Freitag, 19. September 2008

Hoch hinaus und tief drin

Pflichterfüllung
Heute Morgen schien, wie angekündigt, die Sonne, während für das Wochenende schlechtes Wetter angesagt ist. Das hat meine zwei Elektrotechnikkollegen darin bestärkt, an ihrem freien Freitag eine Eisenbahnfahrt nach Suzhou zu unternehmen. Etwas neidische konnte ich leider nicht mit, weil ich während des Tages eine Vorlesung hatte und ein Tausch ganz in die Frühe aus maschinenbauinternen Gründen leider nicht zustande kam. Deswegen habe ich mich voll auf die Vorlesung konzentriert und am Nachmittag an zwei von vier(!) Stunden Deutschunterricht eines Teils meiner Studenten, die von einer chinesischen Deutschlehrerin gegeben wurden, teilgenommen. Mittags gab es ein langanhaltendes sehr lautes Krachen, das mir vorkam, als seien die Zwillingstürme des World Trade Center erneut eingestürzt. Nach einer Weile roch es nach Gas oder Pulverdampf. Ich erfuhr erst später, dass es sich um eine angemeldete Sprengung in einer Benachbarten Riesenbaustelle gehandelt hat.



Dorthin bin ich neugierig geradelt, und tatsächlich das Fahrzeug des Sprengmeistertrupps stand dort, die Baustelle war geräumt, aber ringsherum lief der Verkehr wie an allen Tagen. Solche gezielten Sprengungen mitten in der Stadt gibt es bei uns in Deutschland nur nach einem Blindgängerfund aus dem zweiten Weltkrieg, der aus Sicherheitsgründen nicht abtransportiert werden kann. Nach einer halben Stunde folgte eine zweite Sprengung.


Die Deutschlehrerin wollte von mir wissen, welche Meinung ich zu ihrem Unterricht hätte, denn sie wolle sich verbessern („Lernen hat nie ein Ende“). Dazu war ich nicht in der Lage, weil sie eine Glosse aus der Zeitung (die im em-Buch abgedruckt ist) Satz für Satz mit den Studenten auseinander genommen hat und auf grammatikalische Zusammenhänge in der deutschen Sprache aufmerksam gemacht hat, die ich gar nicht mehr drauf hatte, die aber stimmten, denn genauso wie beschrieben spreche ich intuitiv und an die deutsche Sprache gewöhnt.

Ren Min Platz
Am Abend machte ich mich auf den Weg zum Ren Min Guang Chang (Peoples Square), einem großen Platz mit viel Grün und Parkanlage mitten in der Stadt, der in der britisch beherrschten Zeit eine dekadente Pferderennbahn war und nach der kommunistischen Revolution den Volk für Aufmärsche und Kundgebungen übereignet wurde. Heute stehen wichtige, öffentliche Gebäude an diesem Platz, von denen eins die Staatsgalerie für Zeitgenössische Kunst (Shanghai Art Museum) ist. Dort findet seit dem 8. September noch bis zum 16. November die 7. Shanghai Biennale, die ich mir ohnehin anschauen wollte. Leider war ich für einen Besuch zu spät am Tag, außer für die Exponate um das Gebäude herum im Freien.


Hochgelegene Hotellobby
Stattdessen begab ist mich zum Tomorrow Tower (der mit den sich im Spitzenpunkt nicht berührenden vier Spitzen und der scheinbar frei schwebenden Kugel dazwischen), wo ich von der eleganten Hotellobby aus, die sich im 38. Stock befindet, einen herrlichen und natürlich dunstigen Überblick über den Ren Min Platz und Down Town-Shanghai hatte. Auf meinem




Weit hinten drin
Rückweg suchte ich die Hefei Lu ab, um Hausnummer 25 zu finden, wo in einem Hinterhaus der Künstler Zhang Chongren (das ist der, der Hergé daran gehindert hat, Tim und Struppi in China in schlechtem Licht darzustellen) sein Atelier gehabt hatte – eben unweit meines Hotels. Ich drang in eine geheimnisvolle Hinterhofwelt ein: lauter kleinste Ein-Zimmer-Behausungen, engste Gässchen, elektrische Leitungen nur wenig über Kopfhöhe, dazwischen Wäsche auf Leinen zum trocknen, Überall Fahrräder abgestellt. Die Frauen beschäftigten sich kurz vor 18.00 Uhr mit dem Kochen. Kinder spielten friedlich. Das Leben spielt sich in drangvoller Enge ab. Jetzt weiß ich, warum sich Tag und Nacht so viele Leute, mehr Männer als Frauen, auf der Straße aufhalten und dort ihr Leben verrichten: in ihren Einraumwohnungen ist gerade kein Platz für sie frei! Wahrscheinlich würden sie auch gerne anders leben, wenn sie die Wahl hätten. Bei aller Idylle, die sich mir als durchstromernder und fotografierender Tourist bot.

Erkenntnis des Tages: Raum ist doch nicht in der kleinsten Hütte.

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