Vorausschauende Planung
Der heutige Samstagsausflug war sorgfältig vorbereitet worden. Mein Elektrotechnik-Professorenkollege hatte aus seiner Vorlesung heraus einen Studenten gewinnen können, der uns vier deutsche Professoren vom Bund aus auf einer Bootsfahrt auf dem Huangpu begleiten und als Dolmetscher und Reiseführer in Shanghai zur Verfügung stehen wollte. Wir trafen uns um 9. 30 Uhr in der Hotelhalle, und der Student wusste, dass man mit dem Bus bis zum Bund fahren konnte und auch mit welcher Linie. Wir hätten an diesem leicht regnerischen Tag uns ohne ihn statt für das Fahrrad für die U-Bahn als Verkehrsmittel entschieden, aber um dorthin zu gelangen, muss man erst lange zur Haltestelle Huangpi Nan Lu laufen, eine Station weit fahren, dann unterirdisch weitläufig am Rénmín Guǎngchǎng umsteigen und von der nächsten Haltestelle Henan Zhong Lu aus wieder ein ganzes Stück laufen. Mit dem Bus Linie 24 ging es ohne Umsteigen bis an das Ufer des Huangpu – leider war die Haltestelle aber auch genauso elend weit zu Fuß vom Bund entfernt. Und am Bund angekommen, stellte sich heraus, dass unser Schiff, das die lange Flusskreuzfahrt bis zur Mündung in den Yangtse fährt, erst um 14.00 Uhr ablegen würde.

Ein langer Anlauf
Wir stromerten also den Bund entlang (wie schon angekündigt, folgt ein Bericht darüber später), schauten zum Sondermarken und Ersttagsbriefe kaufen bei der Hauptpost vorbei, wo wir uns über das Verschicken von Paketen nach Deutschland erkundigten (1 kg: 140 Yuan; 10 kg: 315 Yuan, jeweils zuzüglich 8 Yuan für die Zollkontrolle beim Einpacken, das vor Ort im Hauptpostamt erfolgt). Aber so hatte ich Gelegenheit, mich auch mal mit dem jungen Mann zu unterhalten, eine Ausfragerei, die er genauso von meinen drei Kollegen aushalten musste. Es kam heraus, dass er aus der Provinz Kanton ganz weit im Süden stammt und nach Shanghai zum Studium gekommen ist, weil er hier bessere Chancen für einen internationalen Einsatz sieht.
Noch ein weiter Weg zur Einheit
Nun liegt ja die sehr internationale Stadt Hong Kong vor der Haustür der Provinz Kanton; wäre es nicht geschickter für ihn, dort zu studieren? Für Chinesen aus der Volksrepublik, die nicht aus der Sonderwirtschaftszone Hong Kong stammen (seit 1997 „Ein Land – zwei Systeme“: Ein-Parteien-Regierung in Peking; gewähltes Parlament in Hong Kong; jedoch mit von der Pekinger Zentralregierung eingesetztem Gouverneur an der Regierungsspitze), ist eine Einreise nicht möglich und auch ich bräuchte ein neues Visum, sollte ich dorthin reisen wollen.
Chinesisch, gemeint sind die sinitischen Sprachen, wird von 1,2 Milliarden Menschen gesprochen und ist Staatssprache(n) in der Volksrepublik China (einschließlich Hong Kong), der Republik China (Taiwan) und Singapur, wird aber auch von der chinesischen Bevölkerung in Malaysia und Indonesien sowie von kleineren Immigrantenkolonien (zum Beispiel in den USA) gesprochen. In der VR China gibt es acht verschieden Sprachen, die soweit voneinander entfernt sind, wie vergleichsweise Englisch von Französisch, dass heißt Menschen dieser Sprachgruppen können sich verbal nicht verständigen. In Shanghai und dem Yangtse-Mündungsgebiet wird Wu (Aussprache ungefähr Hu) von 80 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen, das sind ungefähre so viele, wie Deutschland Einwohner hat. Innerhalb des dazugehörigen Sprachgebietes gibt es verschiedene Wu-Dialekte, die die Verständigung nicht erleichtern. Die allermeisten Chinesen, nämlich 875 Millionen, sprechen wie man schon immer in Peking und in ganz Nord- und Mittelchina spricht. Diese Sprache ist das Mandarin, wird aber seit den 1950er-Jahren offiziell Pǔtōnghuà („normale Sprache“ - Hochchinesisch) genannt und ist die einzige Sprache, die überall in China in der Schule, an der Universität, in der Verwaltung, im öffentlichen Leben verwendet wird. Wer also heute unter 50 Jahre alt ist, spricht die Heimatmundart so wie in Norddeutschland die Menschen Platt sprechen: vielleicht zuhause, vielleicht untereinander, aber nicht im Geschäftsleben und schon gar nicht mit den vielen Hinzugezogenen. In Hong Kong sprechen die Chinesen Kantonesisch und die Amtssprache in der Schule, an der Universität und in der Verwaltung ist Englisch. Das Einende in China ist die Schrift. Bereits 221 v. Chr. fand eine große Schriftvereinheitlichung unter dem ersten Kaiser Qin Shihuangdi (Qin-Anfang-Kaiser-Kaiser - „Erster erhabener Gottkaiser von Qin“; das ist der, dessen Mausoleum von der berühmten Terrakotta-Armee, den Tonkriegern, bewacht wird und von denen fast alle wissen, dass keine Originalfigur, trotz ihrer Vielzahl, China verlassen darf) statt. 1956 wurde in der VR China und in Singapur die vereinfachte Schrift (Simple Chinese) eingeführt (zum Beispiel龙 anstatt 龍 (lóng, Drache); jedoch schreiben Taiwan und Hong Kong immer noch die traditionellen Zeichen. Außerdem lernt jeder in der Schule von Anfang an pinyin, die phonetische Umschrift auf der Basis des lateinischen Alphabets und auf Basis des Hochchinesischen (Pǔtōnghuà). Das ist hilfreich, um die Wörter richtig auszusprechen; ohne die Schrift weiß man die Bedeutung der Silbe aber noch lange nicht. (Ich werde demnächst das Prinzip erklären, wie man mit chinesischen Schriftzeichen auf dem Handy SMS schreibt, was hier unter jungen Leuten genauso beliebt ist, wie in Deutschland, oder auf dem PC, und ganz einfach ist, wenn man chinesisch kann).

Lob und Tadel auf Chinesisch
Unser chinesischer Student und Reiseführer hatte eine Absicht mit uns: er wollte gute Verbindungen schaffen für ein Masterstudium der Elektrotechnik in Deutschland. Dafür ist sein Deutsch, auf Deutsch gesagt, zu miserabel. Auf Chinesisch ist man (zunächst) nicht so direkt. Würde man ihm das ins Gesicht sagen, verlöre er jenes dadurch. Mein älterer E-Technik-Professorenkollege machte das sehr geschickt, wie ich dem Gespräch zwischen beiden entnahm: Wie läuft der Deutschunterricht mit den chinesischen Professoren ab? Wo haben die Studenten Gelegenheit deutsch sprechen zu üben? Wenn jemand durch die Prüfung fällt, wann und wie oft kann er wiederholen? (In meinem Maschinenbaukurs müssen noch neun Studenten die vermasselte Deutschprüfung in diesem Monat wiederholen und bestehen, sonst müssen sie sofort den zweisprachigen Studiengang verlassen). Ist aber erst mal ein Urteil gefällt, dann übertreibt man in China aber auch gleich gewaltig: aus dem schlechten Deutsch wird ein abgrundtief-katastrophales. Von Shanghai hatte der Bursche auch keine Ahnung. Woher auch? Ein Kantonese, der ein strammes Studium mit Präsenzpflicht absolviert, hat keine Zeit für ein ausgedehntes Tourismusprogramm in der fremden Stadt. Fachlich hat das vive Bürschchen nämlich was drauf. Immer gut vorbereitet, hinterfragt die mathematischen Formeln und zeigt Ungenauigkeiten in deren Herleitung auf. Auf Chinesisch: er ist von grandioser Intelligenz und ein unübertrefflich glänzender Fachmann der Elektrotechnik!

