Als wir unsere Flussfahrt auf dem Huangpu gemacht hatten, äußerte ich den Wunsch, die Shanghaier Hafenanlagen mal von der Landseite zu besichtigen, wie ich das in Hamburg im Sommer oft tue. In Hamburg fahre ich mit dem wendigen Motorroller über weite Strecken in die kleinsten Winkel hinein und kenne mich ganz gut aus. Keiner meiner Kollegen wollte sich die Besichtigung von düsteren Industrieanlagen antun, so dass ich den Plan fasste, mit der U-Bahn Linie 6 (die in Wirklichkeit eine aufgeständerte S-Bahn ist und im Stadtplan von 2007 noch nicht eingezeichnet wurde!) bis zum Rand des Containerhafens zu fahren und meine weiteren Erkundungen zu Fuß zu machen, denn eine Fahrradmitnahme in der Bahn gibt es selbstverständlich nicht, bei der zu erwartenden Nutzung so eines Angebots.
Shanghai teilt sich seinen Bewohnern mit
Dann überraschten mich meine Elektrotechnikprofessorenkollegen vor ein paar Tagen mit der Nachricht, sie hätten in der Klasse nachgefragt, und Emil (alle chinesischen Studenten wählen sich in der ersten Deutschlektion einen deutschen Vornamen und viele haben dann schon ziemlich konkrete Vorstellungen, wie sie heißen wollen, was aber nie einen Bezug zur Wortbedeutung des Namens hat) wolle mit anderen interessierten Studenten unbedingt mitfahren, ja, er würde sich extra zu diesem Anlass ein neues Fahrrad kaufen, was er aber sowieso schon vorhatte. Die von mir als Drohung empfundene Aussicht auf eine sehr lange Radtour war nun nicht mehr zurück zu biegen, weil sich inzwischen verschiedene tatendurstige Fraktionen auf diesen Samstagsausflug vorbereiteten. Bei starkem Sonnenschein trotz starker Dunstglocke, die heute so extrem war, dass man sie waagerecht auf 100 m Strecke unter den schattenspendenden Bäumen erkennen konnte, trafen wir Punkt 10.00 Uhr wie verabredet am Haupttor des Fuxing-Campus ein. Ganz pünktlich ging ein ohrenbetäubender Sirenenalarm los. Zuerst dreimal 30 Sekunden Dauerton mit ebenso langer Pause dazwischen. Sirenenprobe? Wir starteten unsere Radtour zu dritt (es blieben einschließlich mir nur zwei Professoren und ein Student von der angekündigten Interessensgruppe übrig) bei 36 °C und einer relativen Luftfeuchte von 100 %. Die gefühlte Feuchte lag bei ca. 150%, denn der Schweiß rann in Strömen an meinem Rücken herunter; dabei hatte ich nicht mal einen Rucksack an. So etwas kenne ich im Sommer in Deutschland nicht mal beim Warten an der roten Ampel in der prallen Sonne unterer schwarzer Motorradlederbekleidung. Die Sirenen heulten die nächsten 20 Minuten weiter, alle Signalfolgen wiedergebend. Niemand reagierte darauf, alle machten weiter wie zuvor. Das konnte keine Probe sein; zur Überprüfung der Funktionsfähigkeit hätte die erste Minute ausgereicht. Das konnte kein Alarm sein, wenn Warnung und Entwarnung in beliebiger Reihenfolge ertönten. Zum Glück hatten wir Emil dabei, der wusste, dass dies zum Gedenken an den japanischen Überfall auf China am 18. September eines ihm entfallenen Jahres (1931. Mit dem Sprengstoffanschlag auf die Südmandschurische Eisenbahn bei der Stadt Mukden wurde die Mandschurei-Krise im Vorfeld des zweiten japanisch-chinesischen Kriegs ausgelöst. Japan besetzte in Folge der Krise die Mandschurei und errichtete den Marionettenstaat Mandschukuo, um die rohstoffreiche Region ausbeuten zu können) geschah; und verschoben auf den Samstag danach, damit man sich besser besinnen könne.
(In ähnlicher Weise pragmatisch beteiligt sich Shanghai am internationalen "car-free day", der weltweit jährlich am 22. September begangen wird und der in Hamburg dieses Jahr einen Tag vorgezogen wird und „autofreier Sonntag“ heißt, nicht weil dann keine Autos in Hamburg fahren dürfen, sondern weil die öffentlichen Verkehrsmittel des HVV kostenlos benutzt werden können, was Autofahrer zum umsteigen animieren soll. Shanghai leistet seinen Beitrag am korrekten Datum, indem, mehr symbolisch als substanziel, der zwei km lange Abschnitt der Sichuan Lu von der Tian Tong Lu bis zur Dong Bao Xing Lu von 9.00 Uhr bis 15.00 Uhr für alle Autos, außer Busse, Taxis und Krankenwagen, gesperrt sein wird. Etwa die Hälfte der Autos auf Shanghais Straßen sind Taxis).
The long and winding road
Wir überquerten den Huanpu mit einer der Fähren, die alle nur für Fahrräder und Roller eingerichtet sind. Es herrschte bei der Überfahrt ein schrecklicher Lärm, denn alle schalten den Motor während der Flussfahrt aus, was auf der kabbeligen Passage zur Folge hat, dass ständig irgendeine akustische Diebstahlwarnanlage ausgelöst wurde und das volle Ein-Minuten-Programm abplärrte. Im feinen Finanzdistrikt von Pudong mag man keinen massenhaften Fahrradverkehr sehen, weswegen wir uns über für Fahrräder gesperrte Straßen etwas umständlich auf die nach Norden führende, endlos lange Pudong Avenue durchschlagen mussten. Emil war noch nie in Pudong gewesen. Ihn beeindruckten die Wolkenkratzeransammlungen, die breiten Alleen und dass so wenige Menschen zu sehen seien. Mich beeindruckte, dass er die vielen Leute als beeindruckend wenig einschätzte. Die Fahrt ging zuerst durch eine riesige Trümmerstrecke mit lauter Häuserruinen, deren Abriss der Vorbereitung auf den Bau neuer Hochhäuser diente. Es war heiß, holperig, laut, staubig, schweißtreibend, durstmachend.
Dann führte die Pudong Avenue an Werften entlang; die Betriebe auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren nun kleine Schlossereien mit katastrophalen Arbeitsbedingungen, die ich als Anschauungsmaterial für abschreckende Beispiele gefilmt habe. Mit dem Auftauchen der chemischen Industriebetriebe kamen zu den bisherigen Umweltbedingungen noch Gerüche, Gase, Aerosole und Feinstäube hinzu. Ich fühlte mich in der Nähe von fertig und dachte mir, wahrscheinlich findet Emil den Ausflug gar nicht so prickelnd und hält nur deswegen eisern durch, um gegenüber den alten Professoren nicht als Weichei aufzufallen und nur deswegen hielt ich eisern durch, um nicht meinerseits als schlappe Lusche hervorzustechen. Um zwölf Uhr hatten wir endlich alle das Bedürfnis nach einer Pause und kehrten in einer Schmuddelbude ein, die für mich mit meinem total unempfindlichen Magen eine Herausforderung an Toleranz darstellte. Mein Wusch, ob man den Tisch mit einem Lappen abwischen könne, wurde wegen eines glücklichen Übersetzungsfehlers seitens unseres Emils mit dem Aufziehen einer frisch gewaschenen Stofftischdecke, über die eine dünne hygienische Plastikfolie gezogen wurde, beantwortet. Fünf Speisen haben wir bestellt, darunter verschiedenes Fleisch, Gemüse, Reis und Sojasuppe mit Pilzen und Eiereinlauf. Es kam brutzelnd heiß auf den Tisch und hat, sehr zu meinem Erstaunen, ausgesprochen lecker geschmeckt. Zu trinken gab es, sehr erfrischend, mit Kohlensäure versetztes, gesalzenes Mineralwasser mit einem leichten Pfefferminzgeschmack. Ohne den Pfefferminzgeschmack könnte ich das zu meinem Lieblingswasser erklären. Nach der Pause war ich richtig fit statt fertig und weiter ging es nach Norden, dann nach Nordost, durch das neue aufgebaute und modern verkehrserschlossene Sonderwirtschaftsgebiet, vergleichbar mit den Hamburger Freihafengebiet – jedoch eine ganze Zehnerpotenz größer. Überhaupt war die Bebauung und Belegung auf der ganzen Fahrt durchaus mit dem Hafengebiet von Harburg-Binnenhafen, Kattwig, Reiherstieg, Steinwerder, Veddel, Waltershof und Altenwerder sehr vergleichbar, alles jedoch extremer.
