Mein erster Ferientag begann, nicht anders zu erwarten, trüb. Nicht kalt, nicht regnerisch, aber auch nicht sonnig. So fiel es mir nicht schwer, den Vormittag mit Arbeiten am Computer zu verbringen. So eine Ferienwoche ist in China wichtig, denn die Chinesen haben bislang in der Regel noch keinen individuellen Urlaub, wie wir das als selbstverständlich ansehen. Deswegen wird an solchen zusammenhängenden freien Tagen viel verreist. Die chinesischen Kollegen von der Uni sagten allerdings, hauptsächlich würden sie die Feiertage in der Familie mit ihren Kindern (Singular) verbringen. Erst als ich mitkriegte, dass bei gut ausgebildeten jungen Paaren in der Regel beide berufstätig sind und das Kind normalerweise bei der Oma wohnt, konnte ich in etwa ahnen, was sie meinten. Wenn eine Frau wegen Konjunkturschwäche arbeitslos war, bekommt sie mit 55 Jahren ihre Rente, sonst, wie auch bei den Männern, ist 60 das Renteneintrittsalter. Lediglich die Professoren arbeiten bis 65, woran man die schonende Belastung dieses Berufsstandes ablesen kann. Mit zunehmender Überalterung der chinesischen Gesellschaft wird man das Rentenmodell sicher noch dramatisch anpassen müssen.

Vergnügungsviertel
Am Nachmittag fuhr ich mit ein paar Papier-Ausdrucken mit gezeichneten Schneiderpuppen und eingetragenen Maßen zu meinem Schneider und bestellte für meine Familie ein paar schicke, ausgefallene Sachen. Ich glaube, ich habe dem Monatsumsatz des Schneiders einen ganz nachhaltigen Aufschwung gegeben.
In der Nähe seines garagengroßen (unsere Garage in Hamburg ist größer) „Ateliers“ liegt das Liu Li Gong Fang Museum, wo Bleiglaskunst gezeigt wird und das jeden Abend in einen Kunstsalon verwandelt wird mit Farblichtspielen, folkloristischer Musik, erfüllt von Kaffeeduft; leider musste ich mir das entgehen lassen: geschlossen. Direkt daneben in der nächsten Querstraße liegt das Shanghai Xintiandi, ein geschlossenes Stadtviertel mit diesem Namen, das in einer Rekonstruktions- und Modernisierungsaktion erhalten und umgebaut wurde. Jetzt beherbergt es lauter kleine (teure) Läden, internationale Restaurants und westliche Straßencafes (auch eine Paulaner Brauereischänke ist dabei; es mutet schon befremdlich an, lauter schlanke, schwarzhaarige chinesische Serviermädchen in Dirndln herumlaufen zu sehen) und ein Multiplexkino, wo nur chinesische oder chinesisch synchronisierte internationale Filme laufen. Es war schick hergerichtet, aber hatte kein chinesisches, sondern ein internationales Flair (verbunden mit entsprechendem Preisniveau). Das war also nix für mich. Dabei empfände ich zu Hause ein so eingerichtetes Viertel als Deutsch. Dahinter steckt wohl Gewöhnung: Die Amerikaner halten Pizza für eine amerikanische Erfindung und die Deutschen Kinderschokolade für eine deutsche – aber, wer hat’s erfunden? In diesen beiden Fällen waren es die Italiener.

