Mittwoch, 24. September 2008

Kunstausstellung

Unterschiede in der Esskultur
Ich war in Hamburg auch schon mal in einem Chinarestaurant. Hier gehe ich, das ist natürlich eine Plattitüde, fast täglich in ein Chinarestaurant. Aber erst hier habe ich wesentliche Unterschiede entdeckt, von denen ich berichten will: wie essen die Chinesen? – und höchsten nebenbei will ich vielleicht erwähnen, was sie essen, denn das spielt zunächst keine Rolle. Wenn Deutsche miteinander ins Restaurant gehen, gibt es entweder ein gesetztes Essen oder jeder bestellt à la Carte. Je nach dem, was man ausgeben will, kann das ein Gang sein oder mehrere. Wenn man höflich sein will, fragt man seine Begleitung: „was wollen Sie bestellen?“ Und dann gibt jeder seine Bestellung auf. Später bekommt man sein Essen serviert (in guten Restaurants werden alle Bestellungen gleichzeitig serviert, damit die Gäste zusammen anfangen können und keiner aus Höflichkeit sein Essen „kaltwarten“ muss), isst es brav auf und zum Schluss zahlt jeder für sich, was er bestellt hat. Wenn vorher eine Einladung ausgesprochen wurde, übernimmt der Gastgeber die Rechnung – eine zum Beispiel bei auswärts studierenden Kindern stets als willkommene erlebte Abwechslung beim Besuch der Eltern.


Tischsitten
Wenn Chinesen für sich alleine Essen oder in die Mensa gehen, dann bestellt auch jeder, was er haben will und schiebt sich den Inhalt seiner Plastiknudelsuppenschüssel oder seines Edelstahlmensamuldentabletts möglichst wenig zeitraubend in den Mund.
Wenn aber Chinesen gemeinsam essen gehen, dann ist das immer ein (kleines) Festessen. Wenn möglich, und dass ist ab sechs Personen der Fall, sitzt man an einem runden Tisch. Wenn dessen Durchmesser so groß ist, dass man nicht einschließlich Stäbchenverlängerung bis in den Nahbereich des genau gegenüber Sitzenden reichen kann, dann steht auf dem Tisch eine Drehscheibe, selbst in den schummerigsten, kleinsten Betrieben. Wenn man höflich sein will (und Chinesen wollen oft höflich sein und immer höflich erscheinen), fragt man: „was wollen wir bestellen?“ und sucht dann von der Karte Speisen aus, zu denen jeder eine Zustimmung hat und von denen alle der Meinung sind, dass sie miteinander harmonieren. Bis die immer sehr umfangreiche Karte durchdiskutiert ist und bis dann endlich die Bestellung erfolgen kann, dauert es also immer ziemlich lange. Die Serviererin steht währenddessen geduldig dabei und gibt auch mal Ratschläge, von denen ein häufiger 没 由 „méi yóu“ (nicht haben-wegen) ist, aber auch Aussagen zur Portionsgröße macht sie, damit man nicht unnötig viel bestellt. In der Regel ordert jeder „sein“ Essen und alle zusammen eins mehr als Personen am Tisch sind. Wenn Reis gewünscht wird, muss man den ausdrücklich als gedämpften Reis portionsweise oder als gebratenen Reis wie eine Speise bestellen (Nicht so in der Mensa, wo gedämpfter Reis zur Grundmagenabfüllung standardmäßig dazu gehört). Zu den sehr scharfen Sichuan-Speisen empfiehlt es stets für jeden Reis als Neutralisator zu bestellen. Zum Gedeck, das schon vorbereitet auf dem Tisch steht oder gleich nachdem man zum Tisch geleitet wurde (selber reinstürmen und sich seinen Platz suchen, wie in Deutschland, gibt es nicht. Wenn einem der zugewiesene Platz aber nicht gefällt und andere Tische noch frei sind, dann sagt man es und kriegt den Wunschtisch angezeigt) serviert wird, gehört auf jeden Fall ein kleiner Teller, eine ganz kleine Schüssel und ein Porzellanlöffel, der in einfachen Lokalen aus Plastikimitat sein kann. Selbstverständlich gibt es die Stäbchen, die von der Serviererin (kellnern ist eine eher weibliche Beschäftigung) aus der Papierhülle herausgezogen werden und an den Platz jedes Gates gelegt werden. Oft gibt es eine Serviette dazu, die in vornehmen Lokalen aus Stoff ist und feucht und heiß dampfend serviert wird, die in weniger vornehmen Lokalen aus einem Einfachstoffgewebe besteht und feucht und leicht parfümiert in einer vorgefertigten Kunststofftüte zum aufreißen serviert wird, die in einfachen Lokalen aus Papier (trocken) besteht und die in simplen Buden ganz fehlt. Manche Wirte verlangen für Serviette und Stäbchen einen Gedeckaufschlag, den man zurückweisen kann. Dann bekommt man kurze Einmalstäbchen und muss sich die Finger heimlich an der Hose abwischen. Zur Restaurantkultur gehört das Einschenken einer kleinen Tasse Tee, kaum dass der Gast sich gesetzt hat. Das ist hervorragend schmeckender, frisch aufgebrühter Pu-er-Tee oder grüner Tee, der vielleicht schon länger in der während des ganzen Essens auf dem Tisch verbleibenden Teekanne auf den Gast gewartet hat oder es ist eine deutlich nach der Chlorbeimengung des Trinkwassers schmeckende Lieblosigkeit. Die Tasse Tee trinkt man auch zum Abschluss der Mahlzeit, sofern einem danach ist.