da hai gang - Shanghais großer Seehafen
Der Containerverkehr im Hafengebiet erfolgte auf LKWs, wobei einige Container auf den Lafettenanhängern mit Twistlock befestigt waren, die meisten aber nur per Schwerkraft mit den Castcorners auf den Zapfen lagen. Von der in kürzester Zeit neu aus dem Nichts heraus gebauten Autobahn, die allerdings am diesem Tag schon auf der Zufahrt zum Seehafen verstopft war, führte der LKW-Verkehr dreispurig Stop and Go zu den Containerterminals. Ich bin immer noch gespannt, wie Harburg den Verkehr bewältigen will, wenn diese Massen demnächst in Hamburg von den Schiffen gelöscht werden. Vor allem riesige Mengen Containerleergut stapelten sich im Freihafengebiet. Emil hatte sich irgendwie einen Ausflug ans Meer vorgestellt, aber wir kamen wegen der Absperrungen natürlich nicht ans Ufer heran. (Wie Hamburg hat auch Shanghai die vom amerikanischen Parliament verabschiedeten Implementing Recommendations of the 9/11 Commission Act of 2007 des AVIATION and MARITIME CARGO Acts vorbildlich umgesetzt, ohne das ein Warenverkehr mit den USA heute nicht mehr genehmigt wird. Seitdem muss man die wenigen baulichen Lücken gut kennen, um überhaupt an die Kaikante heran zu kommen). Schließlich radelten wir an die äußerste Nordspitze des Pudong-New-Area, durch den Ort Gao Qiao hindurch, wo ich zwischen den Industriearealen kleine, liebevoll angelegte Äcker, mit Plastikfolie bespannte Treibhäuser und überschwemmte Reisfelder sehen konnte, die mir wie der trotzige Versuch einer zarten Begrünung des tristen Grau und des staubigen Braun vorkamen. In Wirklichkeit hatten selbstverständlich die Industrieanlagen die vorher vorhandenen landwirtschaftlichen Fluren, bis auf diese einzelnen klitzekleinen Areale, überwuchert. Schon seit einer Stunde blitzte es rings um uns herum in der Ferne. Plötzlich setzte ein Gewitterregen ein, den wir gemeinsam mit einigen sich anschreienden (weil sich nämlich in normaler Lautstärke unterhaltenden) Frauen unter einem Baldachin abwarteten. Auf meine Frage, warum alle Chinesen immer so sehr laut sprächen, aber meine chinesischen Studenten mir in der Vorlesung nur unhörbar leise antworteten, klärte mich Emil auf, er wisse, dass die Deutschen sich nicht an die chinesische Sprechlautstärke gewöhnen könnten und dass alle Leute mit akademischer Bildung zurückhaltend in der sprachlichen Geräuschentwicklung seien. So gesehen habe ich es in meiner Vorlesung also mit dem Creme der Bildungselite zu tun.
Der Kälteeinbruch
Der Regen brachte endlich die ersehnte Abkühlung auf fröstelige 29 °C, wusch den Staub aus der Luft und machte die Weiterreise richtig angenehm, nachdem er schließlich wieder ganz aufgehört hatte. Wir besuchten einen ganz nagelneu, wunderschön angelegten chinesischen Garten-Park gewaltigen Ausmaßes direkt am Jangtse-Ufer (eigentlich heißt der Fluss 长江 (chángjiāng) lang-Strom), der ohne Auto heutigentags noch schlecht zu erreichen ist, weitab von Shanghai-Mitte liegt, Eintritt kostet und deswegen, bis auf ein paar versprengte Spaziergänger, tatsächlich menschenleer war. Bis zu diesem Punkt hatten wir, ausweislich meiner nachträglichen genauen Routenausmessung mit Google-Earth 50,7 km hinter uns gebracht und noch 28,7 km Rückfahrt vor uns. Es war gut, dass ich die Reststreckenlänge zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau kannte, sondern nur ahnte, dass es noch ziemlich weit war. Erst mal ging es zu Fuß zum erhöhten Aussichtspunkt am Jangtse-Ufer, wo die unübersehbare Breite des Stroms mich aufs Neue beeindruckte. Zum Spaß zählte ich 81 Schiffe, die ich zu genau diesem Zeitpunkt in meiner Sichtweite vor mir hatte. Vom Stein mit dem Schriftzeichen für Familienglück aus begann dann der Rückweg. Emil spricht sehr gut Deutsch, hat in diesem Jahr in Hamburg die Summerschool absolviert, möchte sein Studium in Deutschland nach dem Bachelorabschluss fortsetzen, dann drei bis fünf Jahre in einem deutschen Industrieunternehmen Erfahrungen sammeln und schließlich in China Karriere machen. Er ist ausgesprochen höflich, fühlte sich als unser Gastgeber und für unser Wohl verpflichtet, und es gab einen richtigen kleinen Kampf, den wir nur mit List gewinnen konnten, als es darum ging, das Mittagessen und den Eintritt in den Park für ihn mit zu bezahlen.
Der lange Weg zurück
Die Rückfahrt entlang derselben Strecke, die wir gekommen waren, erschien mir, anders als ich es sonst immer empfinde, viel länger als der Hinweg. Ich habe ihn mit den anderen beiden an einem Stück mit weichgekneteten Pobacken und abgestorbenen Handgelenken in zwei Stunden bis zur Fähre, wo es inzwischen Dunkel geworden war, bewältigt. Wir wollten Emil noch zum Abendessen einladen, als sich herausstellte, dass heute Abend seine Eltern auf ihn warteten. Wir verabschiedeten uns an Ort und Stelle mitten auf einer Kreuzung. Offensichtlich hatte er nicht mit einer so langen Tour gerechnet – ich übrigens auch nicht.
Das exquisite Dinner
Mit meinem Kollegen suchte ich auf dem Weg noch ein Straßenrestaurant mit Meeresfrüchtespezialitäten in der Chinesischen Altstadt auf, wo die schummrige Beleuchtung das tagsüber ganz sicher anders aussehende Ambiente in ein sehr malerisches, anheimelndes Kolorit tauchte. Höflicherweise hinterließen wir einen ähnlich versauten Tisch wie unsere chinesischen Tischnachbarn. Ich weiß ja inzwischen, wie man sich anständig zu benehmen hat. Endlich zu Hause legte ich mich nach dem Duschen sogleich in Bett.
Erkenntnis des Tages: Quälereien mutieren erstaunlicherweise im Rückblick zu echten Heldentaten.
1 Kommentar:
Hallo Herr Hornberger!
Wie war denn der Trick mit dem Bezahlen für den Studenten? Solche Verfahren sind für zukünftige Schanghai-Gänger sicherlich interessant.
Alles Gute!
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