Wohnen in Shanghai
Im Xintiandi-Komplex gab es als Reminiszenz an die alte Zeit das kleine Shanghai Shikumen Wulixiang-Museum, das mir sehr gut gefallen hat. Es waren nur wenige Besucher dort und nur Europäer. Shanghais Shikumen-Häuser sind das südliche Gegenstück zu den typisch Pekinger Innenhof-Häusern, Hutong genannt. Ab 1870 (also nach der besatzungsgleichen europäischen Einflussnahme in Shanghai) wurde dieser chinesisch und westlich beeinflusste Bebauungstyp weitflächig eingeführt und war für ein Jahrhundert die beherrschende Wohnarchitektur, um die dichter werdende urbane Bevölkerung als Kernfamilien (Vater, Mutter, eigene Kinder, eventuell die Großeltern) mit ihrem Dienstpersonal aufzunehmen. Das war ein Wandel, denn vorher war die übliche Lebensform die Mehrgenerationen-Großfamilie mit vielen Angehörigen und entsprechend hohem Flächenbedarf, der nur auf dem Land zu haben war. Heute leben immer noch ca. 2 Millionen Shanghaier in Shikumen-Gemeinschaften. Shikumen heißt Stein-Tor und beschreibt den Eingang des Hauses in der Wulixiang-Siedlung, wobei Wulixiang in Shanghaier Dialekt für „Heim, zu Hause“ steht. Die Häuser stehen dicht an dicht innerhalb eines großen, gegen die Straße mit einer Mauer abgeschotteten Wohnblocks und sind durch ganz lange, schmale Gässchen miteinander verbunden, die Lilong heißen und im Shanghaier Dialekt Longtang genannt werden. Dort auf den Gassen spielte sich das soziale Leben der Siedlungsgemeinschaft ab – und tut es auch noch heute in den bewohnten Bereichen. Die Steintore hatten zwei solide 5 bis 8 cm starke schwarz gestrichene Holztüren mit Bronze- oder Eisenringen. An den Torabmessungen und Säulengrößen wurde der Sozialstatus der Besitzer abgelesen. Benutzt wurden diese Eingänge aber nur bei wichtigen Anlässen; sonst verließ man sein Haus, wie es in Shanghai üblich war, durch die hintere Küchentür. Eine Familie bewohnte ein Haus auf mehreren Etagen in aus meiner Sicht beengten Verhältnissen. Hinter dem Steintor betrat man den vorderen Innenhof, den man sich mit einer Fläche von vielleicht 3 mal 4 Meter vorstellen muss. Dieser diente dazu, Tageslicht und Luft hereinzulassen und als ruhiges Plätzchen, wo man im Sommer ein kühles Lüftchen und im Winter wärmende Sonnenstrahlen genießen konnte. Er diente auch als Durchgangsraum und akustische Abschottung zwischen der geschäftigen Gasse und dem Privatbereich.
Von dort aus ging es in den wichtigsten Raum des traditionellen Shikumen-Hauses, den zentralen Empfangsraum für Besucher, der mit einer herausnehmbaren, durchbrochenen Holztür auch für größere Empfänge (Familienfest, Hochzeit, Trauerfeier) in Kombination mit dem Innenhof genutzt werden konnte. Ausgestattet ist ein chinesischer Empfangsraum immer mit mehreren Sitzgruppen, bei denen stets zwei Stühle oder Sessel mit einem Tisch(chen) dazwischen nebeneinander stehend angeordnet sind. Außerdem sind die Tafeln zum Ahnengedenken in diesem Raum aufgestellt. Weiter im Haus wurde die typische Einrichtung der Zimmer im Stil der 1930er-Jahre gezeigt, die mich teilweise an das erinnerte, was ich von meinen Großeltern noch kannte. Das kleinste Kämmerlein im dritten Stock wird Tingzijian genannt, war für das Dienstpersonal vorgesehen und war im Winter bitterkalt (Heizung gab es und gibt es bis heute nirgendwo in China südlich des Yangtse-Flusses) und im Sommer schwülheiß. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts zogen dort oft arme Literaten und Künstler ein, die einen eigenen Literaturstil entwickelten: die Tingzijian-Literatur.
Schöner Wohnen in Shanghai
Heute werden diese inzwischen arg heruntergekommenen Viertel beseitigt, um Platz für Hochhäuser zu schaffen, die mehr Menschen in größeren Wohnungen unterbringen – sofern es sich nicht um chinesische oder ausländische (Fehl-)Spekulationsobjekte handelt, deren fehlende Bewohnung vor allem nachts auffällt. Chinesen lieben Wortspiele: Wörter können gleich klingen, aber eine unterschiedliche Bedeutung (und dann natürlich auch ein unterschiedliches Schriftzeichen) haben. Das englisch ausgesprochene „China“ klingt wie Chai na!, und bedeutet „Reißt alles ab!“ In den Wohntürmen ist das Leben anonym. Nachbarn pflegen kaum noch Kontakt, und ein Ausweichen auf Hof und Gasse, wie in den alten Wohnvierteln im Sommer üblich, ist dort nicht mehr Brauch und geht vom Platz her auch gar nicht. Und so mancher, der aus beengten Verhältnissen in eine aufwändig ausgestattete Wohnanlage zieht, muss sich erst langsam an das neue Leben gewöhnen.

Wie alles begann
Direkt nebenan, über die Straße rüber, ist die Kultgedenkstätte, wo 1921 der Gründungskongress der Kommunistischen Partei mit 13 Abgeordneten aus ganz China konspirativ stattgefunden hat. In einem Museum nebenan (die Eintrittskarte erhält man kostenlos) mit zusammengesammelten alten Sachen, die irgendwie grenzwertig mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht werden können (das streng verbotene Fotografieren wird von zahlreichen Uniformierten streng überwacht; was ich, nachdem ich fotografiert hatte, auch gezwungenermaßen streng beachtet habe), ist ein Wachsfiguren-Diorama mit lebensgroßen Puppen aufgebaut. Alle Delegierten sitzen am Tisch, nur der junge Mao Tsetung steht mit ausladender Armbewegung da. Ich habe gelesen, Mao sei an diesem Datum gar nicht in Shanghai, sondern in Changsha, Hauptstadt der chinesischen Provinz Hunan, gewesen. Jedenfalls stellt die Kommunistische Partei ihn in ihrem Huldigungstempel in den Mittelpunkt.
Heerscharen von Chinesen pilgerten mit echter Andacht durch diese Räume, und kurz vor dem Ausgang konnte ich noch einen Blick in den Originalraum des ersten mehrtägigen Kongresses werfen. Damals war das geheime Treffen aufgeflogen, weswegen der eigentliche Parteigründungsakt auf einem (nicht mehr existenten und damit nicht mehr verehrbaren) Ausflugsboot auf einem nahen See (der ganz genaue geografische Ort ist auch nicht überliefert) stattgefunden hat. Auf der Straße ließen sich alle Gläubigen an der Tür, die direkt vor der Originalstätte liegt, fotografieren. Am besten hat mir ein sehr alter Mann gefallen, der, wie weiland Erich Honnecker vor seinem Abflug ins chilenische Exil, mit erhobener linker Faust für Foto den Sieg der guten Sache proklamiert hat.

Japan in China
Am Abend machte ich mich mit meinem verbliebenen Kollegen (die anderen beiden sind für drei Tage zu einer Mietfahrradtour auf eine Insel im Mündungsdelta des Jangtsekiang gereist, was mich nicht sehr verlockt hat), mit Jacket bekleidet auf dem Fahrrad auf zur „Shanghai International Piano Academy of Shanghai Conservatory of Music“ losgezogen. Bevor das Konzert begann, wollten wir noch einen Happen essen, was dort in der Nähe wegen des Mangels an Gaststätten nicht wirklich leicht zu realisieren war. Wir kehrten in einem japanischen Restaurant ein, wo alle nebeneinander in einer Reihe saßen und direkt vor einem das Essen auf rieseigen Edelstahlplatten zubereitet wurde. Das gefiel meinem Kollegen, weil er beim Essen ziemlich heikel ist, und nicht gerne blind auf das vertraut, was serviert wird. Das Essen war eine Mordsschau, hat gut geschmeckt, war etwa doppelt so teuer wie das Essen in einem normalen chinesischen Restaurant und ich kann sagen, ich habe in China inzwischen schon viel gegessen, aber noch nie so wenig wie dort.
Die Konzertkarten waren ein Geschenk vom Joint-College, das spontan am letzten Tag vor den Ferien überreicht wurde. Die beiden verreisten Kollegen waren ob der ungeplanten Terminverfügung, die wir hier immer wieder erleben, etwas verschnupft, denn sie konnten an diesem Kulturereignis wegen ihrer geplanten Tour nicht teilnehmen.
Klavierkonzert
Mein Kollege und ich hatten einen sehr guten Platz ganz außen rechts in der letzten Reihe. Dadurch konnte ich nicht nur das Konzert genießen, sondern wunderbar das ganze Geschehen der Konzertbesucher überblicken. Die oben genannte Academy unterstützt und fördert Klavierkünstler und deswegen gab es heute ein Gastkonzert des Israelischen Virtuosen russischer Abstammung, Victor Stanislavsky, der zwei Werke aus der Romantik von Franz Schubert vor der Pause, danach ein Opus von Frederic Chopin nach der Pause und zum Schluss von Robert Schumann die Humoresque, Opus 20 spielte. Die Akustik der Konzerthalle war auch ganz dahinten ausgezeichnet, wenn man davon absieht, dass es guter Brauch in China ist, die Schleimhautbehaftung der Nasennebenhöhlen durch Erzeugung eines Unterdrucks zu lösen zu versuchen, was in hartnäckigen Fällen meist nicht gleich beim ersten und oft auch noch nicht beim zehnten Mal gelingt. Außerdem verfügt der menschliche Schädel über eine Vielzahl von Nebenhöhlen, die alle einzeln ausreichend gepflegt werden wollen – und schließlich lässt sich diese Verrichtung in Gemeinschaft viel angenehmer vollbringen als ganz alleine. Ich freute mich über das Kulturgut chinesischen Körperbeherrschung („begnadete Körper“) und stellte mir vor, wie es mir wohl als Fremdem in einer Volksgemeinschaft ergehen müsste, in der es gesellschaftsfähig sei, als Ausdruck ehrlich gemeinter Befreiung, den Abdonimalbereich vom peinigenden Druck der die natürliche Verdauung begleitenden Gasbildung zu entlasten. So gesehen, habe ich es gut erwischt.
Im abgedunkelten Saal leuchteten ständig die Displays von Fotoapparaten, mit denen aus dreißig Metern Entfernung mit dem in der Kamera eingebautem Miniblitz die Romantik der Situation des Konzertes für die Nachwelt konserviert werden sollte. Bereichernd war auch die Vielfalt der mir noch unbekannten Handyklingeltöne, die für das fernöstliche Ohr Signal sein sollen, hurtig mit der Außenwelt in Kontakt zu treten.
Nur wer sein Leben dem Klavierspiel widmet, wie Herr Stanislavsky, wird mit großer Freude und Bewunderung die Virtuosität und Harmonie des Vortrags von fast zwei Stunden lang auswendig vorgetragenem Klavierspiel richtig würdigen können. Fast die Hälfte der um mich herum sitzenden Konzertbesucher hatte sich daran erinnert, dass der Schlaf vor Mitternacht viel erholsamer sei, als der danach und zog daraus seine Konsequenzen. (Mir könnte sowas nicht passieren, denn spätestens bis zur Pause habe ich stets mein Kontingent an Erfrischungsbedarf ausreichend ausgeschöpft). Dementsprechend fit waren sie, um rechtzeitig den verdienten Applaus zu spenden, auch wenn sie das nicht besonders aufbrausend taten. Nach der Humoreske Nr. 20 war jedoch Schluss mit lustig, und manche eilten, noch bevor im Saal das Licht angeknipst wurde, dem Ausgang entgegen. Victor, nachdem er seinen Abgang schon zelebriert hatte, spurtete kraftvoll zurück auf die Bühne, um mit einer Zugabe das Großmaß seiner Fingerfertigkeit unter Beweis zu stellen. Den schwächer werdenden Applaus deutete er danach als erneute Aufforderung und brachte etwas kurzes Beschauliches zu Gehör.
Ein schöner Abend gehobener Kultur neigte sich seinem Ende zu
Erkenntnis des Tages: Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden (Wilhelm Busch, 1832 - 1908, nachdem er seine Erfahrungen in chinesischen Konzertsälen gesammelt hatte)
Vergnügungsviertel
Am Nachmittag fuhr ich mit ein paar Papier-Ausdrucken mit gezeichneten Schneiderpuppen und eingetragenen Maßen zu meinem Schneider und bestellte für meine Familie ein paar schicke, ausgefallene Sachen. Ich glaube, ich habe dem Monatsumsatz des Schneiders einen ganz nachhaltigen Aufschwung gegeben.
In der Nähe seines garagengroßen (unsere Garage in Hamburg ist größer) „Ateliers“ liegt das Liu Li Gong Fang Museum, wo Bleiglaskunst gezeigt wird und das jeden Abend in einen Kunstsalon verwandelt wird mit Farblichtspielen, folkloristischer Musik, erfüllt von Kaffeeduft; leider musste ich mir das entgehen lassen: geschlossen. Direkt daneben in der nächsten Querstraße liegt das Shanghai Xintiandi, ein geschlossenes Stadtviertel mit diesem Namen, das in einer Rekonstruktions- und Modernisierungsaktion erhalten und umgebaut wurde. Jetzt beherbergt es lauter kleine (teure) Läden, internationale Restaurants und westliche Straßencafes (auch eine Paulaner Brauereischänke ist dabei; es mutet schon befremdlich an, lauter schlanke, schwarzhaarige chinesische Serviermädchen in Dirndln herumlaufen zu sehen) und ein Multiplexkino, wo nur chinesische oder chinesisch synchronisierte internationale Filme laufen. Es war schick hergerichtet, aber hatte kein chinesisches, sondern ein internationales Flair (verbunden mit entsprechendem Preisniveau). Das war also nix für mich. Dabei empfände ich zu Hause ein so eingerichtetes Viertel als Deutsch. Dahinter steckt wohl Gewöhnung: Die Amerikaner halten Pizza für eine amerikanische Erfindung und die Deutschen Kinderschokolade für eine deutsche – aber, wer hat’s erfunden? In diesen beiden Fällen waren es die Italiener.
Wohnen in Shanghai
Im Xintiandi-Komplex gab es als Reminiszenz an die alte Zeit das kleine Shanghai Shikumen Wulixiang-Museum, das mir sehr gut gefallen hat. Es waren nur wenige Besucher dort und nur Europäer. Shanghais Shikumen-Häuser sind das südliche Gegenstück zu den typisch Pekinger Innenhof-Häusern, Hutong genannt. Ab 1870 (also nach der besatzungsgleichen europäischen Einflussnahme in Shanghai) wurde dieser chinesisch und westlich beeinflusste Bebauungstyp weitflächig eingeführt und war für ein Jahrhundert die beherrschende Wohnarchitektur, um die dichter werdende urbane Bevölkerung als Kernfamilien (Vater, Mutter, eigene Kinder, eventuell die Großeltern) mit ihrem Dienstpersonal aufzunehmen. Das war ein Wandel, denn vorher war die übliche Lebensform die Mehrgenerationen-Großfamilie mit vielen Angehörigen und entsprechend hohem Flächenbedarf, der nur auf dem Land zu haben war. Heute leben immer noch ca. 2 Millionen Shanghaier in Shikumen-Gemeinschaften. Shikumen heißt Stein-Tor und beschreibt den Eingang des Hauses in der Wulixiang-Siedlung, wobei Wulixiang in Shanghaier Dialekt für „Heim, zu Hause“ steht. Die Häuser stehen dicht an dicht innerhalb eines großen, gegen die Straße mit einer Mauer abgeschotteten Wohnblocks und sind durch ganz lange, schmale Gässchen miteinander verbunden, die Lilong heißen und im Shanghaier Dialekt Longtang genannt werden. Dort auf den Gassen spielte sich das soziale Leben der Siedlungsgemeinschaft ab – und tut es auch noch heute in den bewohnten Bereichen. Die Steintore hatten zwei solide 5 bis 8 cm starke schwarz gestrichene Holztüren mit Bronze- oder Eisenringen. An den Torabmessungen und Säulengrößen wurde der Sozialstatus der Besitzer abgelesen. Benutzt wurden diese Eingänge aber nur bei wichtigen Anlässen; sonst verließ man sein Haus, wie es in Shanghai üblich war, durch die hintere Küchentür. Eine Familie bewohnte ein Haus auf mehreren Etagen in aus meiner Sicht beengten Verhältnissen. Hinter dem Steintor betrat man den vorderen Innenhof, den man sich mit einer Fläche von vielleicht 3 mal 4 Meter vorstellen muss. Dieser diente dazu, Tageslicht und Luft hereinzulassen und als ruhiges Plätzchen, wo man im Sommer ein kühles Lüftchen und im Winter wärmende Sonnenstrahlen genießen konnte. Er diente auch als Durchgangsraum und akustische Abschottung zwischen der geschäftigen Gasse und dem Privatbereich.
Schöner Wohnen in Shanghai
Heute werden diese inzwischen arg heruntergekommenen Viertel beseitigt, um Platz für Hochhäuser zu schaffen, die mehr Menschen in größeren Wohnungen unterbringen – sofern es sich nicht um chinesische oder ausländische (Fehl-)Spekulationsobjekte handelt, deren fehlende Bewohnung vor allem nachts auffällt. Chinesen lieben Wortspiele: Wörter können gleich klingen, aber eine unterschiedliche Bedeutung (und dann natürlich auch ein unterschiedliches Schriftzeichen) haben. Das englisch ausgesprochene „China“ klingt wie Chai na!, und bedeutet „Reißt alles ab!“ In den Wohntürmen ist das Leben anonym. Nachbarn pflegen kaum noch Kontakt, und ein Ausweichen auf Hof und Gasse, wie in den alten Wohnvierteln im Sommer üblich, ist dort nicht mehr Brauch und geht vom Platz her auch gar nicht. Und so mancher, der aus beengten Verhältnissen in eine aufwändig ausgestattete Wohnanlage zieht, muss sich erst langsam an das neue Leben gewöhnen.
Wie alles begann
Direkt nebenan, über die Straße rüber, ist die Kultgedenkstätte, wo 1921 der Gründungskongress der Kommunistischen Partei mit 13 Abgeordneten aus ganz China konspirativ stattgefunden hat. In einem Museum nebenan (die Eintrittskarte erhält man kostenlos) mit zusammengesammelten alten Sachen, die irgendwie grenzwertig mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht werden können (das streng verbotene Fotografieren wird von zahlreichen Uniformierten streng überwacht; was ich, nachdem ich fotografiert hatte, auch gezwungenermaßen streng beachtet habe), ist ein Wachsfiguren-Diorama mit lebensgroßen Puppen aufgebaut. Alle Delegierten sitzen am Tisch, nur der junge Mao Tsetung steht mit ausladender Armbewegung da. Ich habe gelesen, Mao sei an diesem Datum gar nicht in Shanghai, sondern in Changsha, Hauptstadt der chinesischen Provinz Hunan, gewesen. Jedenfalls stellt die Kommunistische Partei ihn in ihrem Huldigungstempel in den Mittelpunkt.
Japan in China
Am Abend machte ich mich mit meinem verbliebenen Kollegen (die anderen beiden sind für drei Tage zu einer Mietfahrradtour auf eine Insel im Mündungsdelta des Jangtsekiang gereist, was mich nicht sehr verlockt hat), mit Jacket bekleidet auf dem Fahrrad auf zur „Shanghai International Piano Academy of Shanghai Conservatory of Music“ losgezogen. Bevor das Konzert begann, wollten wir noch einen Happen essen, was dort in der Nähe wegen des Mangels an Gaststätten nicht wirklich leicht zu realisieren war. Wir kehrten in einem japanischen Restaurant ein, wo alle nebeneinander in einer Reihe saßen und direkt vor einem das Essen auf rieseigen Edelstahlplatten zubereitet wurde. Das gefiel meinem Kollegen, weil er beim Essen ziemlich heikel ist, und nicht gerne blind auf das vertraut, was serviert wird. Das Essen war eine Mordsschau, hat gut geschmeckt, war etwa doppelt so teuer wie das Essen in einem normalen chinesischen Restaurant und ich kann sagen, ich habe in China inzwischen schon viel gegessen, aber noch nie so wenig wie dort.
Die Konzertkarten waren ein Geschenk vom Joint-College, das spontan am letzten Tag vor den Ferien überreicht wurde. Die beiden verreisten Kollegen waren ob der ungeplanten Terminverfügung, die wir hier immer wieder erleben, etwas verschnupft, denn sie konnten an diesem Kulturereignis wegen ihrer geplanten Tour nicht teilnehmen.
Klavierkonzert
Mein Kollege und ich hatten einen sehr guten Platz ganz außen rechts in der letzten Reihe. Dadurch konnte ich nicht nur das Konzert genießen, sondern wunderbar das ganze Geschehen der Konzertbesucher überblicken. Die oben genannte Academy unterstützt und fördert Klavierkünstler und deswegen gab es heute ein Gastkonzert des Israelischen Virtuosen russischer Abstammung, Victor Stanislavsky, der zwei Werke aus der Romantik von Franz Schubert vor der Pause, danach ein Opus von Frederic Chopin nach der Pause und zum Schluss von Robert Schumann die Humoresque, Opus 20 spielte. Die Akustik der Konzerthalle war auch ganz dahinten ausgezeichnet, wenn man davon absieht, dass es guter Brauch in China ist, die Schleimhautbehaftung der Nasennebenhöhlen durch Erzeugung eines Unterdrucks zu lösen zu versuchen, was in hartnäckigen Fällen meist nicht gleich beim ersten und oft auch noch nicht beim zehnten Mal gelingt. Außerdem verfügt der menschliche Schädel über eine Vielzahl von Nebenhöhlen, die alle einzeln ausreichend gepflegt werden wollen – und schließlich lässt sich diese Verrichtung in Gemeinschaft viel angenehmer vollbringen als ganz alleine. Ich freute mich über das Kulturgut chinesischen Körperbeherrschung („begnadete Körper“) und stellte mir vor, wie es mir wohl als Fremdem in einer Volksgemeinschaft ergehen müsste, in der es gesellschaftsfähig sei, als Ausdruck ehrlich gemeinter Befreiung, den Abdonimalbereich vom peinigenden Druck der die natürliche Verdauung begleitenden Gasbildung zu entlasten. So gesehen, habe ich es gut erwischt.
Im abgedunkelten Saal leuchteten ständig die Displays von Fotoapparaten, mit denen aus dreißig Metern Entfernung mit dem in der Kamera eingebautem Miniblitz die Romantik der Situation des Konzertes für die Nachwelt konserviert werden sollte. Bereichernd war auch die Vielfalt der mir noch unbekannten Handyklingeltöne, die für das fernöstliche Ohr Signal sein sollen, hurtig mit der Außenwelt in Kontakt zu treten.
Nur wer sein Leben dem Klavierspiel widmet, wie Herr Stanislavsky, wird mit großer Freude und Bewunderung die Virtuosität und Harmonie des Vortrags von fast zwei Stunden lang auswendig vorgetragenem Klavierspiel richtig würdigen können. Fast die Hälfte der um mich herum sitzenden Konzertbesucher hatte sich daran erinnert, dass der Schlaf vor Mitternacht viel erholsamer sei, als der danach und zog daraus seine Konsequenzen. (Mir könnte sowas nicht passieren, denn spätestens bis zur Pause habe ich stets mein Kontingent an Erfrischungsbedarf ausreichend ausgeschöpft). Dementsprechend fit waren sie, um rechtzeitig den verdienten Applaus zu spenden, auch wenn sie das nicht besonders aufbrausend taten. Nach der Humoreske Nr. 20 war jedoch Schluss mit lustig, und manche eilten, noch bevor im Saal das Licht angeknipst wurde, dem Ausgang entgegen. Victor, nachdem er seinen Abgang schon zelebriert hatte, spurtete kraftvoll zurück auf die Bühne, um mit einer Zugabe das Großmaß seiner Fingerfertigkeit unter Beweis zu stellen. Den schwächer werdenden Applaus deutete er danach als erneute Aufforderung und brachte etwas kurzes Beschauliches zu Gehör.
Ein schöner Abend gehobener Kultur neigte sich seinem Ende zu
Erkenntnis des Tages: Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden (Wilhelm Busch, 1832 - 1908, nachdem er seine Erfahrungen in chinesischen Konzertsälen gesammelt hatte)
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