Der Löwe ist los!
Mich hatte interessiert, warum bei den so oft vor wichtigen Gebäuden aufgestellten Steinlöwen der eine oft das Maul offen hält und der andere nicht. Unserem Studenten war noch nicht aufgefallen, dass das so ist. Auch die Ansicht eines Kollegen, eins sei ein Männchen, das andere ein Weibchen (das mit dem dauernd offenen Mund?), half nicht weiter: Ich habe mich überzeugt, und die stilisierten Steinlöwen zeigen überhaupt keine primären Geschlechtsmerkmale, während die naturalistische dargestellten beide eine Mähne tragen. Erst später bekam ich Aufklärung im Internet:

So läuft der Straßenverkehr ab, und auch der Schiffsverkehr auf dem Huangpu. Auf Fragen zu politischen Themen hatte unser Student höfliche, schnelle und zutreffende Antworten. Das ist gewiss keine Angst vor Repressalien der Kommunistischen Partei oder eines Blockwarts. Schon immer waren Wagemut und Abenteuerlust keine uralte, typisch Chinesische Volkseigenschaften. Chinesische Helden traten nicht durch Draufgängertum oder Muskelkraft hervor, sondern durch eher Schläue, Witz und Können. Obwohl unzählige Kriege und Aufstände das Land im Laufe seiner sehr langen Geschichte erschüttert haben, wurde der todesmutige Krieger nie zum Ideal erhoben, ebenso wenig der gehorsame Soldat. Umso erstaunlicher finde ich, den Ehrgeiz, den China entwickelt hat, bei den Olympischen Spielen mit den meisten Goldmedaillen zu glänzen. Als das noch nicht feststand, winkte jeder von mir darauf angesprochene mit typisch chinesischer, stark untertreibender Bescheidenheit ab, aber spürbar mit innerlich stolz geschwellter Brust. 51 Goldmedaillen sind es in Beijing geworden. Der Westen spricht davon, dass die Chinesen jetzt „angekommen“ sind. (Sagt allerdings nicht wo). Vielleicht ist das nur der erste Schritt auf einem Weg, auf dem die Chinesen uns noch in Staunen versetzen könnten. Dazu eine statistische Gedankenspielerei von mir:
Die Weltbevölkerung betrug im Juni 2008 rund 6,7 Milliarden Menschen, davon gehören zur Volksrepublik China: 1332 Millionen, das sind etwa 19,9 %. Gemessen an der Weltbevölkerung hätte China also zwanzig Prozent der 302 in Beijing verteilten Goldmedaillen, also 191 Stück, einsacken müssen. Zum traurigen Vergleich: Deutschland wäre mit seinen 82 Millionen Einwohnern (etwa 1,2 % der Weltbevölkerung) auf Platz 14 gelandet, und das war 2008 zwischen Jamaika und Kenia (die allerding auch umgruppiert werden müssten). Das kann doch auch niemand ernstlich wollen. Und trotzdem hat China noch einiges zu bewältigen. Die meisten Goldmedaillen je haben 1984 die USA (83 x Gold) und 1980 Russland (damals Sowjetunion; 80 x Gold) einkassiert, jedoch haben wechselseitig erst die Westblockstaaten die Spiele in Moskau boykottiert (weil die Russen in Afghanistan eingedrungen waren, um die Taliban zu verdrängen) und dann der Ostblock die Spiele in Los Angeles (weil die Sicherheit der Athleten gefährdet war). Trotzdem, Statistik bleibt Statistik. Und beim ewigen Medaillenspiegel muss China (167 x Gold) sogar auch noch Deutschland (518 x Gold; mit sieben verschiedenen deutschen Staatsformen errungen) überholen, bevor es an den Spitzenreiter USA (1010 x Gold) herankommt.

60 km Hafenrand
Um 13.30 Uhr ging es endlich los. Vom Bund, in der scharfen Flussbiegung gegenüber dem Oriental Pearl Tower, bis zur Mündung und ein kleines Stück in den Yangtse hinein und wieder zurück sind es laut Google Earth 33,3 Seemeilen (61,6 km), und wir waren 3h15‘ unterwegs; das heißt unser Schiff ist mit über 10 Knoten (knapp 20 km/h) durch den Shanghaier Seehafen (shang-hai-hai-gang) gefahren. Kaum waren wir aus dem inneren Stadtgebiet heraus, empfing uns strahlender Sonnenschein. Dieser Hafen erstreckt sich ausschließlich am Flussufer entlang; es gibt keine Hafenbecken, aber bis zur Flussmündung ist ununterbrochen Hafenbetrieb an beiden Ufern. Stadtnah waren alte Kaianlagen und Hafenwirtschaftsgebäude dem Verfall preisgegeben und warteten darauf, bald eine neue hafenbetriebsfremde Nutzung und Bebauung zugewiesen zu bekommen.

