Donnerstag, 18. September 2008

Deutsches Kulturgut

Die Polizei, Freund und Helfer
Der Weg zur Uni war heute beschwerlicher als sonst. Bin ich schlapp geworden? Unterwegs sah ich wieder mal einen Polizisten, der einen Verkehrsteilnehmer aufgeschrieben hatte. Das sind nicht die im Design der SA-braun uniformierten Hilfsverkehrsregler, die zu viert, jeder an einer Ecke jeder Straßenkreuzung stehen und auf deren ständiges Pfeifen niemand achtet. Jedoch, ohne sie wäre das Chaos wahrscheinlich total perfekt. Es scheint eine Kampagne angelaufen zu sein, Shanghai auf die EXPO 2010 vorzubereiten. Rote Spruchbanner mahnen zu vorbildlichem Verhalten, zu Umweltbewusstsein, zu Verkehrsdiziplin. Und immer wieder erwischt es einen, der genau das tut, was alle anderen auch tun. Und während der Polizist aufschreibt und dabei vielleicht noch einen Fahrraddiebstahl aufdeckt, weil der Fahrradbesitzer nicht die nötige Identitätskarte vorweisen kann, machen alle anderen weiter, wie bisher, denn jetzt ist der Polizist ja ungefährlich, weil beschäftigt.



Unsicherheit mit den Studenten
Nach der Vorlesung hatte ich heute ein schlechtes Gefühl: kommen meine Studenten überhaupt mit? Sicher da gibt es einige, schätzungsweise acht bis zehn, die sind immer aufmerksam, beteiligen sich am Unterricht, bringen mich mit Detailfragen manchmal richtig ins Schwitzen. Die Dekanin, die mich im Gespräch mit einigen von ihnen beobachtet hat, sprach mich auf diese Studenten an, die sie kannte und als besonders gut und fleißig bezeichnete, und mit einen ganz lebendigen Lachen sagte sie: „aber andere sind sehr faul.“ Aus der spürbaren Stärke ihres Lachens schloss ich, dass sie mit ihrer laut gespielten Fröhlichkeit ihre besonders tiefe Sorge zum Ausdruck bringen wollte. Sollte sie das gemeint haben, teile ich sie. Weitere zehn entpuppen sich als stille Wasser, die aber durchaus mal etwas Helles aus ihren Untiefen aufblitzen lassen. Die übrige Hälfte der Studenten signalisiert mir Unverständnis. Hier prallen zwei Welten aufeinander: meine Erwartungen an zukünftige Ingenieure, die bald in der Lage sein sollen, technische Innovationen voran zu treiben und kreativ Neuheiten erfinden sollen und die in ihren Sachthemen so fit sein sollen, dass ihnen nicht jemand, gutmeinend, versehentlich, absichtlich oder gar bösartig ein X für ein U vormachen kann. Und ihre Erwartungen an das Studium: bisher haben sie stets gelernt, dass man nicht hinterfragt, bisher war auswendig lernen angesagt und wurde honoriert, in der ganzen chinesischen Kultur ging es immer darum, dass der große Meister möglichst vollkommen kopiert wurde – was soll in so einer Weltsicht geistiges Eigentum sein? Die Umstände, unter denen sie Deutsch lernen müssen, sind so, dass ich froh bin, nicht in ihrer Haut zu stecken … wo doch auch in Deutschland Ingenieure nicht gerade wegen ihrer sprachakrobatischen Fähigkeiten bekannt sind.
Deswegen habe ich den Nachmittag im Büro am Computer verbracht, um ein paar außerordentliche repetitorische Übungen neu vorzubereiten. Genügend Vorlesungsstunden dafür, neben dem Stoff, habe ich noch. Das bot sich an, denn heute hatte ich unerwartet frei. Für den Nachmittag war eine halbtägige Besichtigung in einer Gießerei mit angeschlossener mechanischer Fertigung geplant. Freundliche Zusagen hörte ich von allen Seiten, aber vorgestern hieß es plötzlich, es sei eine Gießerei doch nicht vorhanden. Plötzlich verschwunden? Ich war keineswegs enttäuscht, im Gegenteil, meine Erwartungen waren voll eingetroffen. Eine Absage hört man eigentlich nie; „nein!“ sagt man einfach nicht. Damit der Verlust für mich nicht so hart sei, hieß es, wir könnten etwas ganz anderes besichtigen. Das hat aber keinen Zweck, weil die Exkursion in die Fabrik den Stoff der Vorlesung ergänzen, nachbereiten oder vorbereiten soll. Die Laborpraxis wird wohl auf einen Tag zusammenschrumpfen – viel zu wenig, denn wir von der deutschen Seite wollen doch die positiven Aspekte der Fachhochschulausbildung in das Joint-College beisteuern. Und Praxiserfahrung kommt in diesem Schulbetrieb echt zu kurz.

