Dienstag, 2. September 2008

Meine Vorlesungsneuerung

Das Ende der Kreidezeit
Vor einem dreiviertel Jahr habe ich mir einen Tablett-Laptop gekauft, den ich bei einem Kollegen gesehen hatte, weil der so kompakt ist und man die Bildschirmfläche direkt mit einem Spezialstift beschreiben kann. Das wollte ich spontan in meinen Vorlesungen einsetzen. So etwas wollte ich vor den Studenten nur benutzen, wenn voll fit damit umgehen konnte. Aber, never change a winning team! Auf die Anwendung dieser Neuerung hatte ich mich bisher nicht vorbereitet.
Hier in meinem Vorlesungssaal ist die Tafel extrem klein, man kann sie nur trocken abwischen und die chinesische Kreide staubt fürchterlich. Ich sehe nach der Vorlesung aus, wie ein Bäcker mit Mehlstauballergie. Das war für mich der Anlass, dieses Thema jetzt anzugehen. Zeit zum Vorbereiten und üben in der Stillen Kammer meines Hotelzimmers hatte ich und heute habe ich mit Erfolg und mit in Staunen versetzender Anerkennung das erste Mal alle „Tafelanschriebe“ handschriftlich nur auf dem Laptop geschrieben und per Beamer an die Wand projiziert. Das ging ganz einfach, ist sehr praktisch und auch ohne Routine lief es beanstandungslos ab. Jetzt kann es nur noch besser werden!
Der „Tafelanschrieb“ – ob low tech oder high tech – ist meines Erachtens didaktisch sehr wichtig: ich bin im dabei im Zwiegespräch mit meinen Studenten, schreibe und rede mit dem Tempo, mit dem sie mitschreiben können und kann viel besser individuell auf sie eingehen.



Inzwischen sind die Studenten im Umgang mit mir schon deutlich entkrampfter und ich bin es auch. Im Hörsaal gibt es nur zwei Plakate, die die Wände schmücken: eine handgestrickte Tafel auf der verschiedene Spanformen, die unter unterschiedlichen Maschineneinstellungen entstanden, aufgeklebt sind (Werk meines Zerspanungskollegen, der im Frühjahr dieses Gebiet der Fertigungstechnik lehrt) und einige mahnende Worte meines Trierer Landsmannes, der auf chinesisch die Studenten zu sozialistischem Fleiß aufruft, damit der Gipfel der Bildung zum Wohl des Proletariats erreicht werden möge.



Eine Oase im Häusermeer
Bei meinem Herumstromern in unserem Viertel am Sonntag habe ich zufällig im Innenbereich des großen Straßencarrees zwischen Ruijin No. 2 Lu – Jian Quo Chang Lu – Sinan Lu und Tai Kang Lu alte dritte, vierte, fünfte, usw. Hinterhöfe entdeckt, die woanders Slumbewohnungen sind, hier aber zu einem Schicki-Micki-Künstler-Kneipen-Szene-Gebiet mit über tausend kleinen Lokalen und Geschäften in einem pittoresken Gassengewirr umgewidmet sind. Dorthin habe ich meine Kollegen zu unserem Essen heute Abend geführt. Alles wirkt sehr westlich oder international, die Lokale, die Boutiquen, das Speisenangebot, die Getränke und die Preise. Es war unser bisher teuerstes Abendessen (Pizza und Lasagne mit Messer und Gabel). Das Publikum, das herumschlendert, ist anders als die normale Shanghaier Großstadtbevölkerung. Auch das ist Shanghai. Wir saßen ganz gemütlich im Freien, haben uns intensiv über unsere Erfahrungen mit den Studenten ausgetauscht, uns gegenseitig Ideen und Anregungen gegeben und uns richtig wohl gefühlt. Um kurz nach 18.00 Uhr geht zurzeit die Sonne unter, dann ist es immer noch sehr warm. Ich habe noch nie etwas anderes als kurze Hemden getragen, aber nur deshalb, weil ich nicht wie andere Chinesen nach Sonnenuntergang mit nacktem Oberkörper herumlaufen will.



Die vielfache Hinterhofbebauung des nächstöstlichen Häusercarrees zwischen Ruijin No. 2 Lu – Tai Kang Lu – Sinan Lu und Xu Jia Hui Lu ist nicht erhalten geblieben, sondern komplett abgeräumt worden. Der Baugrube nach zu urteilen, werden dort in Kürze weitere Wolkenkratzer entstehen, auf dass der Eigentums- und Mietwohnungsleerstand weiter wachse. Ich glaube, dass viele Immobilieninvestoren sich verspekuliert haben – das wird die Zukunft zeigen. Am Samstag hatte ich mich in einem Immobiliengeschäft über den Kauf oder die Miete einer Wohnung beraten lassen, allerdings die angebotene Besichtigung (noch) nicht in Anspruch genommen. Preise werden, hier üblich, in 10.000 Yuan angegeben. 290 ist also 2,9 Mio. Yuan Kaufpreis für 156,06 m² (entspricht 18.500 Yuan oder 1.850 Euro pro m²; 1500 Yuan für 302,13 m² ergibt ca, 50.000 Yuan oder 5.000 Euro pro m²). Die Ziffernfolge 3/2/2 bedeutet 3 Schlafzimmer/2 Arbeitszimmer (Küche)/2 Bäder. Im Angebot standen Wohnungen in Hochhäusern, die je nach Ortsteil und je nach Stockwerk unterschiedlich teuer verkauft oder vermietet werden.

Erkenntnis des Tages: Altbewährte Konzepte lassen sich mit moderner Technik noch verbessern.

Keine Kommentare: