Montag, 1. September 2008

Der Jun Gong-Campus

Der Campus draußen am Jangtse
Heute war, schon letzte Woche geplant, mein erster Besuch im Jun Gong-Campus der USST. Dieser Ur-Campus ist der Größte und liegt am nördlichen Stadtrand, nahe dem Huangpu-Fluss, der heute, nach der immensen Ausdehnung Shanghais die Stadt mittig durchfließt, aber vor wenigen Jahrzehnten noch die östliche Grenze darstellte. Ein wenig weiter nördlich mündet der Huangpu in den Jangtsekiang, der gleich darauf östlich, noch innerhalb des autonomen Gebietes von Shanghai, ins östliche Chinesische Meer mündet.
(Jangtsekiang ist die deutsche Bezeichnung des englischen Yangtze und bezeichnet eigentlich nur das Mündungsgebiet des Flusses; in China ist diese Bezeichnung, außer für Touristen, unüblich. Der Jangtse spielt im Selbstverständnis der Chinesen eine große Rolle. Er teilt China in Nord- und Südchina und war Ort zahlreicher wichtiger Ereignisse der chinesischen Geschichte. Dazu zählt etwa seine Überquerung durch die Volksbefreiungsarmee während des Chinesischen Bürgerkrieges am 21. April 1949 und das bis Mitte des 20. Jahrhunderts bestehende Recht westlicher Mächte, den Fluss mit Kanonenbooten zu befahren. Richtig heißt er Cháng Jiāng, das bedeutet „Langer Fluss“. Mit 6380 km ist er der längste Fluss Asiens und der drittlängste der Erde und hat ein Einzugsgebiet von knapp 2 Mio. km². Der berühmt-berüchtigte Drei-Schluchten-Staudamm liegt also gar nicht am Jangtsekiang. Bitte merken, falls die Frage mal bei Günther Jauch kommt – übrigens, ich glaube, auch ein überdurchschnittlich gebildeter Deutscher würde beim chinesischen „Wer-wird-Millionär“ schon bei der 50 Yuan-Frage scheitern).



Verschiedene Personen, unterschiedliche Aufgaben
Ich hatte mich mit Xu Zhi Lin, dem mir zugewiesenen Laborassistenten, (nicht zu verwechseln mit Xu Jing Wei von Joint-College) schon letzte Woche verabredet, und wollte gleich nach meiner montäglichen Frühvorlesung mit den U-Bahn-Linien 1 und 8 und danach mit der Busline 6 und 10 Minuten Fußweg eine lange Reise unternehmen, um noch vor Mittag, also so früh wie möglich, die Besichtigung der Laboreinrichtungen zu beginnen. Denn allerspätestens um 17.00 Uhr, so wurde mir ganz höflich und verbal voll auf meine Wünsche eingehend bedeutet, hätte ich gefälligst wieder verschwunden zu sein! Xu lǎoshī (Anrede etwa „Herr Lehrer Schö“) hatte wohl von meinem Kommen berichtet, und nun wurde eine offizielle Sache aus meinem Arbeitsbesuch. Gemeinsam mit der Direktorin der Abteilung Maschinenbau des Joint-College, Frau Sun, und meinem Maschinenbau-Professorenkollegen wurden wir pünktlich zum Mittagessen von Dekan der Fakultät Maschinenbau der USST, Herrn Li, erwartet und am Eingang vom grüßenden, siebenfach überlebensgroßen Vorsitzenden Mao empfangen.
(Da es in China so wenige Nachnamen gibt, kann es mit der eindeutigen Benennung, vergleichbar mit unserem „Herr Hornberger“ gar nicht funktionierten: Welcher Xu, Li, Sun oder Hong ist denn gemeint? Offiziell kommt also immer der Titel oder die Rangbezeichnung dazu; inoffiziell eine bildliche Beschreibung, z. B. der deutschsprechende Xu in unserem Joint-College ist „der kleine Xu“; der ebenfalls deutsch sprechende Dekan Li der Maschinenbaufakultät ist „der Masch-Li“ (vom deutschen Wort Maschinenbau). Bei meiner ersten Stelle beim Daimler sprachen alle auch nur vom „dicken Wahl“ und vom „Glatzen-Wahl“, und jeder wusste sofort, welcher Herr Wahl gemeint war – inoffiziell natürlich nur).

Kommilitonen am Campus
Frau Sun war es ganz, ganz wichtig, auf jeden Fall pünktlich zu kommen. Denn das Joint-College ist seit 2006 eine eigenständige Einheit der USST und nicht mehr Teil der Fakultät. Auch die Labors sind nicht mehr den Fakultätsdekanen zugeordnet, sondern stellen eine eigenständige Dienstleistungseinheit dar. Das Joint-College muss 5.000 Yuan pro Jahr und Student an die USST für in Anspruch oder nicht in Anspruch genommene Leistungen abführen und an die Labormitarbeiter direkt pro Stunde 20 Yuan für die Laborbetreuung seiner Studenten zahlen. 5.000 Yuan p.a. ist die normale Studiengebühr an der USST; die Studenten am deutschen Joint-College zahlen 15.000 Yuan im Jahr. Immerhin 100 Erstsemester werden pro Jahr (Immatrikulation nur im Wintersemester) im deutschen Joint-College für das vierjährige Studium aufgenommen. Das Sino-Britische-MBA-College ist wesentlich größer, verlangt 60.000 Yuan Jahresstudiengebühr, will weiter wachsen und den gesamten Fuxing-Campus für sich übernehmen. Das deutsche Hamburg-Shanghai-Joint-College droht auf den Jun Gong-Campus abgeschoben zu werden.



Ein traditionsreicher Standort
Wir fuhren mit dem Taxi auf der Hochstraße von unserem schuckeligen 48 Mu (ca. 32.000 m²; 1 Mu = 2000/3 m²) großen Innenstadtcampus weit vor die Stadt zum Jun Gong-Campus, wo das Studenten- und sonstige Leben in weiter Umgebung nach Vorlesungsende aus total toter Hose besteht. Warum so weit weg? Inmitten eines Industriegebietes? In Hörweite der Seeschiffe, deren Typhoon-Hörner ich hin und wieder vernahm und sofort Hamburg-Hafen-Assoziationen bekam? Immerhin hat das USST (University of Shanghai for Science and Technology; chinesisch: Shang Hai Li Gong Da Xue = Shang (eigentlich: über)-Hai (eigentlich: Meer)-Naturwissenschaften-Engineering-groß-studieren) gerade sein 100-jähriges Jubiläum dort am Ort gefeiert und ist nicht etwa erst später auf den heute auf 670.000 m² beträchtlich vergrößerten Campus gezogen. Jun Gong-Campus, das heißt Armee-Arbeit(oder Werk)-Campus, war früher die militärische Lehranstalt für den Bau von Kriegsgerät, vor allem für die Marine. Daher die Nähe zu den Werften des Hafens von Shanghai. Damals hieß die Hochschule Hu Jiang Da Xué (Shanghai-Huangpo-groß-studieren). Heute erinnert gar nichts mehr an die frühere Zweckbestimmung. Neben einigen wenigen Altbauten sind vor allem viele Neubauten in ähnlichem Universitäts-Bauten-Stil wie am Fuxing-Campus zu sehen (überwiegend hell-roter Ziegel oder Ziegel-Imitat). 30.000 Studierende hat das USST, davon 2000 (incl. Masterstudiengänge) in der Maschinenbaufakultät. Das Bibliotheksgebäude, das auch das Rechenzentrum der Universität beherbergt, ist gewaltig.



Zum Mittagessen gab es Small talk und den Austausch von Honneurs (oder umgekehrt), nicht in der Mensa, sondern im Universitätsrestaurant, aus Zeitersparnisgründen verschiedene Leckereien auf einem Portionenteller für jeden vorbereitet, eine Schüssel Reis für jeden und für alle eine Terrine Suppe, die in China traditionell als letztes gegessen wird. Danach ging es zum Fotografieren vor den 100-Jahre-Erinnerungsstein mit dem symbolischen, ca. 10 m² großen Bambuswäldchen (Die Sprossenachsen des Bambus wachsen in immer gleichlangen und gleichdicken Internodien einer nach dem anderen in die Höhe und symbolisieren damit das wissenschaftliche Wachstum, das stets auf den Vorhergehenden aufbaut). Eigentlich wollte ich meine Zeit nutzen, die Laborversuche für die Studenten vorzubereiten, und nun war mein Zeitplan schon um drei Stunden überschritten.

Unterschiedlich intensive Studentenbetreuung
Aber kein Problem, denn in den Labors, die mir in allen Details überreichlich freundlich präsentiert wurden, gab es nicht besonders viele Ansatzpunkte für Laborversuche, die die völlig unvorhandenen praktischen Kenntnisse der Studenten hätten weiträumig abdecken können. Immerhin, es gibt in mehreren flächenmäßig sehr großzügig bemessenen ehemaligen Fabrikhallen u. a. eine kleine Presse und eine zweite sehr kleine. Die deutsche UVV (Unfallverhütungsvorschrift) würde beide Pressen wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen (die Zweihandbedienung kann ganz leicht überlistet werden; der Lichtvorhang hat eine Höhe von Feigenblattgröße und gleichnamige Funktion) sofort stilllegen. Ich bin sicher, dass die chinesische UVV das auch tun würden, wenn man sich an die Vorschriften hielte oder einen chinesischen Sicherheitsingenieur in die Nähe der Pressen heranließe. Die kleinen Werkzeuge waren von Flugrost überzogen und standen lieblos in der Ecke auf dem Boden herum. Ich bestand trotzdem darauf, dass den Studenten Tiefziehversuche präsentiert werden. Dazu muss in aller Eile ein Luftpresser repariert werden, der zurzeit ausgefallen ist. Laborversuche, wie an der HAW, wo ganz kleine Gruppen bestimmte fertigungstechnische Versuche eigenständig theoretisch vorbereiten, selber praktisch durchführen und dann schriftlich nachbereiten müssen, gibt es gar nicht. Den Studenten werden von den Assistenten die Versuche vorgeführt – das ist alles. Nur eine Einrichtung hat mir besser gefallen als bei uns an der HAW: Es gibt 24 PC-Arbeitsplätze mit direkter Kopplung zu 4 CNC-Drehmaschinen und 3 CNC-Bearbeitungszentren, wo die Studierenden die gesamte NC-Prozesskette von der Teilekonstruktion über die Fertigungsplangestaltung und die NC-Maschinenprogrammierung bis zur Programmkompilierung und der NC-Fertigung durchführen können.



Die Laborausstattung
Eine neu gelieferte italienische Kunststoffspritzgießmaschine war wegen eines verklemmten Teils im inneren nicht betriebsbereit. Eine Senkerodiermaschine hatte keinerlei Anzeigemöglichkeit von Betriebsdaten, zwei Drahterodiermaschinen waren total ausgefallen. Für Experimente stand eine Rapid Prototyping-Maschine nach dem FDS-Verfahren zur Verfügung, die ich auch eingesetzt sehen möchte für die Präsentation bei den Studenten. Ich konnte mit dem Labor-Xu ein Modellteil abstimmen, dass während der Anwesenheit der Studenten fertig werden wird.
Im Großen und Ganzen ist das Labor auf Zerspanungsmaschinen mit Schwerpunkt Schleiftechnik ausgerichtet und gut ausgestattet, was ich in diesem Semester gar nicht lesen werde, sondern was erst im nächsten Semester unter der Ägide eines Kollegen von mir dran ist. Frau Sun war die Mediokrität des Labors sichtlich peinlich, denn Sie kennt die Hamburger Labors der HAW (bei ihrem Aufenthalt in Hamburg hatte Sie ihren Gastarbeitsplatz bei mir in der schönen Pressenhalle der DaimlerChrysler-Stiftungspresse gehabt). Wir haben gemeinsam intensiv andere Möglichkeiten diskutiert, wie man den Kenntniszuwachs bei den Studenten besser hinbekommen kann. Die Chinesen sind Meister der Improvisation und des Durchsetzens dessen, was sie sich vorgenommen haben. Wir werden eine gute Lösung finden!
Die Ingenieur-Professoren der USST sind stark darauf ausgerichtet, ihr Know how und ihre Arbeitsleistungen vornehmlich in die Konstruktion und Berechnung neuer Fertigungssysteme zu stecken, die von den Laborassistenten dann gebaut werden. Das erfolgt auf Regierungsauftrag für chinesische Produktionsunternehmen. Solche „Projekte“ erfolgreich umzusetzen ist für Professoren in China neben vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ganz wichtig, wenn sie Stufen auf der Karriereleiter erklimmen wollen. Alle acht Jahre wird ein solcher Leistungsträger von der Regierung, das ist gleichzusetzen mit der Kommunistischen Partei Chinas, an eine andere Universität versetzt und befördert. Die Hochschulen werden immer von einem Zweiergespann geleitet: einem Wissenschaftler, Doctors supervisor genannt, und einem Sekretär der KPCh. Die USST hat 12 Professoren und 30 Vizeprofessoren. Alle anderen Mitarbeiter heißen Lǎo Shī – Lehrer; auch die in der Verwaltung. Masch-Li ist Schleifspezialist und arbeitet mit der Universität Stuttgart zusammen. Am Maschinenbaulabor prangt eine Plakette mit der Aufschrift „Key Laboratory of Precision Grinding“. Seit zwei Jahren ist Masch-Li Chef über diesen mitarbeiterstarken Bereich der USST und er verfügt nach anerkennender Meinung seiner Mitarbeiter über ein grandioses Netzwerk an Beziehungen.

Eine Würdigung
Mein Bericht über die Laboreinrichtung und das Joint-College ist nun doch länger und vielleicht auch langweiliger ausgefallen als ich geplant hatte. Nun hoffe ich sehr, dass ich nach meiner Rückkunft in Hamburg nicht zu einem zehnminütigen Abschlussgespräch zu meinem Präsidenten gerufen werde, weil ich als loyaler Hamburger Staatsbeamter eine Aktennotiz über die mir zur Kenntnis gekommenen Fakten verfasst habe und diese der Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Sowas soll in Hamburg unverdiente Folgen haben, wie ich hier in der Ferne mit großem Bedauern zur Kenntnis nehmen musste.



Verkehrsführung
Zurück in die Innenstadt ging es wieder über das Hochstraßensystem, das ausschließlich für PKW (auch keine Busse) freigegeben ist. Unterwegs wiesen mit Leuchtdioden bestückte Vorwegweiser nicht nur den Weg (nur chinesische Beschriftung!), sondern zeigten mit grün-gelb-roter Farbabstufung die momentane Stauerwartung in den nächsten Abschnitten an, so dass unser Taxifahrer sich rechtzeitig für Ausweichstrecken über andere Hochstraßen entscheiden konnte. Die Hochstraßen (man beachte die Blumenkästen mit Grünpflanzen rechts und links entlang der ganzen Hochstraße!) verlaufen kreuzungsfrei mit kürzest möglicher Streckenführung. Das bedingt ziemlich steile Rampen in mehreren Ebenen übereinander. Klar, dass diese Straßen für den Schwerlastverkehr ungeeignet sind. Taxifahren ist öffentlicher Verkehr wie Busfahren, man kann sich den Fahrpreis von der U-Bahn-Geldwertkarte abbuchen lassen. Neben einer Grundgebühr zahlt man nach km-Entfernung ohne Zeitkomponente. Trinkgeld ist nicht üblich in Shanghai, es wird nirgends gegeben noch erwartet. Die Wegekenntnisse unserer beiden Taxifahrer waren unterschiedlich. Die Hinfahrt hat 69,- Yuan, die Rückfahrt 44,- gekostet. Dazu musste der zweite Fahrer die Hochstraße zweimal verlassen, einen Rechts-links-Haken schlagen, und natürlich immer wieder in jede Lücke drängeln bevor es ein anderer tat.

Erkenntnis des Tages: Jede Welt hat ihre eigenen Werte- und Erfolgssysteme; die Einen passen dort hin, die Anderen hier hin. Manche gibt’s, die wären überall erfolgreich, andere nirgends.

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