Samstag, 13. September 2008

Qi Bao per Rad

Fahrraddiebstahl
Am Samstagmorgen strahlte die Sonne von einem leicht bewölkten Himmel ohne die übliche Dunstschicht, also genau recht für die offizielle Unternehmung des Vortages. Dabei hatten wir gestern mit dem Wetter Glück gehabt, denn es war von einem Taifun die Rede, der sich über dem Chinesischen Meer zusammenbraute und dessen Zugrichtung noch nicht vorhersagbar war.
Für den heutigen Samstag hatten wir von einem der vier Professorenkollegen den Tipp „Qi Bao“ bekommen. Ich hatte den Weg zu diesem 18 km von der Innenstadt Shanghais entfernt und außerhalb unserer Touristenkarten verzeichnet liegenden Ort herausgefunden, und wir beschlossen eine Radtour dorthin zu machen. Man kann auch direkt zur Haltestelle Qi Bao mit der U-Bahn-Linie 9 fahren; das weiß man aber vorher nur, wenn man eine Karte hat, die nicht älter als sechs Monate ist, so schnell ändern sich die kartografischen Eintragungen.
Ausgerechnet dem heißen Tippgeber war am Vortag das Fahrrad gestohlen worden und nun war guter Rat teuer. Gutes Rad sollte aber nicht zu teuer sein, deswegen war der erste Weg heute früh der zum Fahrradhändler. Unsere Fahrräder hier in Shanghai haben Vorgänger von uns früher mal gekauft, und für die Nachfolgenden deutschen Professoren werden sie vom Joint College aufbewahrt. Auch wenn der Erwerb vordergründig nur für die restlichen 6 Wochen getätigt wird, handelt es sich doch um eine Anschaffung fürs Leben – sofern der Diebstahl des abgeschlossenen Rades aus dem Fahrradkeller, der eher den Charakter einer Tiefgarage hat, nicht dazwischen kommt. So ein Fahrradkauf muss professionell ausgefeilscht sein und bedarf eines intensiven Händlervergleichs, was schließlich in der Einsparung von 200 Yuan mündete und für einen von uns wertvolles Wissen über den derzeitigen Shanghaier Fahrradmarkt zum Ergebnis hatte, während die anderen drei einen etwas verspätet begonnenen Tagesausflug mit Überraschungen auf sich nehmen mussten.



In die Vororte
Dank der überall hervorragenden Ausschilderung der allergrößtenteils reißbrettartig in Nord-Süd- oder Ost-West-Richtung angelegten Straßen auch mit lateinischen Buchstaben, ist die Orientierung für mich, wenn ich Karte und Kompass habe, recht unproblematisch. Die Karte brauche ich, weil alle Stadtteile immer wieder genau gleich aussehen, obwohl sie stets verschieden sind und ich mit den meist zweisilbigen chinesischen Straßennamen nichts assoziieren kann: war es die Chang Ling oder die Qian Cheng oder die Zhen Ping oder gar die Chong Chung, wo ich abbiegen wollte? (Die Straßenschilder zeigen fast immer vier chinesische Schriftzeichen auf, aber das vorletzte heißt meistens Nan Bei Xi Dong oder Zhong – Süd Nord West Ost oder Mitte – und das letzte am aller häufigsten Lu – Straße. Diese Zeichen kann ich inzwischen sicher lesen.) Den Kompass brauche ich, um immer wieder die Richtung festzustellen, denn auch wenn die Sonne nicht vom Dunst versteckt wird, leuchtet sie trotz im Herbst zunehmender Inklination mittags fast senkrecht vom Himmel herab und wirft keinen eindeutig gerichteten Schatten. Außerdem hatte ich erfahren, dass die Kinder heute bereits im Kindergarten Englisch als Fremdsprache lernen – also im Notfall kann ich mich durchfragen.
Kurz hinter dem neugebauten, riesigen Olympia-Fußballstadion (das alte, nicht ganz so riesige Stadion steht direkt daneben) erreichten wir die innere Stadtring-Autohochstraße, die, ähnlich wie in Paris die Periferique den Übergang zu den dortigen Banlieus darstellt, hier mit einer spürbar anderen Bebauung den Wechsel in die Vororte ankündigt. Es gibt keine Wolkenkratzer mehr, nur noch Hochhäuser, das Straßenbild wird ärmlicher und ungepflegter, die Ausfallstraßen sind breiter, aber es bleibt weiter städtisch; von Landleben lange noch keine Spur. Der heute hauptsächlich für nationalen Flugverkehr genutzte International Airport Hongqiao liegt mitten im Stadtgebiet, wie Tempelhof in Berlin, jedoch mit beträchtlich stärkerem Flugaufkommen hauptsächlich größerer Airbus und Boeing Single-Aisle-Maschinen, die mir in der Einflugschneise zum Beobachten schön nah über den Kopf hinweg geflogen sind. Viel weiter zuvor auf dem Weg nach Qi Bao flogen die Golfbälle, denn unser Weg führt an zwei mehrstöckigen und sehr gut besetzten Driving Ranges vorbei, die gegen die Schädelzertrümmerung zufälliger Passanten mit von mir so hoch noch nie gesichteter Fangnetzte umhegt waren. Dort gab es entlang der Straße viel Golf-Pro-Geschäfte mit günstigen Angeboten internationaler Anbieter. Ich kaufte mir vorsorglich ein blaues Regencape, das man beim Fahrradfahren weit nach vorne und hinten rüberspannen kann, und unter dem man trocken bleibt, denn ziemlich genau zur Mittagszeit hatte eine kurze Regenhusche mich mit meinen beiden Kollegen spontan zur Verkostung einer Rindfleisch-Nudelsuppe in das nächstgelegene Restaurant getrieben – aber konnte ich wirklich sichergehen, dass die Speiseeinnahmezeiten zeitlich stets so geschickt mit dem fallenden Himmelsnass abgestimmt und auch noch ein Wirtshaus in unmittelbarer Nähe sein würden?

Ortsuche mit Fremdsprache
Qi Bao sah genau so aus, wie alle anderen Ortskerne: die Bebauung wurde dichter, der Verkehr auch, die Häuser wurden höher, es gab mehr Geschäfte, mehr Menschen, mehr Trubel. Wo war die gesuchte Altstadt? In Hamburg findet man die Reste der alten Ortskernbebauung ja auch nicht ohne weiteres, wenn man als Ortsfremder in Wandsbek, Niendorf oder Ottensen an den neuen Einkaufsmittelpunkten angelangt ist. Kein Problem, denn es gab mehrere freiwillig uns zur Hilfe eilende englischsprachige Chinesen, die den besten Willen hatten, Gutes zu tun und ihre Kenntnisse mitzuteilen. Von dem Wortpaar „Old City“ verstand niemand weder den ersten Teil, noch den zweiten. Aber mein richtig „Qi Bao“ ausgesprochenes Qi Bao verstanden sie auf Anhieb und kombinierten die Vokabel „Yes“ mit einer Auf-und-Ab-Pumpbewegung der Hand mit nach unten ausgestrecktem Zeigefinger. Ich bekam also auf Englisch bestätigt, was ich schon wusste: wir waren da. Zum Glück warb just an diesem Platz eine überdimensionale Plakatfront für die malerische Altstadt, so dass ich jetzt mit nunmehr meinem ausgestreckten Zeigefinger pumpend darauf zeigend meine Englischkenntnisse vorführen konnte, und wir uns endlich verstanden: Zwei Straßen weiter, und wir waren schon am Ziel angelangt.

The power of education is limited to those few cases where it is superfluous.
Richard Feynman

Der Zeigefinger scheint international verstanden zu werden. Mit dem Mittelfinger, der in Deutschland zu einer Anklage vor Gericht führen könnte, würde man hier niemanden beleidigen. Aber die Antwort auf die Scherzfrage: „Wie bestellt ein Schreiner in der Kneipe fünf Bier?“ (Er streckt alle fünf Finger einer Hand aus. Wegen vorangegangener, berufsgenossenschaftlich anerkannter Arbeitsunfälle sind aber nur noch Daumen und Zeigefinger übrig geblieben) würde in China zur Lieferung von acht Bieren führen. Denn die Chinesen zählen mit einer Hand bis zehn (die Ziffer zehn kann man auch mit der Faust, bei der die gekrümmten Finger zum Angesprochenen hinzeigen, bilden). Bei Telefonnummern und technischen Größen werden auch hier die bei uns üblichen sogenannten arabischen Ziffern benutzt, aber die chinesischen Zeichen werden in Aufzählungen, für die Uhrzeit, die Monate und in sonstigen Tabellen genauso häufig verwendet wie arabische.


Traditionelle Chinesische Stadt
Qi Bao heißt „Sieben Schätze“ und ist eine an zwei Wasserkanälen gebaute 40 mu (2,6 km²) große Stadt aus der Song-Dynastie (960-1126), die in der Ming-Dynastie (1368-1644) und auch danach in der Qing-Dynastie (1644-1911) wirtschaftlich florierte. Heute ist sie ein noch lebendes Fossil des antiken Chinesischen Städtebaus, und man hat erkannt, dass so ein Schatz der Moderne nicht weichen darf, weswegen die Altstadt 2002 renoviert wurde. Der Name kommt vermutlich vom Qi Bao-Tempel her, der schon aus der Zeit der fünf Dynastien und 10 Statten (907-960) stammt, weitreichende Reputation hatte und das abgelegene Qi Bao bekannt machte.


Die Volkslegende sagt jedoch, dass sieben Schätze, die in Qi Bao zu finden waren, den Namen begründen: eine große Bronzeglocke aus der Ming-Dynastie, die auf mysteriöse Weise angeschwemmt wurde; eine Gold-Lotus-Schrift, die von einer kaiserlichen Konkubine im 10. Jahrhundert geschrieben wurde; ein eiserner Buddha, ebenfalls aus der Ming-Dynastie, ein 1000 Jahre alter Chinesischer Trompetenbaum (Catalpa bignonioides), eine Jade-Axt, ein goldener Hahn und ein Paar Jade-Stäbchen. Nur für die Existenz der ersten vier gibt es schriftliche Belege und nur die Glocke und die Schrift haben es bis heute überstanden.


Für je 30 Yuan erwarben wir eine Kombi-Eintrittskarte (einer meiner Kollegen, der schon im Ruhestand ist und letztmalig einen Shanghai-Einsatz macht, legte Ausweis vor um Rentnerrabatt zu bekommen: das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich auch als Senior durchging), die uns berechtigte, acht mehr oder weniger historisch nachempfundene Einrichtungen zu besichtigen, von denen wir ein Bauernkontor, Zhous Haus der Miniaturen-Steinschneiderei, eine alte „Wein“-Kelter und das Zhang Chongren Museum und das „Cricket House“ schafften.


Die ganz schmalen Sträßchen erinnerten mich an die Drosselgasse in Rüdesheim, wo man ja auch echte, typische, traditionelle Lokalkultur bestaunen kann. Jedoch, während am Rhein vorwiegend amerikanische und japanische Touristen anzutreffen sind, gab es hier ausschließlich Chinesen. Die vielen kleinen Kunsthandwerk- und Antiquitätengeschäfte, feinen Teehäuser, Kaligraphieläden, traditionellen Apotheken und die Vielzahl verschiedener Fressbuden regte meine Augen ob der Auswahl ihrer Angebote und den Appetit der Chinesischen Besucher an: es gab polierten Reis mit Bohnenmus in Lotusblättern, geröstete Süßkartoffeln, geräucherte Kröten am Spieß, kandierte Küken am Stiel, gedünstete Schweinehappen mit weichgekochter Schwarte, Fettschicht und Fleisch, quietschbunte Süßigkeiten und vieles mehr.


Wir entschieden uns angesichts dieser verlockenden Gaumenkitzel für drei verschiedene Sorten grünen Tee im Separee eines typischen Teehauses, wo ich mich fühlte, als sei ich im Hotel Lindtner in Hamburg-Harburg: Die Atmosphäre der beiden Etablissements ist natürlich total unvergleichlich, nicht aber die Preise für einfache Getränke.


Im Haus der Miniaturen-Steinschneiderei waren über mehrere Etagen lauter Vitrinen aufgestellt, in denen die Werke eines zeitgenössischen Künstlers, Herr Zhou, und seiner Tochter ausgestellt sind. Lauter klassisch-traditionelle Gegenstände sind haarfein und ins kleinste Detailgetreu nachgebildet. Spruchsteine sind übersät mit chinesischen Schriftzeichen, die so winzig sind, dass man sie nur mit der Lupe lesen kann (so man denn des Chinesischen mächtig ist.
Beim Cricket House assoziierte ich zunächst, die Engländer hätten während ihrer Kolonialperiode dieses langweilige Ballspiel auch auf die Chinesen übertragen. Cricket meint hier aber die Grillen, die erforscht, gezüchtet und gehandelt wurden, weil Grillenkämpfe in banquetttischgroßen „Arenen“ seit Jahrhunderten ein „Sport“ der traditionellen Chinesen war, die die Viecher unter Einsatz hoher Wettprämien gegeneinander antreten ließen. Die ganze Biologie der Tiere und alle Gerätschaften und Methoden früherer Tage wurden erklärt und vorgeführt.


Zhang Chongren ist ein sehr bekannter Künstler, dem ich bewusst erst in seinem Museum begegnet bin. Er wurde 1907 in Qi Bao geboren, hat in Shanghai früh eine Ausbildung an der französischen Tu Shan Wan-Kunstschule genossen und hat in Brüssel an der Académie des beaux-arts studiert. Er wurde mit Hergé, dem Comiczeichner von Tim und Struppi zusammengebracht, als dieser ein Heft über China mit dem Titel Le Lotus bleu (Der blaue Lotus) herausbringen wollte. Hergé hatte andere Ausgaben sehr vorurteilsbeladen getextet und fremde Völker und Systeme kamen dabei sehr schlecht weg. Zhang verhinderte dies beratend durch seine künstlerische Kompetenz. Später kehrte er nach China zurück, machte den Kommunistischen Umbruch mit, wurde in der Kulturrevolution zum Straßenkehrer umfunktioniert, bevor er später als Leiter der Shanghaier Akademie der Künste Denkmäler von Helden der Revolution schuf. Er emigrierte nach Frankreich und starb als französischer Staatsbürger 1998 in Paris. Zhang hat neben der Bildhauerei Aquarelle gemalt, die chinesische und westliche Kunst verschmolzen und für mein Auge sehr schön sind. Sein Atelier hatte er in der Straße, wo mein Hotel steht (Hebei Lu No. 25, Lane 592); diesen historischen Ort will ich demnächst mal aufsuchen.


Die „Wein“-Kelter muss man sich eher wie eine Einrichtung zur kunstvollen Herstellung von Essig, Soja- und Fischsaucen vorstellen, was ein traditioneller chinesischen Beruf war. Da gibt es paar wenige Einrichtungsgegenstände zu sehen. Angeschlossen war ein neuer Laden, der solche und andere Flüssigkeiten verkaufte. Unter anderem gab es den Sud aus eingelegter Schlange, Skorpionen, Ginseng und anderes wegen der dunkeltrüben Einfärbung von mir nicht identifizierbares. Ich habe mir 125 ml von irgendwas in schicker Verpackung mit einem Hahn auf der Tonflasche gekauft und muss mir nun die rein chinesische Beschriftung übersetzen lassen. Ganz sicher ist das wieder etwas, das „good for mens health“ ist.

Eine fröhliche Heimfahrt
Als wir unsere anderthalb stündige Rückfahrt antraten, begann es zu Regnen, wobei wir lange genug unterwegs waren, um alle Darreichungsformen auskosten zu können: leichter Niesel, Sturzbäche, kurze Unterbrechung in wechselnder Folge. Ich war mit meinem Regencape ganz hervorragend ausgerüstet und blieb trocken. Wobei ja auch kein Mensch davon ausgeht, dass ein trockener Weißwein keine Flüssigkeit ist. Ich bin sehr würdevoll meinen Weg gefahren.


Unterwegs begegnete mir eine junge Ein-Kind-Familie, die deutlich machte, warum weiterer Kindersegen unpraktisch ist: ein gemeinsamer Ausflug mit der einzig zur Verfügung stehenden Familienkutsche wäre dann nicht mehr möglich. Nur manche Fahrer größerer Motorräder (125 ccm, Einzylinder) tragen einen Helm, wenn überhaupt. Das sind Halbschalen aus Plastik oder auch freundlich bunt umlackierte Stahlhelme. Die meisten Helmträger lassen den Gurt frei baumeln; das gilt auch für die Polizei. Im Falle eines Sturzes ist der Helm vom Kopf, noch bevor er auf dem Boden aufschlägt. Leder-Schutzkleidung sollte man in Shanghai nicht tragen, weil man dann sofort an Hitzschlag sterben würde. Ich trage hier auf meinen Ausflügen immer meine Trekking-Systemhose, die mein Sohn mir empfohlen und die ich im Sonderangebot günstig gekauft habe. Sie ist luftig, leicht zu waschen, trocknet blitzschnell und hat Taschendiebstahl verhindernde Reißverschlusstaschen - und ich bin begeistert.
Die Heimfahrt im Regen fand bei unverändert schön warmen 31 °C statt. Hörte der Regen auf, war der Boden ganz schnell wieder trocken, denn alles Wasser wird gebraucht um die über 90 % relative Luftfeuchte konstant sicher zu stellen. Im Dunkeln bei Regen mit unbeleuchtetem Fahrrad im dichten Verkehr tiefe Pfützen zu umradeln, ruft eine herrliche Vorfreude auf unbekleidetes Chillen bei laufender Klimaanlage hervor. Das ist genau das gleiche Gefühl wie es der ersehnte heiße Grog nach einer Wattwanderung im Winter auf den Nordfriesischen Inseln auslöst – nur irgendwie ganz anders.

Erkenntnis des Tages: Zur passenden Bekleidung bei Regen zählt auch die richtige Geisteshaltung.

Keine Kommentare: