Donnerstag, 11. September 2008

Bescheidenes Praxisangebot

Forschungsergebnisse
Ich hatte gestern noch eine kleine Untersuchung des Hamsterquälgerätes vorgenommen und folgendes festgestellt: Es handelt sich um ein Nachtlicht, dass nicht, wie sonst oft üblich, mit einer Glimmlampe bei Netzspannung betrieben wird, sondern es werden drei kleine LED-Leuchten mit 0,5 W elektrischer Leistung (Angabe auf der Verpackung) versorgt. Beim Betrieb des Gerätes habe ich als Mensch keinerlei Effekt außer dem Leuchten der LEDs festgestellt. Selbstverständlich habe ich die Leuchte auseinander geschraubt und gesehen, dass die drei LEDs (grün - Galliumphosphid (GaP) , blau - Siliciumcarbid? (SiC) und rot - Galliumaluminiumarsenid (GaAlAs)) ganz einfach in einer Dreieckschaltung auf ein abgebrochenes Stück gedruckter Platine gelötet sind und die Stromversorgung zwischen zwei der Dreieckschenkel über einen Widerstand der Kennung rot-weiß-rot-Gold (29,2 Ohm) erfolgt. Wie der Afflicatio-Cricetinae-Effekt (Hamsterpein-Effekt) funktioniert, weiß ich immer noch nicht; aber, obwohl ich nur Maschinenbauer bin, weiß ich, dass der vorliegende Geräteaufbau in Deutschland keine Zulassung erhalten würde – obwohl, es gibt hier hervorragende Imitate aller nur vorstellbarer Dinge, da wird ein CE-, VdE- und TÜV-Rheinland-Zertifikat sicher auch leicht zu bekommen sein.



Lustig ist das Studentenleben
Heute habe ich mir eines der Studentenwohnheime (männlich) auf dem Fuxing-Campus angeschaut, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie die mehr als zweitausend Studierenden von den drei Wohnheimgebäuden aufgenommen werden können. Jetzt weiß ich es. Zwar gibt es verschieden teure Alternativen; die luxuriöseste ist ein Zweibettzimmer mit Klimaanlage (Die Rückseiten von allen Häusern in Shanghai sind übersät von den externen Wärmetauschern der innen in den Räumen befindlichen Klimaanlagen. Dauernd tropft das Kondenswasser auf die Straße. Heizungen, an deren Notwendigkeit ich angesichts der herrschenden Hitze gar nicht glauben mag, gibt es in Shanghai nicht, wie auch sonst nirgends in Südchina. Und die festgelegte Grenze zwischen Nord- und Südchina ist der Jangtsekiang, der Fluss, der in Shanghais Norden an der Stadt vorbei fließt. Das sei als Energiesparmaßnahme schon sehr lange so. Aber weil man mit den Klimaanlagen auch heizen kann, haben die Shanghaier schon wieder eine regierungspolitikkonforme, pragmatische Lösung gefunden).



Die meisten Studierenden wohnen in der Standardversion mit acht Kommilitonen im Zimmer. Dabei hat jeder einen zwei Meter breiten, zwei Meter hohen und ein Meter tiefen Kasten für sich persönlich zur Verfügung. Oben auf dem Kasten ist das Bett, darunter eine Schrankwand mit vorgebautem Schreibtisch. Der dazugehörige Stuhl ragt in die gemeinsame Fläche des Zimmers hinein. Gewaschen wird sich im geschlechtergetrennten Gemeinschaftswaschraum; die selbst (von Hand) gewaschene Wäsche hängt oberhalb der Kopfhöhe in den Fluren zum trocknen. Aber die chinesischen Körperausdünstungen machen allzu häufige Hygienemaßnahmen ja sowieso nicht zwingend erforderlich. Das ganze Wohnen gibt es für 720 Yuan pro Semester (12 Euro pro Monat) zu haben (Ich will mal nachkalkulieren, ob ich nicht mit ein paar Rückforderungen auf meine jetzt bald drei studierenden Kinder zugehen kann – Scherz!). Das sind hier ortsübliche Kosten dafür. Vor diesem Vergleichswert bekommt man erst die richtige Vorstellung davon, wie relativ riesig die Studiengebühren in China sind (5000 Yuan p. a. an der USST, 15.000 Yuan am Hamburg-Shanghai-College und 60.000 Yuan am Sino-Britisch-College).Kinder sind auch in Deutschland teuer (andere leisten sich eine Segeljacht – ich habe vier Kinder). Aber in China haben die Kosten für Kinder noch ganz andere Dimensionen.

Kindersegen
Mit einer Ingenieur-Wissenschaftlerin habe ich mich über Dinge unterhalten, die für sie ganz wichtig sind. Das war nicht der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, sondern es war das Thema Kinderkriegen. Sie ist 31 Jahre alt, verheiratet und hat ein Kind. Über ein zweites denkt sie nach. Das mit der Ein-Kind-Familie wird nämlich inzwischen durch einigen Ausnahmen nicht mehr so streng praktiziert. Zum Ersten dürfen die Angehörigen der Minderheitennationalitäten immer zwei Kinder haben.
In China gibt es 55 offiziell anerkannte ethnische Minderheiten, 少数民族 shǎo shù mín zú genannt, wenig-Anzahl-Volk-Gruppe, bei insgesamt „56 Nationalitäten“. Die Han-Chinesen machen 91,59 % der Gesamtbevölkerung der Volksrepublik China aus (und dazu noch rund 90% der Gesamtbevölkerung Taiwans und rund 70 % der Gesamtbevölkerung Singapurs). Da wäre die Erzwingung der Ein-Kind-Familie für die anderen 55 Völker fast schon mit einer „ethnischen Säuberung“ gleichzusetzen. Zwanzig dieser Volksgemeinschaften haben lediglich 3000 bis unter 100.000 Angehörige! In China gibt es fünf Autonome Gebiete, von denen die im Westen zwar sehr dünn besiedelt sind, in denen aber die Menschen mancher dieser Minderheiten besonders häufig leben. Das sind Guangxi, Innere Mongolei, Ningxia, Xinjiang und Tibet. Warum man sich selektiv im Westen nur auf die Befreiung des Letztgenannten fixiert hat, verstehe ich nicht ganz. Haben die anderen das nicht auch verdient? Immerhin sind die Zhuang, die mit eigener Sprache und Kultur in Guangxi im Süden Chinas leben mit über 16 Millionen das größte der Minderheitenvölker, während die tibetisch sprechenden Zang nur etwas über 5 Millionen Volksangehörige haben.
Auch wenn nur einer der Ehepartner zu einem Minderheitenvolk gehört, gilt die Ausnahmeregelung, und sei es die Frau – nach chinesischem Verständnis gehören die Kinder ja in die Abstammungslinie des Vaters. Und wenn beide Eheleute aus einer Ein-Kind-Familie stammen, dann gilt für sie die Lockerung auch. Vielleicht ist das eine soziale Vorsorgemaßnahme zum Kindeswohl: denn nach drei Generationen Ein-Kind-Familie kommen auf das arme, neugeborene Geschöpf zwei Eltern, vier Großeltern und eventuell noch acht Urgroßeltern, die kein anderes als nur dieses eine Kind zum verhätscheln und verwöhnen haben! Für so eine junge Familie in Shanghai ist es neben dem Kauf einer Wohnung, die dann ja auch größer sein muss, gar nicht so einfach, das zweite Kind finanziell zu stemmen. Für das zweite Kind muss man nämlich eine Gebühr von 120.000 Yuan zahlen. Den Begriff „Gebühr“ habe ich selber gewählt; meine chinesischen Gesprächspartner – die Wissenschaftlerin und andere – sprechen von und denken immer an „Strafe“ für das zweite Kind, wie es auch offiziell heißt. Als Vater von vier Kindern interessierte mich auch noch dafür, was man denn von einem dritten Kind denken würde. Aber mit dieser für mich real vorstellbaren Situation konnte ich einfach nicht in die Denkstrukturen meiner Diskussionspartner hinein kommen: Wenn es um Kinder geht, können junge Chinesen der Volksrepublik China einfach nicht bis drei zählen.
Ich hatte gelesen, dass es in China üblich ist, den Kindern einen Monat nach der Geburt die Haare abzuschneiden und diese aufzubewahren. Meine Wissenschaftlerin bestätigte das; auch sie hat traditionell die Haare ihres Kindes in ein rotes, weil glücksverheißendes, Säckchen genäht und das als Bommel an der Mütze ihres Kindes befestigt. Noch ihre Muttergeneration habe geglaubt, mit dem am Kind befestigten Haarsäckchen Unheil und Missgunst von ihrem Kind abhalten zu können (gegen jähzornige Kinder soll es helfen, ihnen einen Sud aus den eigenen, ausgekochten Haaren zu trinken zu geben). Diese atheistisch erzogene und wissenschaftlich ausgebildete Frau erklärte mir, sie würde solchen Aberglauben natürlich nicht ernst nehmen. Ihre Erklärung für ihr tun, lief darauf hinaus, dass sie meinte, dass das Abschneiden von abgestorbenem Haargewebe die Wuchskraft der nachwachsenden Haare in den unter der Kopfhaut liegenden Haarwurzeln positiv beeinflussen würde. Abgesehen davon, dass ich diese unerforschliche Theorie in Deutschland auch schon mal gehört hatte, kam sie mir ebenso unlogisch vor wie das Argument meines Anlageberaters bei der Bank, der mir weismachen wollte, dass man aus dem in der Vergangenheit im Mittel permanent angestiegenen Aktienkurs der von ihm angebotenen Emissionen ablesen könne, dass in der Zukunft zwingend weiter mit einen Anstieg zu rechnen sei (im Kleingedruckten steht das Gegenteil). Aber auch schon der dänische Nobelpreisträger Niels Bohr hatte, auf ein Hufeisen, das an seinem Haus hing, angesprochen, gesagt, er sei selbstverständlich Wissenschaftler, aber Hufeisen würden auch helfen, wenn man nicht an sie glaubt.



