Sonntag, 14. September 2008

Im Zirkus

Ins Staunen versetzt
Der heutige Sonntag war von morgens an verregnet, und der Niederschlag kam aus so tiefhängenden Wolken, dass die Wolkenkrater vor dem Fenster oben wie in dunkelgrau gefärbte Watte eingepackt wirkten, während der sie unten gut zu sehen waren. Das war genau das richtige Wetter um einen Tag „daheim“ zu verbringen. Meine Kollegen teilten diese Absicht, und wir verabredeten uns, uns erst am Abend zu treffen, um gemeinsam in den Zirkus zu gehen und vorher noch einen Bissen zu uns zu nehmen. Unter Zirkus versteht man hier chinesische Artistik, also keine Clowns und keine Tiere. Das Zirkuszelt ist ein riesiger Massivbau mit im Dreiviertelkreis ansteigenden Rängen von Plüschklappsesseln. Wir haben uns Tickets in der mittleren Preislage zu je 180 Yuan geleistet und saßen und sahen sehr gut. Um 19.30 Uhr ging es los, nachdem so eindringlich und so überwacht auf das Foto- und Videoaufnahmeverbot hingewiesen wurde, dass selbst hartleibigste chinesische Vorschriftenübertreter sich nicht wagten, ihre Geräte zu zücken. Deswegen heute kein Bildmaterial. Nun kennt man chinesische und auch andere Akrobatik auch in Europa sehr vielfältig und meine Begeisterung, in den Zirkus zu gehen, beschränkte sich in den letzten Jahrzehnten darauf, kleinen Kinder als der tolle Papi oder gute Onkel eine so überschwängliche Freude zu bereiten, dass das die eigentliche Genugtuung für den lieber anders verbrachten Nachmittag war. Vermutlich bin ich wegen der noch ausbleibenden Enkel schon zu lange nicht mehr im Zirkus gewesen. Ich war jedenfalls begeistert und meine Kollegen neben mir auch. Das war nicht eine Aneinanderreihung artistischer Kunstfertigkeiten, sondern ein durchchoreographiertes 100-Minuten-Programm, bei dem Lichtprojektionen, Überraschungseffekte, moderne Livemusik und natürlich die in Staunen versetzende akrobatischen Leistungen bei mir echte Verzückung auslösten.



Vor allem die Flip-Flop-Springer hatten es mir angetan und der Höhepunkt ganz zum Schluss, als in einem Kugelkäfig von vielleicht fünf Metern Durchmesser Motorradfahrer in der Waagerechten und auch über Kopf auf der Kugelinnenoberfläche herum sausten. Im Prinzip kann man das auch auf dem Hamburger Dom oder dem Cannstatter Wasen bewundern; hier haben die Jungs und ein Mädel das aber zu acht gleichzeitig im Käfig zustande gebracht. Die Chinesen mögen es halt überall ein bisschen enger zusammengedrängt. Ich fühlte mich an mein Hamstererlebnis erinnert, diese Künstler genossen ihren Auftritt und die Bewunderung sichtlich, und man konnte sich nach der Show vor einer Fotowand gemeinsam mit ihnen ablichten lassen.



Heimfahrt im Bus
Auf der Rückfahrt erwischten wir einen Bus mit Schaffnerin zusätzlich zum Fahrer, von denen es hier viele gibt. Der Bus war mit der gleichen typischen Ausrüstung wie die schaffnerlosen versehen: Flachbildwerbebildschirme, elektronische Fahrkartenabbuchung, Haltestellenansage vom Band, Klimaanlage, Vorhänge vor den Fenstern und plastikfolienüberzogene Hartschalensitze mit Stoffkern. Wer mit Papierfahrschein oder Bargeld zahlt, wirft das sonst in einem Kasten beim Buseinstieg. Hier bekam man den Service am Sitzplatz (von denen es am Abend genug gab). Zwei Sitzplätze gehen durch den Arbeitsplatz der Frau verloren. Das rote Fähnchen, das sie beim Stopp an den Haltestellen, die Radler vor den aussteigenden Fahrgästen warnend, zum Seitenfenster herausstreckt, beachten diese genauso wenig wie das bei rot Pfeiffen der Hilfspolizisten an den Straßenkreuzungen. Für die geringe Notwendigkeit ihrer Tätigkeit machte die Schaffnerin überproportional laut auf ihr Tun aufmerksam.
Inzwischen habe ich herausgefunden, dass es doch von den Shanghaiern streng befolgte Vorfahrtsregelungen gibt: PKW vor Roller, Roller vor Fahrrad, Fahrrad vor Fußgänger. Da gibt auch keinen Neid, wie in Deutschland bei den Vorfahrtsrechterzwingern: jeder erstrebt den Aufstieg in die Lage, sich auch mal vor den anderen drängen zu können.

Erkenntnis des Tages: Es gibt ganz verschiedene Möglichkeiten, sein Publikum für sich zu gewinnen.

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