Dienstag, 9. September 2008

Rotes Banner

Der Weg zur Arbeit
Dank Google Earth bin ich in der Lage auf den Satellitenaufnahmen Strecken, Wege und auch Umwege auf 10 m genau auszumessen. Deswegen weiß ich, dass mein morgentlicher Weg mit dem Rad vom Hotel zum Campus genau 2,91 km beträgt und zurück 1,97 km. Der Weg zur Arbeit hin kommt einem ja auch sonst viel länger vor als der Weg heim; da geht’s dann bei manchen richtig schnell. Ich kenne sogar Leute, die arbeiten täglich bis fünf, aber Viertel nach vier sind sie schon zu Hause. Der Wegstreckenunterschied kommt daher, weil ich wegen der Einbahnstraßenführung auf zwei verschiedenen Strecken hin und zurück fahren muss. Wenn ich auf dem Hinweg die Abkürzung auf dem Bürgersteig, zwischen den Passanten hindurch schlängelnd nehme, wie alle anderen vernünftigen Shanghaier auch, und durch den nur ganz in der Frühe geöffneten Seiteneingang zum Campus hinein schlupfe, dann kann ich den Hinweg sogar auf 2,01 km verkürzen. Trotzdem ist mein Weg zur Uni diese Woche länger geworden. Das liegt daran, dass die Schule letzte Woche wieder begonnen hat und diese Woche der Vorlesungsbetrieb an den Universitäten (Die Kurse des Shanghai-Hamburg-Joint-College starteten früher, wegen der höheren Stundenzahl, die die Studenten im Semester absolvieren müssen und um die deutschen Professoren geblockt nach Shanghai zu bekommen). Deswegen ist das Verkehrsaufkommen deutlich gestiegen und ich kann die ganz langsamen Radfahrer im größer gewordenen Pulk nicht mehr ohne weiteres alle überholen.



Agitationspropaganda
Etwas befremdet haben mich von Anfang an die roten Banner mit den chinesischen Schriftzeichen, die in den Schulhöfen, auf den Universitäts-Campen und sonst in Durchgängen zu Wohneinheiten quer über die Gebäude und Wege gespannt sind. Sie erinneren mich an die Agitationspropagandaplakate, die ich im sowjetischen Moskau und in der längst aufgelösten DDR gesehen hatte und auf denen Sinnsprüche standen wie „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ oder „Alles für die Planerfüllung des XX. Parteitages“. Also habe ich viele solcher chinesischen Banner fotografiert und mir dann später Aufklärung über die Aussagen geben lassen.
In einem Hinterhof glaubte ich, endlich eine von mir als Normalfall im urbanen Leben der kommunistischen Volksrepublik China antizipierte revolutionäre Zelle entdeckt zu haben, für deren Existenz die marxistisch-leninistische Infiltration auf dem den Hof überspannenden roten Tuch warb! Ich trat, um zu fotografieren, in den Hinterhof hinein. Kaum dass ich in sein Blickfeld geraten war, musterte mich so ein sozialistischer Aufhetzer von Kopf bis Fuß, schon kam er mit seinem üblen Propagandamaterial auf mich zugestürmt, um meine aufrichtige Gesinnung mit seinem abscheulichen Gedankengut zu vergiften und steckte mir ein Faltblatt und eine Visitenkarte zu. Ich musterte die Papiere genau und konnte den chinesischen Text natürlich nicht lesen. Aber anhand der Vorher-Nachher-Fotos und dem Schriftzug in lateinischen Buchstaben sowie seiner auf der Visitenkarte handschriftlich eingetragenen Handynummer ermittelte ich: bei dieser Person handelt es sich um den lokalen Verkaufsagenten für nur im Direktmarketing erhältliche Produkte von Herbalife, einem Mittel, bei dessen ausschließlichem Verzehr selbst schlimmste Adipositasfälle, ausweislich der Fotodokumentation, in attraktive Zeitgenossen zurückverwandelt worden waren. Angesichts der im Shanghaier Straßenbild sonst ausschließlich vorkommenden, gertenschlangen Menschen, muss dieses auf die Gegenseite des kapitalistischen Merkantilismus gewechselte, prinzipienlose Individuum sich angesichts meiner zentraleuropäischen Figur, die ich übrigens mit 25% meiner männlichen Mitbevölkerung teile, gedacht haben, ich sei seine Zielgruppe, die eigentlich ganz vor alleine den Bedarf an seinem Wundermittel entwickeln müsste. Wahrscheinlich hätte ich noch einen Rabatt raushandeln können, wenn ich mich als Beispiel für seine Fotodokumentation bereiterklärt hätte, zur Verfügung zu stehen. Ach ja, auf dem roten Banner stand: Tong yi ge shi jie, tong yi ge meng xiang – Eine Welt, ein Traum (One World, one Dream), das Motto der Olympischen Spiele in Peking!



Eigentlich sind die roten Banner hauptsächlich an Universitäten, Schulen und öffentlichen Gebäuden zu finden. Sie werben nicht für politische Zwecke, sondern fordern zu strebsamem lernen und den persönlichen Einsatz über das egoistische Eigenwohldenken hinausgedacht auf. Vielfach sind Grußparolen und jetzt zu Semesterbeginn Willkommensbotschaften an die Erstsemesterstudenten Inhalte der Texte. Natürlich erinnern sie auch daran, dass es die sozialistischen Werte sind, die man anstreben muss: Fleiß, Aufbauwille, Fortschritt, immer strebendes Bemühen. Dazu gehört auch der Drill hin zur individualismusfernen Gemeinschaft großer Massen. Die rote Farbe musste in China allerdings nicht erst von den Kommunisten eingeführt werden, sondern steht traditionell für Glück und Reichtum. Goldene Schriftzeichen auf rotem Untergrund gab es schon immer und wird als schön und verheißungsvoll empfunden.



Fleißige Professoren
Ein Schriftzug hat mir ganz besonders gut gefallen. Darauf stand sinngemäß in etwa: „Jeder Lehrer muss sich so verhalten, dass er ein guter, vorbildlicher Lehrer ist! Wir grüßen alle fleißigen Professoren!“ So ein rotes Banner könnte man in Deutschland wohl kaum aufgehängt bekommen. Erstens steht der Genehmigung vermutlich irgendeine behördliche Vorschrift aus der Banneraufhängezulassungsundbetreibsverordnung entgegen. Zweitens assoziieren wir Deutschen aufgrund unserer geschichtlichen Erfahrung mit der Farbe Rot genauso wenig die Begriffe „Glück“ oder gar „Reichtum“ wie wir es mit schwarz-braun tun. Und drittens hätte der Betreiber bestimmt sofort eine Gleichbehandlungsklage am Hals, weil die anderen sich heftig darüber beschweren würden, dass sie nicht auch gegrüßt werden. Soweit käme es noch!

Teekultur
Angesichts so vieler graziler Vorbilder, die ich täglich in den Straßen Shanghais vor Augen geführt bekomme, fühle ich mich nicht erst seit meiner Herbalife-Begegnung zum Maßhalten motiviert. Leider habe ich keine Waage für die Kontrolle zur Verfügung, aber subjektiv fühle ich mich schon etwas schlanker. Meine jüngste Tochter hat mir für erfolgreiches Abnehmen etwas für mich ganz besonderes im Gegenwert von zehn Kilogramm versprochen, und das möchte ich gerne einlösen. Deswegen lasse ich manche Mahlzeit ausfallen, was den Nachteil hat, dass ich mich dann dem Sozialgefüge mit meinen Professorenkollegen entziehe. Miteinander essen hat etwas Gemeinschaft stiftendes an sich. Am wichtigsten ist, dass ich zuckerhaltige Softdrinks und das chinesische Nationalgetränk Bier vermeide. Stattdessen habe ich mich mit den hiesigen Teetrinksitten angefreundet. Der wichtigste Tee ist der Grüne Tee, das ist der typische Sommertee, der heiß, warm, lau und kalt getrunken wird. Der ist etwas umständlich in der Zubereitung, weil man zuerst schon eine Weile nicht mehr kochendes Wasser in kleiner Menge aufgießen muss, um die Blätter zu entfalten und die Bitterstoffe herauszulösen. Dieser erste Aufguss wird weggeschüttet. Anschließend wird in China fünf mal mit heißem Wasser aufgegossen, ohne die Blätter zu wechseln (wobei der letzte Aufguss nicht mehr getrunken wird). Und das gibt immer noch guten Geschmack. Zucker wird in China keinem Tee zugemischt. Viele Leute haben eine wassergefüllte 0,6 Liter Plastikflasche bei sich, in denen ihr Grüner Tee den ganzen Tag über sozusagen einen Kaltauszug produziert. Noch ergiebiger ist Pu-er-Tee, von einer robustereren Teepflanze, die nicht auf tropisches Klima angewiesen ist und einen nahezu kaffeeschwarzen Tee liefert. Den kann man ganz oft aufgießen und er schmeckt mir dann noch immer. Wenn ich die Teeblätter in meiner Tasse im Hotelzimmer stehen lasse, dann reinigt das Housekeeping diese Tasse im Gegensatz zu allem anderen nicht – es könnte ja sein, dass ich mit diesen Teeblättern noch nicht fertig bin. Schwarzen Tee nennt man in China roten Tee und man trinkt ihn nur im Winter. Die Chinesen gießen diese Blätter zweimal auf, aber das schmeckt für mich nur noch wie heißes Wasser. Auch im abgerissensten Viertel gibt es zwischen Imbissbude, Fahrradreparaturwerkstatt, Eisenwarenhändler, Lebensmittelkiosk auch genügend Teehändler in ihren garagengroßen Geschäften mit herrlicher Auswahl auch in Deutschland ausgefallener Sorten, wie Oolong-Tees oder Ziegel-Tee.

Erkenntnis des Tages: Manche Vorurteile lassen sich auch bei ernsthaftestem Bemühen einfach nicht bestätigen

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