Mittwoch, 3. September 2008

Im Sprachdschungel

Ein Siegel zur Identifikation



Heute habe ich mir ein chinesisches Siegel anfertigen lassen. Das ging ganz schnell und kostengünstig und wird als Touristenattraktion auch mit beliebigen Motiven, die man sich eingravieren lassen kann, angeboten. Als Schaft habe ich einen Stein gewählt, in den ein doppelter Drachen (zwei chinesische Lindwürmer, die spiralig umeinander geschlungen sind) geschnitzt ist, weil ich im Jahr des Drachen 1952 geboren wurde. Der Abdruck, der immer mit roter Stempelfarbe auf Papier gestempelt wird, zeigt die Schriftzeichen meines Namens (Hong Bi De) in alter Kanzleischrift in der traditionellen Folge von oben nach unten und von rechts nach links. Das letzte Zeichen unten links (sieht wie EP aus) heißt Yin und bedeutet Siegel und steht immer am Ende eines solchen Stempels. Jeder Chinese hat einen oder mehrere solcher Siegelstempel und benutzt sie im offiziellen Verkehr rechtskräftig, wie wir unsere Unterschrift einsetzen. Damit keiner „die Unterschrift fälschen“ kann, hat jeder Siegelstempel versteckte Macken oder Striche, die nur der Eigentümer kennt und mit Hilfe derer er die Authentizität feststellen kann.

Ganz kleiner Chinesischkurs
Im Prinzip ist die chinesische Sprache gar kein Buch mit sieben Siegeln, sondern die gesprochene Sprache ist eine der einfachsten der Welt, denn sie kommt ohne Konjugationen, Deklinationen und Tempi aus: „Ich liebe Dich“ heißt „wo ai ni“ (ich-lieben-du), „Du liebst mich“ heißt „ni ai wo“ (Du-lieben-ich). „Gestern (zuo tian) habe ich Dich geliebt“ heißt „Zuo tian wo ai ni“ (Gestern-[Zählwort für Tage]-ich-lieben-du) und „Morgen (ming tian) wirst Du mich lieben“ heißt „ming tian ni ai wo“ (morgen-[Zählwort für Tage]-du-lieben-ich.
Ein wesentliches Merkmal der Sprache ist die Einsilbigkeit. Jede Silbe steht für ein Zeichen, und das Zeichen für einen bestimmten Begriff, zum Beispiel „shang“ (oben) oder „xia“ (unten). Zu mehreren zusammengefügt, ergeben sie neue Worte: qi che = Dampf + Wagen = Automobil; dian nao = Strom + Gehirn = Computer; Huo che zhan = Feuer + Wagen + Haltestelle = Bahnhof. Es gibt über 400 Silben, die in vier verschiedenen Tonhöhen gesprochen werden und jedes Mal eine andere Bedeutung erhalten. Tang im ersten Ton kann „Suppe“ heißen, im zweiten „Zucker“, im dritten „liegen“ und im vierten „heiß“. Es gibt sogar Silben, die trotz gleicher Tonhöhe einen unterschiedlichen Sinn haben. Erst durch das jeweils dazugehörige geschriebene Zeichen lässt sich die Bedeutung erkennen.
Ein Spaß für jeden Chinesen sind verrückte Sätze, die aus der Aneinanderreihung derselben Silbe wie etwa ma, shi oder da bestehen. Aufgrund der unterschiedlichen Tonhöhen ergeben sie aber dennoch einen Sinn. Ein bekannter Satz, den jeder Sprachstudent kennt, lautet: ma ma ma ma ma? (Beschimpft die pockennarbige Mutter das Pferd?). Ein anderer Satz mit der Silbe Yi soll 150 Schriftzeichen umfassen!
Fragen kann man stellen, indem man einfach an das Ende eines Aussagesatzes den Fragepartikel (FP) ma anhängt, als ob man ein Fragezeichen laut ausspricht oder das vergleichbare deutsche (internationale) Wort hä? nimmt. Die Vergangenheitsform wird gebildet, indem man den Vergangenheitspartikel (VP) guo für die unbestimmte Vergangenheit und den Endpartikel (EP) le für die abgeschlossene Handlung verwendet.
Wenn also „ni“ das deutsche Wort „Du“ bedeutet und „chi“ das Verb „essen“, dann heißt „ni chi guo le ma“ (du-essen-[VP]-[EP]-[FP]) und bedeutet wörtlich „hast du schon gegessen?“ Meinen tut es aber: „Wie geht’s?“ Womit man auch erkennen kann, welche wichtige Rolle das Essen für die Chinesen spielt.

Kein Problem mit der Speisenkarte
In den meisten Restaurants, die wir besuchen, gibt es keine englischen Speisenkarten – wozu auch, dorthin verirren sich keine Touristen. Und die chinesischen Schriftzeichen entziffern zu wollen, um aus den wichtigsten 3.500 vorkommenden das richtige zu identifizieren, ist erstmal hoffnungslos. Jede Silbe hat ein eigenes Zeichen, das einen kompletten Begriff beschreibt, der sich verändert, wenn zwei oder mehr Zeichen zusammen einen neuen, anderen Begriff ergeben. Für Ausländer in Deutschland ist das mit alten deutschen Wörtern, die keine Lehnswörter sind, auch nicht einfacher. Nur durch voranstellen von Präpositionen wird aus Zug oder Schlag: Anzug, Abzug, Vorzug, Aufzug, Überzug, Nachzug usw. und Vorschlag, Nachschlag, Überschlag, Abschlag, Anschlag usw.
Die Speisenamen sind meist 3 bis 6 Zeichen lang und können folgende Informationen, immer in genau dieser Reihenfolge, enthalten: Zubereitung/Gewürz – Gemüse – Tier – „Form“ – Beilage. Natürlich muss der Name nicht alle Komponenten enthalten, meist sind es zwei bis drei davon.
Wir haben inzwischen eine nahezu perfekte, pragmatische Lösung gefunden, die wir uns eigentlich patentieren lassen sollten: Wenn uns die chinesische Speisenkarte vorgelegt wird, dann schieben wir diese zur Seite und legen unserseits unseren fotokopierten Zettel vor, auf dem die wichtigsten Speisen, die es überhaupt gibt, untereinander aufgelistet sind, und zwar in chinesischen Schriftzeichen, daneben in pinyin-Umschrift mit lateinischen Buchstaben für die Aussprache und noch weiter daneben die Beschreibung der Speise auf deutsch. Dann hakt die Bedienung die lieferbaren Speisen auf dem Zettel ab, wir wählen in Ruhe aus und mit einem unmissverstehbaren „das da, bitte!“ wissen wir, was wir bestellen, indem wir auf die chinesischen Schriftzeichen. zeigen – und die Bedienung weiß es auch. Nun kommt es nur noch auf die Art der Zubereitung des jeweiligen Kochs an, wie das ganze schmeckt.

Erkenntnis des Tages: „Lost in Translation“ kann man überlisten!

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