Lehrerfahrung
Der heutige Sonntag hatte von morgens bis abends seinen Namen voll verdient: strahlender Sonnenschein und wegen eines sanften Windes Temperaturen bei richtig angenehmen 26 °C. Leider war das das einzig angenehme an diesem Tag, denn ich hatte Vorholvorlesung zu halten, und das auch noch am Nachmittag. Den Vormittag hatte ich mit Schreibarbeiten verbracht und am Nachmittag eilte ich stramm durch meinen Stoff: das Umformfertigungsverfahren Walzen. Zum Schluss rechnete ich noch eine Übungsaufgabe vor und zwang bei der Lösungsfindung die Studenten sich zu beteiligen. Ich hatte die letzte Unterrichtseinheit vor der „Golden Week“, der Ferienwoche, die die meisten bei ihren Familien zu Hause verbringen. Wegen der Aussicht, schneller in die Ferien starten zu können, waren viele engagiert; einige jedoch, die ich namentlich aufreif, hatten die Aufgabe auf deutsch nicht richtig verstanden und Sprechblockaden beim antworten auf Deutsch. Eine zweite Aufgabe am Schluss der Stunde bot ich an, als Hausaufgabe daheim zu rechnen oder, für die Freiwilligen, direkt im Anschluss vorgerechnet zu bekommen. Die meisten wollten lieber „Hausaufgabe“ und pünktlichen Unterrichtsschluss. Also forderte ich diejenigen, die gehen wollten, auf, das zu tun – ich wartete – und keiner traute sich zu gehen! In Hamburg wären die Studenten gegangen und nur die an weiterer Übung echt interessierten wären geblieben. Nun hatte ich also eine Meute unwilliger „Freiwilliger“ vor mir. Ich entschloss mich also, ganz schnell den Rechenweg für alle sichtbar aufzuschreiben und die Vorlesung zu beenden. An den anschließenden Nachfragen Einzelner merkte ich, dass ihnen die Kniffeligkeiten nicht klar geworden waren. Meine als Angebot gemeinte Überzeit war als willkürlicher Zwang meinerseits aufgefasst worden, der schließlich nicht seinen beabsichtigten didaktischen Zweck erfüllte.
Andere Länder – andere Sitten
Ich hatte erfahren, dass der mir bei meinem Dienstantritt genannte Klassensprecher abgesetzt worden war und zwei andere, ein Mädchen und ein Junge diesen Posten bekleideten. Der alte Klassensprecher war mir, was seine Sprach- und Fachleistungen anbelangt, als schwach aufgefallen und er fehlte bisweilen, während die beiden neuen zur Gruppe der erfreulichen Studenten gehören. Auf meine Frage, wie die Neuwahl zustande gekommen sei, wurde mir erklärt, warum der Wechsel erfolgt sei – aber das war mir ohnehin klar. Ich präzisierte meine Frage und erfuhr, dass „der Führer“ die Ab- und Einsetzung vorgenommen hatte. Nachdem ich richtiggestellt hatte, dass diese Anrede in Deutschland nur einem zukäme und es zum Beispiel nicht angeraten sei, Frau Merkel mit Führer der Deutschen zu bezeichnen (meine Studenten nennen ihren Staatspräsidenten Hu Jintao, der zugleich Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas ist, den Führer der Chinesen), bekam ich das chinesische Pendant zur akademischen Selbstverwaltung in Deutschland mit: Einem Studienjahrgang ist ein Professor als „Klassenlehrer“ vorgesetzt, der über alle Belange der Studenten bestimmt. Von ihren chinesischen Professoren hören die Studenten über das gelehrte Fachgebiet hinaus keine Meinungsäußerungen („Mahnende Worte“, „Hinweise für’s Leben“, „Erkenntnisse und Wahrheiten“, so subjektiv sie auch eingefärbt sein mögen), also das, was im Westen unter „Freiheit der Lehre“ von den Professoren so idealistisch hochgehalten und von der Verwaltung so verständnislos ausgebremst wird. Chinesische Studenten haben ihren Weg an die Hochschule mit Fleiß, Auswendiglernen, Disziplin, Gehorsam und Guanxi (关系, guān xì, zumachen-System, das Netzwerk persönlicher Beziehungen, ohne das man hier keine geschäftlichen und persönlichen Erfolge erzielen und mit dem man alle Regeln und Gesetze aushebeln oder zumindest aufweichen kann) geschafft. Wenn ein deutscher Professor auf einmal in noch nie erlebter Weise nach Kreativität, Selbstbeteiligung, öffentlicher Meinungsäußerung und Widerspruch fragt, führt das ganz sicher auf beiden Seiten zu großen Akzeptanzproblemen. Das Shanghai-Hamburg-College ist seit vielen Jahren etabliert und trotzdem am Anfang der Chinesisch-Deutschen-Zusammenarbeit. Es ist auf vielen Gebieten noch viel zu tun.
