Kein Lehrerlob am Fuxing mehr
Am heutigen, richtig brüllend heißen Tag (an der roten Ampel vor der verkehrsreichen Chong Qing Nan Lu, wo ausnahmsweise, auch wegen der Polizeipräsenz, sich niemand traute trotzdem einfach so rüberzufahren, konnte ich mit meinem Fahrrad an allen anderen vorbei bis ganz nach vorne an die Sichtlinie rollen. Warum blieben die anderen zurück? In der Sonne schmorend wurde mir klar: die waren alle im Schatten der Platanen stehen geblieben) war in China nationenweiter „Tag des Lehrers“. Das war mir zwar vor einigen Tagen schon gesagt worden, ich hatte es aber vergessen – und bemerkt habe ich es auch erst am Nachmittag, als auf meinem Schreibtisch und dem jeder meiner Professorenkollegen ein kleiner, nett hergerichteter Strauß Schnittblumen (weiße Rosen und lila Bartnelken) stand, den die Sekretärin (und nicht die Studenten "freiwillig", wie sonst in China üblich) liebevoll vorbereitet hatte, was mir deutlich auffiel, als ich sie aufsuchte, um mich bei ihr persönlich überschwänglich zu bedanken.

Erst war ich nämlich verwirrt: schenkt man Blumen in China nicht ausschließlich zur Beerdigung? (Dass alle Medaillengewinner bei den Olympischen Spielen auch einen Blumenstrauß überreicht bekommen hatten, weil das IOK auf dieser Tradition bestanden hatte, führte in China zu Unverständnis). Wiesen unsere Blumen, vielleicht unbeabsichtigt, auf ein böses Omen hin? Denn jetzt ist es raus: ab dem Wintersemester 2009/2010 wird das Shanghai-Hamburg-College vollständig an den Jun Gong-Campus, weit draußen im Industriegebiet, verlegt. Schon die Erstsemester, die jetzt gerade aufgenommen werden, erhalten ihre Vorlesungen nur noch dort.

Mit der Idylle des historisch deutschen Fuxing-Campus ist es nach genau 100 Jahren, zumindest für unseren binationalen Studiengang mit chinesischem und deutschem Bachelorabschluss, bald vorbei. Dafür gibt es aber schon sehr angemessene Nachfolger: das Sino-Britisch-College. Das ist auch eine Kooperation mit der USST. Aber deren Konzept ist ein gutes Stück gewichtiger und marktwirtschaftlicher als unseres. Die Kooperation läuft mit den Universitäten in Manchester, Leeds und weiteren acht Städten Großbritanniens; das Lehrpersonal ist ausschließlich englisch-muttersprachlich, die Professoren sind in der Regel für ein Semester oder ein Jahr in Shanghai tätig. Das rein englischsprachliche Studium sieht acht Semester Regelstudienzeit vor, wobei mit einer Art Vorstudium begonnen wird: die Studierenden lernen erst einmal richtig englisch sprechen und haben (Vor)-Kurse in Mathematik, Physik und anderen Grundlagenfächern, um sie zunächst auf Universitäts-Eingangsniveau zu hieven. Das Studium selber besteht aus einigen Studiensemestern in Shanghai und der Mehrzahl der Studiensemester an einer der kooperierenden Britischen Hochschulen. Das Studienfächerangebot umfasst das gleiche Angebot wie die von der USST rein auf Chinesisch angebotenen Studiengänge. Pro Jahr müssen die Studierenden 65.000 Yuan an Studiengebühren bezahlen. Im vergangenen Jahr haben 800 Erstsemester das Studium begonnen, in diesem Jahr sind es bereits 900. Da kommt, für chinesische Verhältnisse erst recht, richtig Asche in die Kasse rein! Das Sino-Britisch-College ist auch richtig schmuck hergerichtet worden. Als ich vor fast drei Wochen ankam, herrschte sehr geschäftiger Baustellenbetrieb. Im Haupthaus waren die Bauarbeiter erst mit dem Herausspitzen der alten Trennwände, Treppenstufen und Sanitäranlagen beschäftigt. Für mich sah das wie uneinholbar aus. Aber letzten Freitagnachmittag wurden bei ordentlichem Regen die Straßen auf dem Campus mit dicken Wasserstrahlen aus Feuerwehrschläuchen abgespritzt. Jetzt sieht alles von außen pikobello geputzt aus. Auch der Innenhof, der als Zwischenlager für handumgeschichteten Bauschutt diente, war makellos gereinigt. Jetzt ist er knallvoll mit Shanghaier Professoren-Autos zugeparkt. Da war mir der Bauschutt fast lieber. Da ist zwar der Zementfleck auf der Straße noch zu sehen, wo der Zementmischer unablässig mit der Schippe aus Sand, Wasser und Zement sein Baumaterial angerührt hatte und manche Ecke und diverse Mauerdurchbrüche sind nur 95%-ig sorgfältig fertiggestellt worden: Cha bu dao – fehlen-nicht-[Zählwort] – „Es fehlt nicht viel“ ist ein verbreiteter Begriff, der als Ersatz für den ganz ordentlichen Abschluss benutzt wird.


Verwöhnte Ein-Kind-Gören mit neuen Problemen
Trotz allem: es ist ein schicker Elite-Campus geworden – und tatsächlich rechtzeitig zum Semesterbeginn fertig! (Wohin sollten die vielen Wanderarbeiter denn auch gehen, wenn sie Freizeit hätten? Genug Geld haben sie nicht, sie können froh sein, wenn sie auf der Baustelle wohnen und sich versorgen können – da ist es manchem bestimmt recht, wenn er mit Überstunden meint seinem Stück von dem Wohlstandskuchen etwas schneller näher zu kommen als diejenigen, die das nicht dürfen.) Die Erstsemester wurden angemessen empfangen: an jeder Ecke ein Stand, wo sie sich eintragen und informieren konnten und natürlich mit den obligatorischen Spruchbannern – hier jedoch weiß auf blau und zweisprachig chinesisch-englisch:

„Haben-Traum-Gedanke, Jeder-[Zählwort]-Mensch-alle-können-hervorragend“ ([VP]-nein-aufstehen) ist ein fester Begriff und heißt hervorragend) – „Have a Dream, Dreamers are forerunners“. Ich hätte das so übersetzt: „Lebe Deinen Traum – Träumer sind Sieger!“ Aber deutsch ist ja auf Fuxing nicht mehr so richtig gefragt.
Einen Elite-Campus können die Studierenden ja wirklich beanspruchen, denn bezahlen tun sie doch genug dafür – ganz genau genommen zahlen sie nichts. Das machen ihre Eltern für sie. Bei aller Betonung des Familienclans und der unüberschaubaren Anredenvielfalt für die Verwandtschaftsbeziehungen, tritt durch die jetzt schon eine Generation lang praktizierte Ein-Kind-Ehe ein enormer sozialer Wandel zu Tage. Unter den verwöhnten Gören gibt es den Begriff „Bruder“ oder „Schwester“ praktisch gar nicht mehr. Deswegen werden oft die Cousins mit „Bruder“ angeredet. Aber sollte die erzwungene Geburtenregelung weiter so konsequent gelebt werden, gäbe es nach der nächsten Generation auch keine Cousins und Cousinen mehr! Zwei interessante Auswirkungen sind festzustellen: Es gibt Studenten bei uns hier, die nicht wie alle anderen zwischen 20 und 22 Jahre alt sind, sondern wesentlich älter. Die sind auch nicht mit sechs eingeschult worden, sondern erst mit acht oder neun. Wie kommt es, dass ein offensichtlich zurückgebliebenes Kind in der Lage ist, so ein anspruchsvolles Studium aufzunehmen und unter Umständen sogar sehr gut zu bewältigen? Das liegt daran, dass es in China in ländlichen Gegenden immer häufiger vorkommt, dass erst zwei oder drei Jahr nach der Eintragung eines Kindes ins Geburtsregister festgestellt wird, dass es sich damals um eine Zwillingsgeburt gehandelt habe und nun das vergessene zweite Kind auf das alte Datum nachgetragen werden müsse. Auch die Verteilung der Geschlechter bei den Neugeborenen liegt nicht, wie man es erwarten würde, um den Wert 1:1 herum, sondern es werden wesentlich mehr Ein-Kind-Söhne als Ein-Kind-Töchter geboren. Statistisch gibt es heute schon mehrere Millionen Männer für die keine Frau übrig ist, auch keine hässliche. Da kann man sich vorstellen, dass manches Problem sich aufstaut. Im heutigen China wählen sich die künftigen Eheleute gegenseitig selber aus; die Verheiratung durch die Eltern, wie in früheren Zeiten ist passé. Aber trotz Männerüberschuss finden in Shanghai die jungen Frauen keinen Mann – und nicht umgekehrt! Auf acht suchende Mädchen (Frauen dürfen in China erst ab 20 heiraten, Männer ab 25; die Zahl der unverheiratet miteinander lebenden Paare ist groß; auch unter meinen Studenten gibt es solche Paare) kommen drei Männer, die noch zu haben sind. Wie kommt das? Wenn eine Frau einen Mann sucht, dann muss er besser gebildet sein und wohlhabender als sie, denn dieses geschlechterspezifische Schichtengefälle gehört zu einer guten Partie einfach dazu. In der Großstadt, und in Shanghai allemal, sind auch die Frauen gut ausgebildet und kommen aus wohlhabenden Elternhäusern. Und dann ist es schwer einen Mann zu finden, der das noch übertrifft. Als Abhilfe gibt es eine inoffizielle, aber allen bekannte Einrichtung zur Gegenwehr. An bekannten Plätzen, zum Beispiel samstags und sonntags im Century Park. halten sich die Mütter(!) der betroffenen Kinder auf und tauschen einschlägige Informationen aus: „Was macht ihres beruflich? Was verdient es? Wie alt?“ usw. in der Hoffnung, hier den richtigen Partner möglichst bald zu finden, denn bei dem unversiegbaren Nachwuchsreservoir hebt fortgeschrittenes Alter nicht mehr ganz knusprig junger Damen den Heiratsmarktwert nicht gerade an. Angesichts dieser Erkenntnisse bin ich richtig dankbar, vor nunmehr über 30 Jahren sehr angemessen und im höchsten Maße befriedigend ausgestattet worden zu sein; und im Nachdenken darüber, fällt mir auf, dass noch bevorstehende sieben von zehn Wochen Singledasein in Shanghai, trotz aller spannenden Erblebnisse, nicht ausschließlich eine Steigerung der Lebensqualität darstellen.
Das nächste wichtige Thema nach erfolgreicher Partnersuche ist die Frage nach dem Kinderkriegen in China und den Traditionen die mit ihnen zusammenhängen. Darüber will ich bald berichten.
Erkundungsfahrt mit Überraschung
Heute am Abend bin ich in Ermangelung eines Internet- oder Papierfahrplans der Stadtbuslinien einfach in die Linie 24 eingestiegen, um mal zu erkunden, wohin man damit kommt. Erste Erkenntnis: in den Stau. Endhaltestelle war am nordwestlichen Rand des inneren Autobahnrings in einem etwas schäbigen Sanierungs- und Neubaugebiet mit lauter Hochhäusern. Das Leben spielte sich trotzdem auf der Straße ab. Die Leute wollen offensichtlich auch in ihrer Freizeit von möglichst vielen lauten, lärmenden Menschen umgeben sein und sich den unterschiedlichsten Gerüchen, Düften und Gestanken aussetzen.
(Ich habe trotz der in dieser Jahreszeit permanenten Wärme in Shanghai, die sich manchentags zu großer Hitze hin entwickelt, und trotz sichtbar schwitzender Menschen, denen der Schweiß von der Haut perlte, noch nie üblen Körpergeruch gerochen. Auch nicht eingequetscht in der U-Bahn, wo Achselnähe unvermeidbar ist. Manche Frauen haben einen dezenten Parfumgeruch, die meisten Menschen riechen nach gar nichts. Außer manchmal Mundgeruch. Von der Hamburger S-Bahn könnte ich, trotz sitzplatzweitem Abstand ganz andere Erlebnisse berichten.)
Von dort wanderte ich zur nächsten U-Bahnhaltestelle Zhen Ping Nan Lu der Linien 3 und 4, die an einer aufgeständerten Strecke liegt und mich an den Dammtorbahnhof in Hamburg erinnerte. Die hiesige U-Bahn ist besser mit der Hamburger S-Bahn zu vergleichen und noch besser mit der Stuttgarter S-Bahn, weil sie überdach mit Pantografenstromabnehmern von wechselstromgespeisten Drehstromasynchronmotoren angetrieben wird und ganz moderne Durchgangswaggons besitzt. Die Fahrtrasse ist stark geräuschgedämmt, aber die Motoren singen beim Anfahren sehr laut. Unterwegs gab es überall fliegende Händler. Einer pries ein wundersames Ungezieferabwehrgerät an. Dazu plärrte er, über ein Headset verstärkt, im ca. 30-Sekundentakt seine immer gleichen Sätze, die ich nach einiger Beobachtung dem Sinne nach verstand. Zu seiner Ausstattung gehörte ein an eine große Mausefalle erinnernder Drahtkäfig, in den maximal acht dichtgepackte Nager hätten hineingequetscht werden können, und in dem sich vier kleine Hamster befanden. Offensichtlich mögen es chinesische Hamster auch enger als die aus dem Rest der Welt. Außerdem hatte der Marktschreier eine handelsübliche Mehrfach-Steckdose mit Verlängerungskabel in der Hand, die von irgendwoher Netzspannung bezog. Zuerst steckte er ganz nahe an seinem Präsentationstischlein eine Fassung mit Stromsparbirne in die Steckdose, die dann zu leuchten begann. Anschließend trat er zurück, um demonstrativ der Abstand zu vergrößern. Dann steckte er sein zum Verkauf angebotenes anderes Leuchtgerät in die Steckdose und sofort fielen seine possierlichen Tierchen krampfartig in zitternde Starre, als habe er sie auf sein Showprogramm abgerichtet. Es gab keinen elektrischen Kontakt zum Käfig; das musste irgendeine Strahlung oder ein Schall sein, auf den die Lieblingshaustiere ganzer Kindergeneration so widerwillig reagierten. Vermutlich geht die Verkaufsveranstaltung nicht ganz konform mit dem deutschen Tierschutzgesetz, aber ich konnte nicht leugnen, dass das ganze Arrangement eine gewisse Überzeugungskraft hatte. Ich leistet mir aus rein wissenschaftlicher Neugier die Anschaffung eines der Ungeziefervertreibungsgeräte einschließlich chinesischsprachigem Begleitzettel für unverschämt teure 30 Yuan und verschaffte durch den Verkaufsvorgang den unfreiwillig assistierenden Kreaturen eine Verschnaufpause von über fünf Minuten, weil der Tierhalter große Anstalten machte, als ich meinen Fotoapparat herausholte. Ich war mir nicht sicher, ob er vielleicht ein zweites Gerät zum Vertreiben ungezieferartig auftretender Europäer bei sich hatte und zog es mit meinem Abgang vor, ohne ein Videoclip gedreht zu haben, den Nachweis nicht zu provozieren.
Erkenntnis des Tages: Im Vergleich zu anderen ist mein Arbeitsplatz gar nicht so schlecht
Am heutigen, richtig brüllend heißen Tag (an der roten Ampel vor der verkehrsreichen Chong Qing Nan Lu, wo ausnahmsweise, auch wegen der Polizeipräsenz, sich niemand traute trotzdem einfach so rüberzufahren, konnte ich mit meinem Fahrrad an allen anderen vorbei bis ganz nach vorne an die Sichtlinie rollen. Warum blieben die anderen zurück? In der Sonne schmorend wurde mir klar: die waren alle im Schatten der Platanen stehen geblieben) war in China nationenweiter „Tag des Lehrers“. Das war mir zwar vor einigen Tagen schon gesagt worden, ich hatte es aber vergessen – und bemerkt habe ich es auch erst am Nachmittag, als auf meinem Schreibtisch und dem jeder meiner Professorenkollegen ein kleiner, nett hergerichteter Strauß Schnittblumen (weiße Rosen und lila Bartnelken) stand, den die Sekretärin (und nicht die Studenten "freiwillig", wie sonst in China üblich) liebevoll vorbereitet hatte, was mir deutlich auffiel, als ich sie aufsuchte, um mich bei ihr persönlich überschwänglich zu bedanken.
Erst war ich nämlich verwirrt: schenkt man Blumen in China nicht ausschließlich zur Beerdigung? (Dass alle Medaillengewinner bei den Olympischen Spielen auch einen Blumenstrauß überreicht bekommen hatten, weil das IOK auf dieser Tradition bestanden hatte, führte in China zu Unverständnis). Wiesen unsere Blumen, vielleicht unbeabsichtigt, auf ein böses Omen hin? Denn jetzt ist es raus: ab dem Wintersemester 2009/2010 wird das Shanghai-Hamburg-College vollständig an den Jun Gong-Campus, weit draußen im Industriegebiet, verlegt. Schon die Erstsemester, die jetzt gerade aufgenommen werden, erhalten ihre Vorlesungen nur noch dort.

Mit der Idylle des historisch deutschen Fuxing-Campus ist es nach genau 100 Jahren, zumindest für unseren binationalen Studiengang mit chinesischem und deutschem Bachelorabschluss, bald vorbei. Dafür gibt es aber schon sehr angemessene Nachfolger: das Sino-Britisch-College. Das ist auch eine Kooperation mit der USST. Aber deren Konzept ist ein gutes Stück gewichtiger und marktwirtschaftlicher als unseres. Die Kooperation läuft mit den Universitäten in Manchester, Leeds und weiteren acht Städten Großbritanniens; das Lehrpersonal ist ausschließlich englisch-muttersprachlich, die Professoren sind in der Regel für ein Semester oder ein Jahr in Shanghai tätig. Das rein englischsprachliche Studium sieht acht Semester Regelstudienzeit vor, wobei mit einer Art Vorstudium begonnen wird: die Studierenden lernen erst einmal richtig englisch sprechen und haben (Vor)-Kurse in Mathematik, Physik und anderen Grundlagenfächern, um sie zunächst auf Universitäts-Eingangsniveau zu hieven. Das Studium selber besteht aus einigen Studiensemestern in Shanghai und der Mehrzahl der Studiensemester an einer der kooperierenden Britischen Hochschulen. Das Studienfächerangebot umfasst das gleiche Angebot wie die von der USST rein auf Chinesisch angebotenen Studiengänge. Pro Jahr müssen die Studierenden 65.000 Yuan an Studiengebühren bezahlen. Im vergangenen Jahr haben 800 Erstsemester das Studium begonnen, in diesem Jahr sind es bereits 900. Da kommt, für chinesische Verhältnisse erst recht, richtig Asche in die Kasse rein! Das Sino-Britisch-College ist auch richtig schmuck hergerichtet worden. Als ich vor fast drei Wochen ankam, herrschte sehr geschäftiger Baustellenbetrieb. Im Haupthaus waren die Bauarbeiter erst mit dem Herausspitzen der alten Trennwände, Treppenstufen und Sanitäranlagen beschäftigt. Für mich sah das wie uneinholbar aus. Aber letzten Freitagnachmittag wurden bei ordentlichem Regen die Straßen auf dem Campus mit dicken Wasserstrahlen aus Feuerwehrschläuchen abgespritzt. Jetzt sieht alles von außen pikobello geputzt aus. Auch der Innenhof, der als Zwischenlager für handumgeschichteten Bauschutt diente, war makellos gereinigt. Jetzt ist er knallvoll mit Shanghaier Professoren-Autos zugeparkt. Da war mir der Bauschutt fast lieber. Da ist zwar der Zementfleck auf der Straße noch zu sehen, wo der Zementmischer unablässig mit der Schippe aus Sand, Wasser und Zement sein Baumaterial angerührt hatte und manche Ecke und diverse Mauerdurchbrüche sind nur 95%-ig sorgfältig fertiggestellt worden: Cha bu dao – fehlen-nicht-[Zählwort] – „Es fehlt nicht viel“ ist ein verbreiteter Begriff, der als Ersatz für den ganz ordentlichen Abschluss benutzt wird.
Verwöhnte Ein-Kind-Gören mit neuen Problemen
Trotz allem: es ist ein schicker Elite-Campus geworden – und tatsächlich rechtzeitig zum Semesterbeginn fertig! (Wohin sollten die vielen Wanderarbeiter denn auch gehen, wenn sie Freizeit hätten? Genug Geld haben sie nicht, sie können froh sein, wenn sie auf der Baustelle wohnen und sich versorgen können – da ist es manchem bestimmt recht, wenn er mit Überstunden meint seinem Stück von dem Wohlstandskuchen etwas schneller näher zu kommen als diejenigen, die das nicht dürfen.) Die Erstsemester wurden angemessen empfangen: an jeder Ecke ein Stand, wo sie sich eintragen und informieren konnten und natürlich mit den obligatorischen Spruchbannern – hier jedoch weiß auf blau und zweisprachig chinesisch-englisch:
„Haben-Traum-Gedanke, Jeder-[Zählwort]-Mensch-alle-können-hervorragend“ ([VP]-nein-aufstehen) ist ein fester Begriff und heißt hervorragend) – „Have a Dream, Dreamers are forerunners“. Ich hätte das so übersetzt: „Lebe Deinen Traum – Träumer sind Sieger!“ Aber deutsch ist ja auf Fuxing nicht mehr so richtig gefragt.
Einen Elite-Campus können die Studierenden ja wirklich beanspruchen, denn bezahlen tun sie doch genug dafür – ganz genau genommen zahlen sie nichts. Das machen ihre Eltern für sie. Bei aller Betonung des Familienclans und der unüberschaubaren Anredenvielfalt für die Verwandtschaftsbeziehungen, tritt durch die jetzt schon eine Generation lang praktizierte Ein-Kind-Ehe ein enormer sozialer Wandel zu Tage. Unter den verwöhnten Gören gibt es den Begriff „Bruder“ oder „Schwester“ praktisch gar nicht mehr. Deswegen werden oft die Cousins mit „Bruder“ angeredet. Aber sollte die erzwungene Geburtenregelung weiter so konsequent gelebt werden, gäbe es nach der nächsten Generation auch keine Cousins und Cousinen mehr! Zwei interessante Auswirkungen sind festzustellen: Es gibt Studenten bei uns hier, die nicht wie alle anderen zwischen 20 und 22 Jahre alt sind, sondern wesentlich älter. Die sind auch nicht mit sechs eingeschult worden, sondern erst mit acht oder neun. Wie kommt es, dass ein offensichtlich zurückgebliebenes Kind in der Lage ist, so ein anspruchsvolles Studium aufzunehmen und unter Umständen sogar sehr gut zu bewältigen? Das