstmalig erlebte ich, dass mein mitgebrachtes Plastikwasserfläschchen so daraufhin untersucht wurde, dass ja kein Flüssigsprengstoff drinnen sei, dass ich vor den Augen der aufmerksamen Wächter einen Schuck daraus trinken musste. Shanghai möchte diesen 1992–1995 aus Stahl und Beton eigenwillig gebauten Turm (Höhe: 468 m; Aussichtsplattformen: in 90 m, 263 m, 350 m) gerne als Wahrzeichen mit Weltbekanntheit sehen. Mit dem Atomium in Brüssel (Höhe: 102 m) jedenfalls, das zur Weltausstellung 1958 gebaut wurde, hat es nicht nur die Kugeln und Verbindungsrohre gemeinsam, es macht auch den gleichen verschlissenen Eindruck in Inneren, nur dass Shanghai das mal wieder schneller, höher und weiter hingekriegt hat. 2006 wurde das Atomium inzwischen renoviert.
Gedenken in der Höhe
Die Aussicht war natürlich grandios, auch wenn Shanghais ständiger, grauer Dunstschleier keine echte Fernsicht erlaubte. Dort oben hielt ich mich ziemlich lange auf. An diesem Tag fand die Trauerfeier für meine Mutter in Deutschland ohne mich statt. Deswegen war es mir ein Anliegen, am späten Nachmittag von Shanghai aus meine Familie auf dem Handy anzurufen, weil ich wusste, dass meine Frau unsere vier Kinder unterwegs auf der Fahrt von Hamburg nach Bonn in ihren Studien- und Praktikumsorten eingesammelt hatte und alle sich zu diesem Zeitpunkt, am Vormittag mitteleuropäischer Sommerzeit, gemeinsam im Auto auf dem Weg zur Trauerfeier befanden. Es war schön für mich, alle über die Freisprechanlage im Auto gemeinsam grüßen zu können. Ich fand, dass 350 m Höhe ein angemessener Ort für dieses Telefonat war.

Frust …
Am besten gefiel es mir jedoch in 263 m Höhe. Die oberste Plattform (Die Plattformen befinden sich jeweils in den drei Kugeln) steckte selber in dem in großer Höhe dichter werdenden Dunst als die darunterliegende und die unterste Kugel ist mit violett verspiegelten, schon teilweise blindgewordenen Luftspalt-Isolierglasscheiben versehen, die zu durchschauen zu versuchen mir auch keinen richtigen Spaß machte. Im Inneren fand ich die sehr oberflächlich aufgemachte und größtenteils beschädigte Taikonautikausstellung (Taikonauten werden im Westen die chinesischen Pendants zu Astronauten bzw. Kosmonauten genannt) mit Modellen chinesischer Raketen für die bemannte Raumfahrt eher abstoßend. Sie diente offensichtlich nur dazu, das Interesse bei jüngeren Besuchern zu wecken, die anschließend in 90 m Höhe kostenpflichtig angebotenen Jahrmarktsfahrgeschäfte wie Schleudersitz, Raum-Zeit-Täuschungskabine und Achterbahn auch noch auszuprobieren. Vielleicht weckt das bei dem einen oder anderen noch nicht erkannte Berufswünsche.

Ernüchtert und auch ein wenig enttäuscht bewegte ich mich auf den Ausgang zu, und nur weil es im Ticketpreis von 150 Yuan mit drin war, nahm ich den Eingang in eine Ausstellung über die Geschichte Shanghais noch mit. Chinesische Einzelreisende (immer Grüppchen unter zehn Personen) und vor allem Reisegruppen, die für mich so aussahen, als kämen sie alle von Hinterland auch mal in die Riesenmetropole (die Sprachen, die sie sprachen, hörten sich für mich nicht so an wie das chinesisch, dass in Shanghai gesprochen wird), wurden von ihren Herdenführern im Eilmarsch vorangetrieben. Für Fotos war trotzdem noch genug Zeit. Fotografieren heißt für Chinesen, dass eine Person vor einem Hintergrund abgelichtet wird. Wenn also plötzlich ein schöner Hintergrund auftaucht (der ist erkennbar daran, dass sich gerade jemand anders davor ablichten lässt), dann stellen die Chinesen sich an, und wenn sie dran sind, dann fotografiert erst der eine den anderen und anschließend der andere den einen. Dass sich irgendjemand für den Hintergrund an sich interessiert hätte, ist mir noch nie so richtig aufgefallen. Vergleichbar ist das vielleicht mit dem Interesse der deutschen Ballermann-6-Besucher an den Schönheiten Mallorcas, für die sie auch kein Auge haben - es sei denn, sie trügen einen Bikini oder weniger. So wenig wie es „Die Deutschen“ gibt, gibt es „Die Chinesen“.
… und Freude
Die Ausstellung über die Geschichte Shanghais fand ich faszinierend. Vollkommen täuschend echt anmutend aus Kunststoffimitat wurden Bauten, Alltagsszenen, alte Handwerke, antike Reiseverkehrsmittel in Lebensgröße nachgebaut. Es war auf das Einfühlen und Nachvollziehen angelegt, so wie man das beispielsweise im Freilichtmuseum am Kiekeberg erleben kann. Insbesondere aus der Zeitperiode der Qing-Dynastie und mit ausnehmend vielen Belegen und Beispielen seit der europäischen Besetzung ab 1845 wurden in Modellen verschiedener Maßstäbe, aber alle größer als die Lehmann-Gartenmodellbahn (1:22,5) Szenen verschiedener Zeitabschnitte, die Shanghai durchlebt hat und die längst untergegangen sind, dargestellt. Alte schwarz/weiß-Filme auf Videoschirmen, Fotografien und einige Original-Sammlungsstücke ergänzten die nachgestellten Szenen. Ich habe sehr viel über das Werden und die Grundlagen, von denen das heutige Shanghai herstammt, erfahren und war total begeistert; auch von der Akribie mit der die von mir unzählbaren Modelle, Dioramen und Szenen handwerklich herausragend hergestellt waren. Über zwei Stunden habe ich mich in diesem Museum aufgehalten und alle Schilder mit allen Erklärungen genau studiert. Ich habe mich dort richtig wohl gefühlt und war mit dem Oriental Pearl Tower wieder versöhnt.

Lost in Transportation
Es war schon dunkel als ich raus kam. Ich gönnte mir eine Portion Krebse (endlich haben die Monate mit „r“ wieder angefangen, in denen man Schalentiere nicht mehr verschmähen sollte) an einer Imbissbude, und ich war mir nicht sicher, ob die Chinesen an meinem Tisch die Art, wie ich sie verspeiste, nicht als unkultiviert-barbarisch ansahen. Das nächste Mal werde ich mir eine Nudelsuppe bestellen, die kann ich nämlich mit Stäbchen essen und die Brühe anschließend austrinken. Mit der kitschigen Tunnelbahn ging es zurück zu meinem Fahrrad. Wie alle anderen auch, radelte ich völlig unbeleuchtet durch die angenehm warme Nacht und musste von meiner Richtung wegen vieler Baustellen, die wirklich überall in der Stadt den Verkehr umleiten, mehrmals erheblich abweichen. Unterwegs fand ich heraus, dass die Straßen vielfältig auch als Obdachlosenunterkünfte genutzt werden. Als ich nach langer Strecke auf meinen Kompass, den ich immer bei mir trage, schaute, merkte ich, dass ich eine geraume Zeit in der falschen Himmelrichtung unterwegs war. Shanghai ist so riesig und überall innerstädtisch, dass ich öfters an Stellen, wo ich noch nie war, mich fühle, als kenne ich mich gut aus. Aber als Großstadtdschungelpfadfinder bin ich einfach so lange weitergefahren, bis ich in den Häuserschluchten irgendwann in der Ferne den markanten Tomorrow-Tower erblickte. Das war jetzt meine Richtung, und von dort nach Süden bis in die mir vertrauten Straßen hinein nach Hause, wo ich ziemlich spät ankam und nicht mehr in der Lage war, mein Blog zu schreiben.
Erkenntnis des Tages: Aufmerksamkeit am Morgen erleichtert die Orientierung am Abend.

Das Tomorrow-Radikal
Genau voll voraus, von meinem Fenster aus gesehen, steht ein solches bemerkenswertes Gebäude: das Tomorrow-Building, ein Marriott Hotel, (chinesisch: 明天广 ming tian guang = Morgen+[Zählwort für Tage]+breit. Das Zeichen für guang besteht aus dem Radikal Nr. 53. Die (Kangxi)-Radikale sind die Einzelelemente, aus denen die chinesischen Schriftzeichen gebildet werden. Egal, ob das Zeichen aus einem oder zwei Radikalen gebildet wird, egal, ob das linke Radikal aus einem oder bis zu 17 Strichen gebildet wird und egal, ob dann noch ein oder bis zu 20 weitere Striche zum Zeichen gehören: alle Zeichen sind in etwa quadratisch und gleich groß.

Das Radikal des nebenstehenden Zeichens, zum Beispiel, hat links 11 Striche; dann kommen rechts noch 19 hinzu. Ausgesprochen wird es li – eine(!) Silbe – und bedeutet Rappe. Das Radikal Nr. 53 (das dritte ganz rechts im Hotelnamen) mit der Bedeutung „breit“ ist ein Schrägdach und steht für Schutz, Unterschlupf, Unterbringung. Das ist doch ziemlich passend für ein futuristisches Hotel. Die Chinesen können mit Ihren Schriftzeichen, die sie sich beim sprechen der immer nur einen Silbe vorstellen, viel mehr ausdrücken, als das die Übersetzung hergibt: Morgen-Hotel.
Die Spitze des Morgen-Hotels wirkt aus der Ferne wie ein geschlossenes pyramidenförmiges Dach, aber die einzelnen Teilspitzen berühren sich nicht. Damit beschäftigte ich mich beim Aufstehen.
Der Himmel über Shanghai
Ich hatte Frühvorlesung, und gleich danach gönnte ich mir einen Abstand vom Joint-College und wollte mit dem Rad zum Bund und von dort aus zu Fuß im Tunnel den Huangpu unterqueren und dann auf den Oriental Pearl Tower hinauf steigen, denn das Durchdringen des goldenen Sonnenscheins in der Frühe war ein Merkmal, aus dem ich auf das Vorhandensein von blauem Himmel schloss – und tatsächlich war etwas hellblau zu sehen gewesen. Also der richtige Tag, die Aussicht zu genießen.
Wenn bei uns in Hamburg der Himmel weitgehend wolkenfrei ist, dann ist er blau und die Sonne scheint. Und wenn der Himmel wolkenverhangen ist, dann ist der Himmel, je nach Wetterlage, hell- bis dunkelgrau. Dann ist es zwar nicht finster, wie in der Nacht, aber das Sonnenlicht erreicht den Boden diffus gebrochen, und es gibt keine Richtung aus der die Sonne zu scheinen scheint und somit auch keine Schatten. Hier in Shanghai zeigt der Himmel fast immer ein geschlossenes, gleichmäßiges grau, nur hin und wieder kann man dicke oder dünne Anhäufungen hinter den Grauhelligkeitswertabstufungen als Wolken erahnen. Trotzdem werfen die Gegenstände am Tag deutlich sichtbare Schlagschatten (es sei denn, dass es regnet). Smog müsste doch an der Quelle, also am Boden, dichter sein als in der Höhe. Auf jeden Fall handelt es sich um sehr feine feste Partikel, die man nicht sehen kann, wie Hausstaub, aber deren Existenz durch ihren permanenten Schleier in der Luft zu erkennen ist.