Deutschlehrerinnen
Heute Abend haben zwei meiner Kollegen und ich die drei neuen Deutschlehrerinnen, die vor einigen Tagen zum Semesterbeginn der Erstsemester eingetroffen sind und die ich bei der Begrüßungsveranstaltung am Jun Gong-Campus kennen gelernt habe, zum Abendessen in ein Szechuan-Restaurant eingeladen. Die im Deutschen übliche Schreibung meint die Provinz Sichuan und in diesem Fall speziell die dort typische Küche. Grob vereinfacht gibt es drei Speisekategorien: scharf, sehr scharf und extrem scharf. Das gilt natürlich nicht für den Reis und viele Gemüse. Vielleicht bin ich schon ziemlich umgestellt, also ich fand es lecker. Die drei Damen sind schätzungsweise Anfang dreißig, haben alle „DAF“ (Deutsch für Ausländer, also nicht Germanistik) studiert und sich auf diese Stellen beworben. Sie kommen aus München, Leipzig und Berlin und sind für ein Semester direkt bei der USST angestellt, verdienen mit 600 Euro im Monat im lokalen Vergleich sehr gut, haben eine ganz kleine gemeinsame Wohnung ganz in der Nähe vom Fuxing-Campus gestellt bekommen, ihr Arbeitsplatz ist aber ausschließlich auf dem Jun Gong-Campus. Wenn sie nicht um 7.00 Uhr mit dem Shuttlebus für 5 Yuan in 40 Minuten dorthin fahren wollen, weil sie erst am Nachmittag Unterricht haben, dann brauchen Sie für die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln anderthalb Stunden für eine Strecke. Sie haben nicht an jedem Tag Unterricht und müssen deshalb auch nicht täglich pendeln; dass sie „in der Stadt“ wohnen, ist ihnen trotz allem sympathischer als eine Unterbringung auf dem abgelegenen Jun Gong-Campus. DAF-Lehrerinnen sind in der Regel selbständig und arbeiten eigentlich immer von Auftrag zu Auftrag; solche Auslandseinsätze sind, das liegt in der Natur des Berufes, nicht außergewöhnlich. Unterrichtet wird nach dem quasi weltweiten Standardbuch „em“ aus dem Hueberverlag. Ich habe da mal rein geblickt und weiß jetzt, woher vieles vom Deutschlandbild meiner Studenten herstammt: so ist zum Beispiel das Oktoberfest eines der wichtigsten Feste in Deutschland, könnte man meinen; aber eigentlich geht es dabei hauptsächlich um temporale Präpositionen, konzessive Konnektoren, Modalverben und ähnliches. Fachterminologie gehört nicht zum Unterrichtsprogramm. Eine der Lehrerinnen will kommende Woche in meine Vorlesung kommen, damit sie ein Gefühl dafür bekommt, was ihre heutigen Anfänger-Schüler in vier Semestern erwartet und was sie dann an Fachsprache verstehen können müssen.

Ein Platter
Meinen Weg zurück zum Hotel trat ich zu Fuß an, denn der Vorderreifen meines Fahrrades hatte einen Platten. Sonst fallen mir alle 400 m Kleinbetriebe auf, die Fahrradreparatur machen, Zubehör verkaufen und Druckluft zum Nachfüllen anbieten, letzteres kostenlos, allerdings wirft man ein paar Münzen in den stets bereitstehenden wassergefüllten Behälter, der zum Aufspüren der Löcher im Schlauch durch aufsteigende Luftbläschen gebraucht wird. Auch noch um 21.30 Uhr bewiesen solche Blasen am Fahrradreparaturladen bei meinem Hotel, dass ich einen neuen Schlauch brauchte. Natürlich hätte einfaches Flicken von zwei Löchern es auch getan, aber der Auflauf von mehreren ungefragt meinungsbildenden Passanten, die ihre paar Brocken Englisch mal richtig nutzbringend einsetzen wollten, brachte mich zur Überzeugung, dass ich durchaus umgerechnet 1,80 Euro einsetzen wollte. Das Flicken hätte nämlich nur den Preis der Flicken gekostet. Die Dienstleistung des Schraubens, Flickens und Mantelab- und aufziehens gibt es nämlich kostenlos. Arbeitszeit berechnet niemand extra. Der schuldige Nagel steckte noch im Mantel. Jetzt rollt das Rad wie zuvor – und ich bin beruhigt: doch keine Anzeichen von Altersschwäche. Nicht nur der Fahrradladen hat eigentlich fast immer offen, das gilt ganz generell. Es stehen auch irgendwie immer die gleichen Leute im Geschäft, sieben Tage die Woche. Nicht wie in Deutschland, wo die Leute nach getaner Arbeit nach Hause gehen und sich mit dem Bier vor den Fernseher setzen, um ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten: hier sitzen die Leute scheinbar immer in ihren Geschäften, morgens, mittags – und abends mit dem Bier vor dem Fernseher.

Erkenntnis des Tages: Ganz anders zu leben ist auch normal

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