liegt daran, dass es in China in ländlichen Gegenden immer häufiger vorkommt, dass erst zwei oder drei Jahr nach der Eintragung eines Kindes ins Geburtsregister festgestellt wird, dass es sich damals um eine Zwillingsgeburt gehandelt habe und nun das vergessene zweite Kind auf das alte Datum nachgetragen werden müsse. Auch die Verteilung der Geschlechter bei den Neugeborenen liegt nicht, wie man es erwarten würde, um den Wert 1:1 herum, sondern es werden wesentlich mehr Ein-Kind-Söhne als Ein-Kind-Töchter geboren. Statistisch gibt es heute schon mehrere Millionen Männer für die keine Frau übrig ist, auch keine hässliche. Da kann man sich vorstellen, dass manches Problem sich aufstaut. Im heutigen China wählen sich die künftigen Eheleute gegenseitig selber aus; die Verheiratung durch die Eltern, wie in früheren Zeiten ist passé. Aber trotz Männerüberschuss finden in Shanghai die jungen Frauen keinen Mann – und nicht umgekehrt! Auf acht suchende Mädchen (Frauen dürfen in China erst ab 20 heiraten, Männer ab 25; die Zahl der unverheiratet miteinander lebenden Paare ist groß; auch unter meinen Studenten gibt es solche Paare) kommen drei Männer, die noch zu haben sind. Wie kommt das? Wenn eine Frau einen Mann sucht, dann muss er besser gebildet sein und wohlhabender als sie, denn dieses geschlechterspezifische Schichtengefälle gehört zu einer guten Partie einfach dazu. In der Großstadt, und in Shanghai allemal, sind auch die Frauen gut ausgebildet und kommen aus wohlhabenden Elternhäusern. Und dann ist es schwer einen Mann zu finden, der das noch übertrifft. Als Abhilfe gibt es eine inoffizielle, aber allen bekannte Einrichtung zur Gegenwehr. An bekannten Plätzen, zum Beispiel samstags und sonntags im Century Park. halten sich die Mütter(!) der betroffenen Kinder auf und tauschen einschlägige Informationen aus: „Was macht ihres beruflich? Was verdient es? Wie alt?“ usw. in der Hoffnung, hier den richtigen Partner möglichst bald zu finden, denn bei dem unversiegbaren Nachwuchsreservoir hebt fortgeschrittenes Alter nicht mehr ganz knusprig junger Damen den Heiratsmarktwert nicht gerade an. Angesichts dieser Erkenntnisse bin ich richtig dankbar, vor nunmehr über 30 Jahren sehr angemessen und im höchsten Maße befriedigend ausgestattet worden zu sein; und im Nachdenken darüber, fällt mir auf, dass noch bevorstehende sieben von zehn Wochen Singledasein in Shanghai, trotz aller spannenden Erblebnisse, nicht ausschließlich eine Steigerung der Lebensqualität darstellen.
Das nächste wichtige Thema nach erfolgreicher Partnersuche ist die Frage nach dem Kinderkriegen in China und den Traditionen die mit ihnen zusammenhängen. Darüber will ich bald berichten.
Erkundungsfahrt mit Überraschung
Heute am Abend bin ich in Ermangelung eines Internet- oder Papierfahrplans der Stadtbuslinien einfach in die Linie 24 eingestiegen, um mal zu erkunden, wohin man damit kommt. Erste Erkenntnis: in den Stau. Endhaltestelle war am nordwestlichen Rand des inneren Autobahnrings in einem etwas schäbigen Sanierungs- und Neubaugebiet mit lauter Hochhäusern. Das Leben spielte sich trotzdem auf der Straße ab. Die Leute wollen offensichtlich auch in ihrer Freizeit von möglichst vielen lauten, lärmenden Menschen umgeben sein und sich den unterschiedlichsten Gerüchen, Düften und Gestanken aussetzen.
(Ich habe trotz der in dieser Jahreszeit permanenten Wärme in Shanghai, die sich manchentags zu großer Hitze hin entwickelt, und trotz sichtbar schwitzender Menschen, denen der Schweiß von der Haut perlte, noch nie üblen Körpergeruch gerochen. Auch nicht eingequetscht in der U-Bahn, wo Achselnähe unvermeidbar ist. Manche Frauen haben einen dezenten Parfumgeruch, die meisten Menschen riechen nach gar nichts. Außer manchmal Mundgeruch. Von der Hamburger S-Bahn könnte ich, trotz sitzplatzweitem Abstand ganz andere Erlebnisse berichten.)
Von dort wanderte ich zur nächsten U-Bahnhaltestelle Zhen Ping Nan Lu der Linien 3 und 4, die an einer aufgeständerten Strecke liegt und mich an den Dammtorbahnhof in Hamburg erinnerte. Die hiesige U-Bahn ist besser mit der Hamburger S-Bahn zu vergleichen und noch besser mit der Stuttgarter S-Bahn, weil sie überdach mit Pantografenstromabnehmern von wechselstromgespeisten Drehstromasynchronmotoren angetrieben wird und ganz moderne Durchgangswaggons besitzt. Die Fahrtrasse ist stark geräuschgedämmt, aber die Motoren singen beim Anfahren sehr laut. Unterwegs gab es überall fliegende Händler. Einer pries ein wundersames Ungezieferabwehrgerät an. Dazu plärrte er, über ein Headset verstärkt, im ca. 30-Sekundentakt seine immer gleichen Sätze, die ich nach einiger Beobachtung dem Sinne nach verstand. Zu seiner Ausstattung gehörte ein an eine große Mausefalle erinnernder Drahtkäfig, in den maximal acht dichtgepackte Nager hätten hineingequetscht werden können, und in dem sich vier kleine Hamster befanden. Offensichtlich mögen es chinesische Hamster auch enger als die aus dem Rest der Welt. Außerdem hatte der Marktschreier eine handelsübliche Mehrfach-Steckdose mit Verlängerungskabel in der Hand, die von irgendwoher Netzspannung bezog. Zuerst steckte er ganz nahe an seinem Präsentationstischlein eine Fassung mit Stromsparbirne in die Steckdose, die dann zu leuchten begann. Anschließend trat er zurück, um demonstrativ der Abstand zu vergrößern. Dann steckte er sein zum Verkauf angebotenes anderes Leuchtgerät in die Steckdose und sofort fielen seine possierlichen Tierchen krampfartig in zitternde Starre, als habe er sie auf sein Showprogramm abgerichtet. Es gab keinen elektrischen Kontakt zum Käfig; das musste irgendeine Strahlung oder ein Schall sein, auf den die Lieblingshaustiere ganzer Kindergeneration so widerwillig reagierten. Vermutlich geht die Verkaufsveranstaltung nicht ganz konform mit dem deutschen Tierschutzgesetz, aber ich konnte nicht leugnen, dass das ganze Arrangement eine gewisse Überzeugungskraft hatte. Ich leistet mir aus rein wissenschaftlicher Neugier die Anschaffung eines der Ungeziefervertreibungsgeräte einschließlich chinesischsprachigem Begleitzettel für unverschämt teure 30 Yuan und verschaffte durch den Verkaufsvorgang den unfreiwillig assistierenden Kreaturen eine Verschnaufpause von über fünf Minuten, weil der Tierhalter große Anstalten machte, als ich meinen Fotoapparat herausholte. Ich war mir nicht sicher, ob er vielleicht ein zweites Gerät zum Vertreiben ungezieferartig auftretender Europäer bei sich hatte und zog es mit meinem Abgang vor, ohne ein Videoclip gedreht zu haben, den Nachweis nicht zu provozieren.
Erkenntnis des Tages: Im Vergleich zu anderen ist mein Arbeitsplatz gar nicht so schlecht
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