Später telefonierte ich noch nach Hause, bis meine Telefonkarte aufgebraucht war. Das ist nicht zu teuer, ich kaufe immer eine 100 Yuan-Karte, für die ich 25 Yuan bezahlen muss; dafür kann ich etwa 20 Minuten nach Deutschland telefonieren. Manche Kollegen lassen sich täglich anrufen oder skypen; ich berichte mittels meines Internet-Blogs und tausche persönliche Gedanken per E-Mail aus. Inzwischen ist für mich Halbzeit. Natürlich möchte ich gerne hin- und wieder oder vielleicht auch öfter mit meiner Frau zusammen sein, aber ich finde, dass diese Lebenserfahrung in Shanghai zu wertvoll ist, als dass ich mich über die Trennung beklagen müsste. Außerdem: ich habe mich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und mit Zustimmung meiner Familie dafür entschieden und nutze die Zeit gerne aus.
Erkenntnis des Tages: Je besser ich China kennenlerne, desto weniger verstehe ich.
Der heutige Sonntag hatte von morgens bis abends seinen Namen voll verdient: strahlender Sonnenschein und wegen eines sanften Windes Temperaturen bei richtig angenehmen 26 °C. Leider war das das einzig angenehme an diesem Tag, denn ich hatte Vorholvorlesung zu halten, und das auch noch am Nachmittag. Den Vormittag hatte ich mit Schreibarbeiten verbracht und am Nachmittag eilte ich stramm durch meinen Stoff: das Umformfertigungsverfahren Walzen. Zum Schluss rechnete ich noch eine Übungsaufgabe vor und zwang bei der Lösungsfindung die Studenten sich zu beteiligen. Ich hatte die letzte Unterrichtseinheit vor der „Golden Week“, der Ferienwoche, die die meisten bei ihren Familien zu Hause verbringen. Wegen der Aussicht, schneller in die Ferien starten zu können, waren viele engagiert; einige jedoch, die ich namentlich aufreif, hatten die Aufgabe auf deutsch nicht richtig verstanden und Sprechblockaden beim antworten auf Deutsch. Eine zweite Aufgabe am Schluss der Stunde bot ich an, als Hausaufgabe daheim zu rechnen oder, für die Freiwilligen, direkt im Anschluss vorgerechnet zu bekommen. Die meisten wollten lieber „Hausaufgabe“ und pünktlichen Unterrichtsschluss. Also forderte ich diejenigen, die gehen wollten, auf, das zu tun – ich wartete – und keiner traute sich zu gehen! In Hamburg wären die Studenten gegangen und nur die an weiterer Übung echt interessierten wären geblieben. Nun hatte ich also eine Meute unwilliger „Freiwilliger“ vor mir. Ich entschloss mich also, ganz schnell den Rechenweg für alle sichtbar aufzuschreiben und die Vorlesung zu beenden. An den anschließenden Nachfragen Einzelner merkte ich, dass ihnen die Kniffeligkeiten nicht klar geworden waren. Meine als Angebot gemeinte Überzeit war als willkürlicher Zwang meinerseits aufgefasst worden, der schließlich nicht seinen beabsichtigten didaktischen Zweck erfüllte.