Andere Speisezubereitung
Da alle Speisen nur mit Stäbchen gegessen werden, müssen sie mit diesen auch handhabbar sein, dass heißt, alles wird vor dem kochen, braten, sautieren bereits fein geschnippelt; das machen aber keine Maschinen, sondern zahlreiche Küchenhelfer. Entsprechend schnell ist das Kochgut gar, Gemüse bleibt knusprig und behält seine Farbe. Wenn etwas im Ganzen zubereitet werden muss, zum Beispiel eine Ente gebraten, dann wird dieses unmittelbar vor dem servieren mit dem Hackebeilchen quer durch alle Knochen hindurch in mundgerechte Stücke zerkleinert. Manchmal werden auch Speisen serviert, der Einzelstückgröße in keinen Mund passt. Dann wird das betreffende mit den Stäbchen gegriffen und davon abgebissen; dabei ist es auch üblich mit dem Löffel zu unterstützen. Ein Steak, das man auf dem Teller erst in Happen schneiden müsste, gibt es einfach nicht. Wenn die englische Übersetzung der Speisekarte von einem Steak spricht, ist Fleisch, gebraten, gemeint, und das wurde schon vor dem Braten zerschnitten.


Dann kommt das Essen, und zwar zuerst das, was der Koch in der Küche zuerst fertig gemacht hat. Hält das Lokal was auf sich, dann ist die Präsentation des Essens auch eine Augenfreude. Schon beim Schnippeln wurde auf geometrische Gleichförmigkeit geachtet; aus Schalen werden Ornamente oder in der Kombination mit anderen Gemüsen stilistische Kunstwerke. Sobald etwas serviert wurde, fangen alle mit dem essen an. Jeder nimmt sich aus der in der Tischmitte stehenden oder der auf dem Drehteller herbeirotierbaren Schüssel, was er zwischen den Stäbchen greifen kann. Handelt es sich um etwas zu kleines oder zu flüssiges, dann holt man sich mit dem Porzellanlöffel eine kleine Menge in sein kleines Schälchen und schiebt es dann mit den Stäbchen daraus direkt in den Mund. Nach und nach kommt in schneller oder in langsamer Folge, was bestellt wurde. Chinesen lieben das Abnagen; wenn Ente serviert wird ziehen sie einen Flügel den schieren Brustfleisch vor. Auch Schweinerippchen mögen sie, da muss das Fleisch möglichst durchwachsen sein. Was an unzerkaubarem übrig bleibt, wird auf dem Tisch auf einem Häufchen abgelegt. Jeder isst von allem. Wenn alles auf dem Tisch steht, wechselt man beliebig hin und her, keiner nimmt alles von einer Speise, nur weil sie ihm besonders schmeckt, sondern man achtet darauf, das alle drankommen. Dazu helfen die Höflichkeitsformen, die vorsehen, dass man den anderen mit gestellter Fürsorge geradezu auffordert, sich zu bedienen und der dann mit gespielter Bescheidenheit schroff ablehnt, jemandem anderen etwas wegzunehmen. Dazu eine mögliche Szene, bei der ein Besucher (B) gerade beim Hausherrn (H) angekommen ist:

H: „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
B: „Nein danke!“
H: „Etwas heißes oder etwas kaltes?“
B: „Nur keine Umstände!“
Weil es draußen heiß ist, wird was Kaltes vorgesetzt.
B: „Danke!“ Er trinkt sofort ein paar Schlucke, weil er wirklich durstig ist.


Trinkt man ganz aus, wird sofort wieder aufgefüllt. Will man tatsächlich nichts (mehr) haben, lässt man das Getränk einfach stehen. Zum Essen trinkt man nicht unbedingt etwas. Wenn doch, dann meistens Bier, das Nationalgetränk der Chinesen. Tee wird eher als Heiltrank verstanden, wie überhaupt das ganze Essen; jede Speise hat ihre spezielle Wirkung. Frauen vermeiden Alkohol oft ganz, weil Chinesen nicht viel vertragen. Dann gibt es eben Sojamilch, Wassermelonensaft, Maiskernsaft oder anderes. Abgegessene Teller werden sofort abserviert, selbst wenn die lecker Soße eigentlich noch verspeist gehörte, man sie aber mit den Stäbchen leider nicht greifen oder schöpfen kann. Am Schluss gibt es, wenn bestellt, eine Suppe, die aber deutlich dünner ist als Suppen in Deutschland zu sein pflegen. Das dient der Flüssigkeitsaufnahme; außerdem sind meistens leckere Brocken unten in der Suppe drin, die man gerne mit dem Stäbchen herausgreifen darf. Vor der Rechnung wird dann noch der Reis serviert. Der dient nicht etwa zur besseren Aufnahme einer leckeren Soße, sondern ist lediglich zum Restabfüllen immer noch nicht Sattgewordener da.
Um die Rechnung spielt sich ein Schaukampf chinesischer Höflichkeit ab, wer denn nun bezahlen darf. Allerdings wird genau registriert, wer schon mal dran war, und niemandem würde es gelingen, sich dauernd zu drücken. Deswegen ist es immer öfter üblich, es „going dutch“ zu machen: jeder zahlt, was er bestellt hat oder die Rechnung wird durch die Zahl der Köpfe geteilt. Kein Kellner würde aufgefordert, einzeln abzurechnen, das sähe in chinesischen Augen geizig aus.
Nach dem Essen gibt es, wie gesagt, den Tee wegen seiner medizinischen Wirkung. Ein Zusammentreffen zum Biertrinken oder bei einem gepflegten Glas Wein zusammensitzen kennt man nicht.
Mir gefällt die Art des gemeinsamen Essens sehr und ich will zu Hause sowas auch gelegentlich einführen. Dann müssen die Speisen kleingeschnitten sein – schöne Bambusstäbchen habe ich für die ganze Familie schon besorgt. Für die Ablage der Abfälle wird es jedoch eine Extraschale geben, die Sauerei auf der Tischdecke will ich meiner Frau nicht zumuten.