Das Straßenleben
Auf meinen Weg mit den Rad zum Bund fiel mir wieder mal auf: In den Straßen spielt sich das Leben ab, und zwar alle Lebensbereiche betreffend: die Wäsche wird mit Wäscheklammern an Kleiderbügeln befestigt und an der Leine aufgehängt, die zwischen den Bäumen vor dem Haus in fünf Metern Höhe gespannt ist und mit der Bambusstange erreicht wird. Wenn das Geschäft ein Fahrradshop ist, dann ist der davor liegende Bürgersteig einschließlich der Straße von der Breite eines Parkplatzes die dazugehörige Werkstatt. Mitten in der Stadt vor dem Haus putzen sich morgens die Kinder, noch im Schlafanzug, fleißig die Zähne. Die Verkaufsauslagen des Handlers stehen auf der Straße, ebenso wie die Garküche des Kleinimbisses, wo man schnell mal ein paar Dim Sum verspeisen kann. (Es handelt sich dabei um kleine Gerichte, die meist gedämpft oder frittiert sind und meistens in kleinen Bambuskörbchen gereicht werden. Die Bambuskörbe haben einen Durchmesser von knapp 20 cm und können zum Dämpfen aufeinander gestapelt werden, der oberste wird danach abgedeckt. In jedem befindet sich ein auch aus Bambus bestehendes Gitter, auf das die Speisen gelegt werden. Den Großteil der Gerichte machen gefüllte Teigtaschen aus. Die Füllungen können aus allen denkbaren Sorten von Fleisch, Meeresfrüchten, Gemüse, aber auch aus Ei und Süßem bestehen. Lecker!). Auch zum dösen oder schlafen stellen sich die Anwohner ihren gemütlichen (weil bis zur Verschleißgrenze abgenutzten) Halb-Liegestuhl aus Bambus auf den Bürgersteig oder sie spielen mit den Nachbarn an einem Tisch Domino. Zu guter Letzt dient die Straße auch dem Straßenverkehr: Fußgänger, Fahrräder, Kleinkrafträder, Autos, Busse: jeder sucht seinen Weg und macht mit Lärm, Hupen, Klingeln auf sich aufmerksam. In der chinesischen Altstadt ist die Situation im Prinzip ähnlich, nur erlaubt die Gassenbreite höchstens einem Fußgänger und einem Fahrrad gleichzeitig die Passage, die zwischen den Auslagen von den Händlern auf rechter und linker Seite freigelassen wird. Auf den großen Hauptverkehrsstraßen fällt nicht so sehr auf, das das Prinzip dort ebenso gilt, weil zwei Autofahrspuren je Richtung und eine Fahrradfahrspur je Gegenrichtung am meisten Platz beanspruchen.
Techno-Gimmicks
Am Bund stellte ich mein Fahrrad ab. Diese 1A-Sehenswürdigkeit (der Bund, nicht mein Fahrrad!) werde ich später mal beschreiben. Von dort führt der „Bund Scenic Sightseeing Tunnel“ an das andere Flussufer. Diesen Namen fand ich ziemlich verlockend. Welche Sights wird man in einem Tunnel sehen können? In bergmännischer Bauweise wurde dort der Tunnel unter den Huangpu gebohrt und eine Standseilbahn eingebaut. Während der Fahrt (wegen des hohen Fahrpreises von 50 Yuan hin und zurück musste ich nicht warten und hatte eine der panoramaverglasten Kabinen für mich alleine) flackern tausende Glühbirnen, LEDs, Laserstrahler, Stroboskope und was sonst an Elektronikfirlefanz gerade auf dem Markt ist, unter abspielen lauter Musik und wichtigtuerischen Erklärungen auf chinesisch und englisch, man befände sich in der Tiefe der Meeres, dann im Magna des Erdkerns schließlich in einem außergalaktischen Sternengürtel und in weiteren Phantasiereichen. Die geringe Transportkapazität der Bahnkabinen und die niedrige Fahrgeschwindigkeit erlauben nicht, dass man diese Bummelbahn als Verkehrsmittel bezeichnen kann. So etwas hätte man auch in eine fensterlose Wellblechhalle einbauen, und den teuren Tunnel für sinnvollere Zwecke nutzen können.
Die Perle des Ostens
Der Weg auf den Oriental Pearl TV Tower war mir als Geduldsprobe beschrieben worden, wo man gemeinsames Warten mit Chinesen in Schlangen einüben könne. Das muss nicht der Tag dazu gewesen sein, denn die Basishalle war zwar mit Zick-Zack-Geländern so vollgepflastert, dass die ganze Fläche mit einer einzigen Warteschlange ausgefüllt werden konnte, aber die drei Security-Leute an der obligatorischen Gepäckröntgenanlage schienen sich darüber zu freuen, dass ich ihnen Abwechslung vom Beine-in-den-Bauch-stehen geboten hatte. Erstmalig erlebte ich, dass mein mitgebrachtes Plastikwasserfläschchen so daraufhin untersucht wurde, dass ja kein Flüssigsprengstoff drinnen sei, dass ich vor den Augen der aufmerksamen Wächter einen Schuck daraus trinken musste. Shanghai möchte diesen 1992–1995 aus Stahl und Beton eigenwillig gebauten Turm (Höhe: 468 m; Aussichtsplattformen: in 90 m, 263 m, 350 m) gerne als Wahrzeichen mit Weltbekanntheit sehen. Mit dem Atomium in Brüssel (Höhe: 102 m) jedenfalls, das zur Weltausstellung 1958 gebaut wurde, hat es nicht nur die Kugeln und Verbindungsrohre gemeinsam, es macht auch den gleichen verschlissenen Eindruck in Inneren, nur dass Shanghai das mal wieder schneller, höher und weiter hingekriegt hat. 2006 wurde das Atomium inzwischen renoviert.
Gedenken in der Höhe
Die Aussicht war natürlich grandios, auch wenn Shanghais ständiger, grauer Dunstschleier keine echte Fernsicht erlaubte. Dort oben hielt ich mich ziemlich lange auf. An diesem Tag fand die Trauerfeier für meine Mutter in Deutschland ohne mich statt. Deswegen war es mir ein Anliegen, am späten Nachmittag von Shanghai aus meine Familie auf dem Handy anzurufen, weil ich wusste, dass meine Frau unsere vier Kinder unterwegs auf der Fahrt von Hamburg nach Bonn in ihren Studien- und Praktikumsorten eingesammelt hatte und alle sich zu diesem Zeitpunkt, am Vormittag mitteleuropäischer Sommerzeit, gemeinsam im Auto auf dem Weg zur Trauerfeier befanden. Es war schön für mich, alle über die Freisprechanlage im Auto gemeinsam grüßen zu können. Ich fand, dass 350 m Höhe ein angemessener Ort für dieses Telefonat war.
Frust …
Am besten gefiel es mir jedoch in 263 m Höhe. Die oberste Plattform (Die Plattformen befinden sich jeweils in den drei Kugeln) steckte selber in dem in großer Höhe dichter werdenden Dunst als die darunterliegende und die unterste Kugel ist mit violett verspiegelten, schon teilweise blindgewordenen Luftspalt-Isolierglasscheiben versehen, die zu durchschauen zu versuchen mir auch keinen richtigen Spaß machte. Im Inneren fand ich die sehr oberflächlich aufgemachte und größtenteils beschädigte Taikonautikausstellung (Taikonauten werden im Westen die chinesischen Pendants zu Astronauten bzw. Kosmonauten genannt) mit Modellen chinesischer Raketen für die bemannte Raumfahrt eher abstoßend. Sie diente offensichtlich nur dazu, das Interesse bei jüngeren Besuchern zu wecken, die anschließend in 90 m Höhe kostenpflichtig angebotenen Jahrmarktsfahrgeschäfte wie Schleudersitz, Raum-Zeit-Täuschungskabine und Achterbahn auch noch auszuprobieren. Vielleicht weckt das bei dem einen oder anderen noch nicht erkannte Berufswünsche.
Ernüchtert und auch ein wenig enttäuscht bewegte ich mich auf den Ausgang zu, und nur weil es im Ticketpreis von 150 Yuan mit drin war, nahm ich den Eingang in eine Ausstellung über die Geschichte Shanghais noch mit. Chinesische Einzelreisende (immer Grüppchen unter zehn Personen) und vor allem Reisegruppen, die für mich so aussahen, als kämen sie alle von Hinterland auch mal in die Riesenmetropole (die Sprachen, die sie sprachen, hörten sich für mich nicht so an wie das chinesisch, dass in Shanghai gesprochen wird), wurden von ihren Herdenführern im Eilmarsch vorangetrieben. Für Fotos war trotzdem noch genug Zeit. Fotografieren heißt für Chinesen, dass eine Person vor einem Hintergrund abgelichtet wird. Wenn also plötzlich ein schöner Hintergrund auftaucht (der ist erkennbar daran, dass sich gerade jemand anders davor ablichten lässt), dann stellen die Chinesen sich an, und wenn sie dran sind, dann fotografiert erst der eine den anderen und anschließend der andere den einen. Dass sich irgendjemand für den Hintergrund an sich interessiert hätte, ist mir noch nie so richtig aufgefallen. Vergleichbar ist das vielleicht mit dem Interesse der deutschen Ballermann-6-Besucher an den Schönheiten Mallorcas, für die sie auch kein Auge haben - es sei denn, sie trügen einen Bikini oder weniger. So wenig wie es „Die Deutschen“ gibt, gibt es „Die Chinesen“.
… und Freude
Die Ausstellung über die Geschichte Shanghais fand ich faszinierend. Vollkommen täuschend echt anmutend aus Kunststoffimitat wurden Bauten, Alltagsszenen, alte Handwerke, antike Reiseverkehrsmittel in Lebensgröße nachgebaut. Es war auf das Einfühlen und Nachvollziehen angelegt, so wie man das beispielsweise im Freilichtmuseum am Kiekeberg erleben kann. Insbesondere aus der Zeitperiode der Qing-Dynastie und mit ausnehmend vielen Belegen und Beispielen seit der europäischen Besetzung ab 1845 wurden in Modellen verschiedener Maßstäbe, aber alle größer als die Lehmann-Gartenmodellbahn (1:22,5) Szenen verschiedener Zeitabschnitte, die Shanghai durchlebt hat und die längst untergegangen sind, dargestellt. Alte schwarz/weiß-Filme auf Videoschirmen, Fotografien und einige Original-Sammlungsstücke ergänzten die nachgestellten Szenen. Ich habe sehr viel über das Werden und die Grundlagen, von denen das heutige Shanghai herstammt, erfahren und war total begeistert; auch von der Akribie mit der die von mir unzählbaren Modelle, Dioramen und Szenen handwerklich herausragend hergestellt waren. Über zwei Stunden habe ich mich in diesem Museum aufgehalten und alle Schilder mit allen Erklärungen genau studiert. Ich habe mich dort richtig wohl gefühlt und war mit dem Oriental Pearl Tower wieder versöhnt.

Lost in Transportation
Es war schon dunkel als ich raus kam. Ich gönnte mir eine Portion Krebse (endlich haben die Monate mit „r“ wieder angefangen, in denen man Schalentiere nicht mehr verschmähen sollte) an einer Imbissbude, und ich war mir nicht sicher, ob die Chinesen an meinem Tisch die Art, wie ich sie verspeiste, nicht als unkultiviert-barbarisch ansahen. Das nächste Mal werde ich mir eine Nudelsuppe bestellen, die kann ich nämlich mit Stäbchen essen und die Brühe anschließend austrinken. Mit der kitschigen Tunnelbahn ging es zurück zu meinem Fahrrad. Wie alle anderen auch, radelte ich völlig unbeleuchtet durch die angenehm warme Nacht und musste von meiner Richtung wegen vieler Baustellen, die wirklich überall in der Stadt den Verkehr umleiten, mehrmals erheblich abweichen. Unterwegs fand ich heraus, dass die Straßen vielfältig auch als Obdachlosenunterkünfte genutzt werden. Als ich nach langer Strecke auf meinen Kompass, den ich immer bei mir trage, schaute, merkte ich, dass ich eine geraume Zeit in der falschen Himmelrichtung unterwegs war. Shanghai ist so riesig und überall innerstädtisch, dass ich öfters an Stellen, wo ich noch nie war, mich fühle, als kenne ich mich gut aus. Aber als Großstadtdschungelpfadfinder bin ich einfach so lange weitergefahren, bis ich in den Häuserschluchten irgendwann in der Ferne den markanten Tomorrow-Tower erblickte. Das war jetzt meine Richtung, und von dort nach Süden bis in die mir vertrauten Straßen hinein nach Hause, wo ich ziemlich spät ankam und nicht mehr in der Lage war, mein Blog zu schreiben.
Erkenntnis des Tages: Aufmerksamkeit am Morgen erleichtert die Orientierung am Abend.
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