Andere Länder – andere Sitten
Ich hatte erfahren, dass der mir bei meinem Dienstantritt genannte Klassensprecher abgesetzt worden war und zwei andere, ein Mädchen und ein Junge diesen Posten bekleideten. Der alte Klassensprecher war mir, was seine Sprach- und Fachleistungen anbelangt, als schwach aufgefallen und er fehlte bisweilen, während die beiden neuen zur Gruppe der erfreulichen Studenten gehören. Auf meine Frage, wie die Neuwahl zustande gekommen sei, wurde mir erklärt, warum der Wechsel erfolgt sei – aber das war mir ohnehin klar. Ich präzisierte meine Frage und erfuhr, dass „der Führer“ die Ab- und Einsetzung vorgenommen hatte. Nachdem ich richtiggestellt hatte, dass diese Anrede in Deutschland nur einem zukäme und es zum Beispiel nicht angeraten sei, Frau Merkel mit Führer der Deutschen zu bezeichnen (meine Studenten nennen ihren Staatspräsidenten Hu Jintao, der zugleich Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas ist, den Führer der Chinesen), bekam ich das chinesische Pendant zur akademischen Selbstverwaltung in Deutschland mit: Einem Studienjahrgang ist ein Professor als „Klassenlehrer“ vorgesetzt, der über alle Belange der Studenten bestimmt. Von ihren chinesischen Professoren hören die Studenten über das gelehrte Fachgebiet hinaus keine Meinungsäußerungen („Mahnende Worte“, „Hinweise für’s Leben“, „Erkenntnisse und Wahrheiten“, so subjektiv sie auch eingefärbt sein mögen), also das, was im Westen unter „Freiheit der Lehre“ von den Professoren so idealistisch hochgehalten und von der Verwaltung so verständnislos ausgebremst wird. Chinesische Studenten haben ihren Weg an die Hochschule mit Fleiß, Auswendiglernen, Disziplin, Gehorsam und Guanxi (关系, guān xì, zumachen-System, das Netzwerk persönlicher Beziehungen, ohne das man hier keine geschäftlichen und persönlichen Erfolge erzielen und mit dem man alle Regeln und Gesetze aushebeln oder zumindest aufweichen kann) geschafft. Wenn ein deutscher Professor auf einmal in noch nie erlebter Weise nach Kreativität, Selbstbeteiligung, öffentlicher Meinungsäußerung und Widerspruch fragt, führt das ganz sicher auf beiden Seiten zu großen Akzeptanzproblemen. Das Shanghai-Hamburg-College ist seit vielen Jahren etabliert und trotzdem am Anfang der Chinesisch-Deutschen-Zusammenarbeit. Es ist auf vielen Gebieten noch viel zu tun.
Später telefonierte ich noch nach Hause, bis meine Telefonkarte aufgebraucht war. Das ist nicht zu teuer, ich kaufe immer eine 100 Yuan-Karte, für die ich 25 Yuan bezahlen muss; dafür kann ich etwa 20 Minuten nach Deutschland telefonieren. Manche Kollegen lassen sich täglich anrufen oder skypen; ich berichte mittels meines Internet-Blogs und tausche persönliche Gedanken per E-Mail aus. Inzwischen ist für mich Halbzeit. Natürlich möchte ich gerne hin- und wieder oder vielleicht auch öfter mit meiner Frau zusammen sein, aber ich finde, dass diese Lebenserfahrung in Shanghai zu wertvoll ist, als dass ich mich über die Trennung beklagen müsste. Außerdem: ich habe mich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und mit Zustimmung meiner Familie dafür entschieden und nutze die Zeit gerne aus.
Erkenntnis des Tages: Je besser ich China kennenlerne, desto weniger verstehe ich.

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