Zentral-Labor
Für heute Nachmittag war eine Vorabbesichtigung des „National Public Practising Center for Advanced Skills (Shanghai)“ angekündigt. Da das Labor am Jun Gong-Campus zu mangelhaft für die praktische Vorführung der von mir gelehrten Vorlesungsinhalte (Urformen: Gießen, Pulvermetallurgie (vulgo Sintern), Rapid Prototyping; Umformen: Massivformen (vulgo Schmieden), Blechformen, Strangpressen, Kaltfließpressen und Trennen: nur das Teilgebiet Schneiden) ausgestattet ist, hatte Frau Prof. Sun die Idee gehabt, dieses regierungseigene, übergeordnete Praxis-Center mit den Studenten aufzusuchen, weil dort jeder und vor allem alle Universitäten Shanghais Vorführungen und Schulungen an Maschinen und Einrichtungen „mieten“ können. Mit meinen hohen Erwartungen an ein modern eingerichtetes Center fuhren wir per Taxi dort hin. So grandios das Hauptverwaltungsgebäude Nr. 1 mit baldachinüberdachter Funktionsärsvorfahrt, mich beeindruckend, auf dem Gelände mitten in der Stadt dastand, so enttäuscht war ich über die Brauchbarkeit des „Digital Manufacturing Center“ für Studenten, die in ihrem Leben noch nie eine Fabrik von innen gesehen haben und alle praktische Betätigung nur von keimfreien Schulungszentren her kennen, die weitab von der Alltagspraxis extra für sie eingerichtet sind und in denen sie aus Sicherheitsgründen nichts selber anfassen dürfen, sondern alles nur vor Fachleuten im Pulk vorgeführt bekommen. (Bei einem der jährlich stattfindenden Kolloquien des „Freundeskreises Maschinenbau und Produktion Berliner Tor e.V.“, die ich jedem, der sie noch nicht kennt, empfehle, hörte ich den Personalvertreter eines sehr großen und wichtigen Hamburger Industrie- und Technologiebetriebes in einer Diskussionsrunde sinngemäß sagen, dass die von unseren Studiengängen verlangten Vorpraktika für die Unternehmen eine zu große Last seien und dass die HAW doch dafür extra Werkstätten einrichten sollte. Insofern wären die Chinesen uns schon voraus. Aber auf dem falschen Weg.)



Kalte Fertigung
Wir wurden von einem Techniker auf englisch empfangen, der uns auf der im Obergeschoss umlaufenden Bühne von oben, die ganze Halle umrundend, eine schönen Ausblick auf die neuen Werkzeugmaschinen japanischer (Mazak), vor allem deutscher (Siemens, Deckel-Maho, Gildemeister) und einheimischer (Colytech) sowie mir unbekannter Herkunft gewährte. Diese Tour wird mit Regierungsdelegationen auch immer so gemacht. Ich wollte Fotos schießen, worauf der Techniker mich darauf aufmerksam machte, dass Fotografieren nicht gestattet sei. Dann sagte er etwas, das ich in die Kategorie pragmatischen, chinesischen Umgangs mit der zentralgewaltigen Obrigkeit, sei es das Kaiserhaus oder die Kommunistische Partei, einordne: Wenn ich ein Fotohandy hätte, dann könnte ich Fotos machen, denn das würde ja keiner merken!
Auf meine Bitte, die Maschinen und Einrichtungen mal von nahem anzuschauen, hieß es, die gelbe Linie dürfe nicht übertreten werden; wir sind trotzdem mitten durch gelaufen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit Sandalen an Werkzeugmaschinen stand, wo ich den Studenten doch sonst immer „Safety first“ predige. Gefährlich war es trotzdem nicht: alle Maschinen waren ausgeschaltet und die ganze Halle war so reingefegt, als wäre dort noch nie ein Span entstanden. Die Effektivzeit im Public Practising Center betrug vielleicht 15 Minuten. Trotzdem hielten wir uns zwei Stunden mit Höflichkeitsaustauschen und vergeblichen Kontaktversuchen dort auf. Das Electrical Department war trotz persönlicher Bekanntschaft der Arrangierenden nicht zugänglich. Dort wird nämlich u.a. unterrichtet wie man die Stromversorgung großer Fabrik- und Gebäudeeinheiten sicherstellt – und jetzt, während der Olympischen Spiele und den Paraolympics sei das zum Sperrgebiet erklärt worden, weil man keine Terroristen in eigenen Land aufschlauen wolle, wie die Amerikaner das genau heute vor sieben Jahren gemacht hätten. Alle Rumtelefoniererei brachte da nix.
Als ich dann bemerkte, wir sollten doch die nicht guten, aber doch besseren Möglichkeiten im Jun Gong-Campus nutzen, wurde mir offenbart, dass die beim Besuch vor zehn Tagen noch vorhandene RP-Anlage seit letztem Freitag weg sei, vermutlich zur Reparatur (warum damit bis zum Ende der Semesterferien warten?) und die Tiefziehpresse hätte einen Schaden in der Hydraulik, und ob man den noch rechtzeitig repariert bekäme …



Kleider machen Leute
Vor der Tür stand ein Mercedes, ein S 320, also ein Modell, das ich noch nie gesehen hatte. Auf den zweiten Blick erkannte ich einen Volvo aus chinesischer Produktion, bei dem an allen Stellen, wo bei Mercedes-Benz Firmenzeichen und Textaufschriften angebracht sind, genau diese an dem Volvo nachträglich anmontiert waren, einschließlich einer Original Kühlermaske und dem Daimler-Stern auf der Haube. Das findet man oft in China: den Anschein erwecken, täuschend echt kopieren. Aber auch in Deutschland habe ich diese Form des „Upgrades“ schon live mitbekommen.

Erkenntnis des Tages: Im Grunde haben alle die gleichen Lebensfragen, nur ein bisschen anders

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Wenn man Bedenkt, dass ein deutscher Student durchschnittlich 781,86 EUR zum Leben benötigt (Quelle: Unicum-Studie in einer kfw-Werbung für Studienkredite) wovon allein 124,79 EUR für den Unterhalt eines Automobils und 253,92 EUR auf Miete inkl. Nebenkosten entfallen. Kann man sich fragen ob manchmal weniger nicht doch mehr ist.