Kunstausstellung
Heute bin ich mit einem Kollegen bei trübem Wetter ins Shanghai Art Museum geradelt, wo wir uns die 7. Biennale, die wichtigste Ausstellung zeitgenössischer internationaler Kunst in China anschauten. Als Thema konstruierte man den Begriff „Translocalmotion“, um die Migrationsbewegungen und die Mobilität in der globalisierten Welt besonders herauszustellen. Die künstlerischen Arbeiten sind den drei Rubriken „Project“, „Keynote“ und „Context“ zugeordnet. Unter dem Stichwort „Project“ wurden 25 der eingeladenen Künstlerinnen und Künstler gebeten, den nahe gelegenen Volkspark (People’s Square) als visuelle Metapher und Ausgangspunkt ihrer Arbeiten zu nehmen, was jedoch nur zum Teil umgesetzt wurde.


Direkt auf dem Platz oder in seiner unmittelbaren Nähe sind keinerlei künstlerische Ergebnisse zu sehen. Alles findet ausschließlich in dem historischen Gebäude selber statt, wo nur eine kleine Schicht Kunstinteressierter hineingeht. Obwohl einige Arbeiten das Thema kritisch bearbeitet haben (z.B. eine Wanderarbeiter-Normalunterkunft im Maßstab 1:2 von Jin Shi mit dem mehrdeutigen Titel „½-Life“), hatte ich den Eindruck, dies sei eine Vorbereitungsveranstaltung auf die Expo2010, mit der die Richtigkeit des Weges, den die Regierung eingeschlagen hat, künstlerisch bestätigt werden soll. Mich hat eine Zwischenetage besonders begeistert, wo die historische Entwicklung des Volksplatzes von den Reisbaufeldern über die Pferderennbahn der Britischen Konzession und über den Volksaufmarschplatz in der Zeit kommunistischer Omnipräsenz bis zur Kultur- und Konsummeile von heute zu sehen war.


Eines der sehr zahlreichen Videowerke hat mir auch gut gefallen, von Zhou Tao mit dem Titel 1,2,3,4. Das war ein Zusammenschnitt von Aufnahmen von Shanghaier Firmen- und Geschäftsbelegschaften, bei deren morgentlichen Motivationdrillübungen. Das Video kann ich leider nicht zeigen, aber eine Beschreibung auf Deutsch gibt es hier: http://www.artnet.de/magazine_de/reviews/aschmid/aschmid09-16-08_detail.asp?picnum=8
Aufgefallen ist mir, dass eigentlich nur junge Menschen als Besucher da waren; das fand ich erstaunlich gut, weil junge Menschen in Deutschland meist kulturresistent sind. Vielleicht war das aber auch nur eine subjektive Täuschung meinerseits, denn in die Ausstellung werden nur 5000 Besucher gleichzeitig eingelassen und bezogen auf die 16 Mio. Einwohner Shanghais, ist das in Relation so, als ob würden 42 junge Harburger zu einer besonderen Ausstellung ins Helms-Museum finden. Das lässt mich wieder für Deutschlands Jugend hoffen. Die chinesische Jugend widmete sich übrigens nicht in erster Linie den Kunstwerken, sondern verschoss vornehmlich tausende von Fotos pro Person mit Titeln wie: „Ich in einer Ausstellung“, „Meine Freundin in einer Ausstellung“, „Wir beide in einer Ausstellung“. Dabei wies ein Schild am Eingang darauf hin, dass Fotografieren strengstens verboten sei. Keiner der zahlreichen Aufpasser dachte überhaupt daran, jemals deswegen einzuschreiten. Auf dem gleichen Hinweisschild stand übrigens auch, dass Psychopathen die Ausstellung nicht besuchen dürften – ich bin mir ziemlich sicher, dass die Security-Leute auch da nicht so genau darauf achten!


Erkenntnis des Tages: Bei Kunst und Essen kommt es stark auf den Geschmack an

Keine Kommentare: