Mittwoch, 17. September 2008

Beim Schneider

Vorschatten der Ereignisse
Ein Ereignis in der Zukunft hat seinen vorausscheinenden Glanz auf den heutigen Tag geworfen: Der Tag der Deutschen Einheit. Der Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Shanghai und seine Frau Gemahlin geben sich nämlich die Ehre, mich anlässlich dieses Feiertages zu sich zu einem Empfang zu laden. Erst im Ausland ist mir danach, unseren Nationalfeiertag ernst zu nehmen, während ich in Deutschland bisher immer nur an der fast willkürlichen Festlegung des Datums herumkritisiert habe (soweit ging meine Kritik allerdings noch nie, dass ich für die Abschaffung dieses arbeitsfreien Tages gewesen wäre). Ich sehe dem 6. Oktober 2008 (am Abend dieses Tages findet der Empfang statt, weil in der „Golden Week“ davor, wegen des Nationalfeiertages des VR China alle frei haben) mit Spannung entgegen, und hoffe dass ich den Generalkonsul auch zu Gesicht bekomme. Denn außer mir sind noch alle anderen „Landsleute aus Shanghai und Umgebung“ eingeladen. Das werden sicher ein paar tausend Deutsche sein, die in der Industriemetropole Shanghai arbeiten, aber gemessen an den 16 Millionen Menschen in Shanghai, darf ich mich mit Recht zur feinen Cremeschicht zugehörig fühlen. Meine Einladung habe ich aus dem Internet, und sie schließt mit dem kleingedrucken Hinweis „Dunkler Anzug“. Mit einem meiner Kollegen habe ich mich heute also auf die Suche nach „Dunkler Anzug“ gemacht, denn im Unialltag ist förmliche Kleidung nicht Gang und Gäbe, wie in der Wirtschaft und im Industriemanagement, und in Shanghai sollte man tunlichst im Sommer möglichst wenig und nur ganz luftiges tragen. Ganz untypisch für Männer haben wir beiden drei Stunden mit dem Shopping verbracht. Parallel zur Fuxing Lu, an der unser Campus liegt, führt die Huai Hai Zhong Lu, und die ist im Abschnitt zwischen Xiang Yang Park und dem Liu Lin Da Sha-Wolkenkratzer die Topp-Einkaufsstraße Shanghais, vergleichbar mit dem Neuen Wall in Hamburg; es sind dort genau die gleichen Geschäfte internationaler Edelmarken anzutreffen (Die viel größere, geschäftigere und bekanntere Nanking Lu, die von der Hauptpromenade Bund am Huangpu-Fluss abgeht, wurde mir von meinen chinesischen Kollegen von den Preisen her mehr als etwas für „normale“ Menschen zu sein beschrieben). Zwischen Fuxing und Huai Hai führt die Mao Ming Lu, die eine stattliche Anzahl Herrenschneidergeschäfte beherbergt (Damenklamottenläden gibt es unüberschaubar viele – mit Ehefrau in Shanghai zu verweilen, die sich selber beschäftigt, während ihr Mann bei der Arbeit ist, kann aufgrund der an vielen Stellen extrem günstigen Preise zu einem aufsummiert extrem teuren Vergnügen werden). Schöne englische Cashmere-Stoffe (Made in China) gab es, jeden gewünschten Anzugschnitt, vorzügliche Bedienung, ein gewissen englischen Sprachschatz, und die Preise lagen unter denen in Hamburg, aber über dem, was ich ausgeben wollte. Jetzt haben wir einen guten Überblick über das momentane Angebot an Shanghais Spitzeneinkaufsadresse.



Geheimadresse
Mir war schon zuvor ein Schneidergeschäft in der Dan Shui Lu, ganz in der Nähe von unserem Hotel auf dem Weg zur U-Bahnhaltestelle aufgefallen. Die Dan Shui Lu ist zwar ziemlich traditionell Chinesisch ungepflegt, mit teilweise wenig attraktiv dargebotenen Ladenauslagen. Aber innerhalb des kleinen Ladens gab es die gleichen Stoffmusterbücher wie bei den Edelschneidern, ich konnte dort alle meine speziellen Wünsche an Schnitt, Anzahl der Knöpfe am Jackettärmel (mit genähten, offenen Knopflöchern und nicht nur aufgenähten Knöpfen), Zahl und Lage der Gürtelschlaufen usw. anbringen und das bei einem unverhandelten Preis, der bei 50 % des Marktniveaus in der Mao Ming liegt und alle Wünsche beinhaltete. Außer dem Anzug bestellte ich mir noch ein Maßhemd, auch wiederum mit Sonderausstattung, unter anderem meine eingestickten Initialien in chinesischen Schriftzeichen: Hong Pe Te (mein angenommener chinesischer Name für Peter Hornberger). Nun ist die Spannung groß, denn zwei Drittel des Preises habe ich schon angezahlt; nächste Woche ist Maßanprobe und in zehn Tagen soll alles fertig sein. Ob dann wieder so viele Nachbarn von meinem Scheider zuschauen werden?



Ansichten über Deutschland
Am Abend war ich wieder mit einigen meiner chinesischen Studenten beim Essen, wobei die mich in besondere Leckereien und Spezialitäten einweihen: sie suchen aus, mit Hilfe der verschiedenen Deutsch-Chinesischen-Übersetzungs-Palmtops wird der an besten zutreffende deutsche Begriff gewählt und dann wird geschmeckt und gegessen. Manche Sachen sind einfach zu übersetzen: Schweinerippchen an süß-saurer Soße oder gebratener Chinakohl. Schwieriger wird es bei Tofu mit Kiefernblüteneiern, die tief dunkelgrün auf den blass gelben Tofuscheiben lagen. Da meinen Studenten die Zubereitung vertraut ist, habe ich schließlich für alle Gerichte den Überblick, um was es sich handelt. Sie sind mächtig stolz auf ihre gute, leckere, weltweit unübertroffene vielfältige Küche. Die Atmosphäre wird von mal zu mal lockerer, wir haben diesmal sogar schon so über politische Themen gesprochen, das vor 15 Jahren die Tischnachbarn (sofern sie unser Gespräch auf deutsch hätten verfolgen können), verpflichtet gewesen wären, die Inhalte und Personen bei der Partei zu melden, berichteten sie und fügten hinzu: wie in der DDR. Ihr Deutschlandbild haben sie aus ihrem Deutschunterricht und von einem Mädchen ihrer Clique, das schon einmal zur Summerschool (Deutscher Sprachunterricht für Ausländer an der HAW während der Sommerferien) in Hamburg war. Kontakt mit Deutschen hatte sie damals kaum bekommen, aber mit Türken von der Universität in Antalya, mit der die HAW ebenfalls internationalen Kontakt und Austausch pflegt. Nach dem Bericht, den ich gehört hatte, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wovon ich dick bloß geworden bin, so bedenklich, wie das Essen in Deutschland ist. Gemüse wird in großen Mengen roh gegessen, statt es zu kochen, dämpfen oder braten. Toter Fisch wird im Laden verkauft. Richtig ekelhaft finden sie, dass verfaulte Milch verkauft wird und es dafür sogar Käsespezialitätengeschäfte gibt. Das Mädchen hatte jedenfalls bei Ihrem Deutschlandtrip stark abgenommen. Komisch, die gleiche Erfahrung mache ich jetzt hier auch, und bis gestern noch hätte ich das einerseits ganz sicher an dem Speiseangebot mit viel Gemüse festgemacht und es andererseits der Essenszufuhr zum Mund stets nur in keinen Portionen zugeschrieben, weil man mit Stäbchen einfach nicht ungesund schlingen kann. Aber wäre ich von Kindesbeinen an anders erzogen worden, hätte ich mir bestimmt auch andere Fertigkeiten angewöhnt, um mit dem dann anderen Leben optimal zurecht zu kommen.



Wir gingen noch zum Fuxing-Campus zurück, wo alle Studenten im Wohnheim wohnen müssen und wo mein Fahrrad stand. Ich wurde noch zur Zimmerbesichtigung eingeladen, was ich gerne und neugierig annahm. Vom am Eingang sitzenden obligatorischen Aufpasser wurde ich freundlich begrüßt – seine Aufgabe ist es, keine Mädchen in das Jungengebäude hinein zu lassen. Die Erstsemester müssen um 11.00 Uhr das Licht ausmachen und haben nachts Ausgangssperre, wie ich als damals gleichaltriger, als ich mich bei der Bundeswehr zur Grundausbildung befand (Allgemeine Wehrpflicht gibt es in China nicht). Zum Abschied bekam ich noch eine Packung Instantnudeln mit Meeresfrüchten (in die Schüssel legen, kochendes Wasser darüber, vier Minuten ziehen lassen, fertig) in die Hand gedrückt, weil, selbst wenn ich sowas in Deutschland schon gegessen hätte, die chinesischen seien doch unübertroffen lecker.

Erkenntnis des Tages: Wenn der Altersunterschied nicht wäre, würde ich sagen: hier bin ich versorgt und aufgehoben wie bei Muttern.

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