Es gab eine Vielzahl Schiffsneubauten in unterschiedlichen Fertigstellungstadien zu sehen. Schwimmdocks gab es nur zwei. Auf den Werftgeländen wurden viele Doppellenker-Wippdrehkräne eingesetzt, die bei uns vielfach schon wieder ausrangiert sind, und kaum Portalkräne. Ein neuer, sehr großer (schätzungsweise 200 t) Brückenportalkran war sehr auffällig, weil eine der Stützen abgeknickt und das Portal auf einen Schiffsneubau gestützt war. Shanghai ist auch Hafen der Kriegsmarine (zhong-guo-hai-jun: Mitte-Reich-Meer-Armee; China heißt auf Chinesisch Zhong Guo: Mitte-Reich, „Reich der Mitte“). Wir fuhren an Landungsbooten, Versorgern, Korvetten und U-Booten vorbei. Der Huangpu ist im Hafenbereich so breit wie die Elbe bei Wedel. Insgesamt ist der Fluss nur 97 km lang und erschließt das Hinterland von Shanghai. Der Binnenschiffsverkehr ab dem Bund flussaufwärts ist enorm; da wuselt und wimmelt es wie auf Shanghais Straßen und die Verkehrsdisziplin ist vergleichbar. Schiffe werden bis zum obersten Bordrand beladen. Langes Ladegut, wie Langholz kann durchaus drei Meter über den Schiffsbug hinausragen. Alle Binnenschiffe sind Motorschiffe, es gibt keine Schleppverbände.

Entlang des gesamten Hafens liegen sehr viele Binnenschiffe, an verankerten Schwimmtonnen vertäut, in breite Päckchen, bis zu acht Stück nebeneinander gebunden, ungenutzt auf Reede. Viele „Seelenverkäufer“ und „Rostpocken“ fahren oder liegen im Huangpu. Nur wenige Schiffe für die große Fahrt, hauptsächlich Kümos, konnte ich sehen. Ganz enttäuscht war ich vom mickrig kleinen Containerhafen, den ich mir größer vorgestellt hatte. In Hamburg werden 9,9 Mio. TEUs p.a. bei einer Zuwachsrate von +11,6% umgeschlagen. In Shanghai sollen es 26,2 Mio. TEUs mit +20,7% Zuwachsrate sein! Mein Weltbild wurde erst mit dem Hinausfahren auf den Yangtse wieder zurecht gerückt. Der vom mitgeschleppten Lös rötliche Yangtse ist in seinem Mündungsgebiet so breit, dass man nicht auf die gegenüber liegende Insel Chongming, die auch noch zum Verwaltungsdistrikt Shanghai gehört, hinübersehen kann. Dort herrscht heute überwiegend Landwirtschaft vor, aber es ist geplant, die gesamte Insel von ca. 120 km Länge und 30 km Breite vollständig mit neuen Millionenstädten zu bebauen. In der Ferne, am rechten, dem Südufer des Yangtse, waren sie zu sehen, die Containerladebrücken. Gewaltig, gigantisch, kolossal, mit endlos erscheinendem Ausdehnungsgebiet. Hier waren die riesigen Containerschiffe auszumachen. Es herrschte Verkehr, wie in der Kieler Bucht während der Kieler Woche. Ich stellte mir vor, was auf Hamburg wohl noch zukommen wird, wenn es seinen Anteil am in Shanghai möglichen Zuwachs abkriegen wird.

Die ganze Schifffahrt hat uns allen gut gefallen, aber auch ermüdet. Wir waren durchgeblasen und durchgeschwitzt. Ich glaube, unser chinesischer Student, den wir zur Mitfahrt eingeladen hatten, bekam heute Sachen zu sehen, die er bisher nicht kannte. Auf dem Rückweg zum Bund konnte ich das andere Ufer auch noch intensiv inspizieren. Zum Hotel fuhren wir den anfangs beschriebenen Weg in umgekehrter Reihenfolge zurück mit der U-Bahn. Bis dahin hatte ich nicht geglaubt, dass eine Schienenfahrzeug-Transportkapazität von 15 Personen je Quadratmeter, wie angegeben, eine realistische Berechnungsgröße sein könnte. Jetzt weiß ich, dass es machbar ist!

Erkenntnis des Tages: In zwei Monaten würde ich gerne mal als Fremdenführer in Shanghai anfangen.
Der heutige Samstagsausflug war sorgfältig vorbereitet worden. Mein Elektrotechnik-Professorenkollege hatte aus seiner Vorlesung heraus einen Studenten gewinnen können, der uns vier deutsche Professoren vom Bund aus auf einer Bootsfahrt auf dem Huangpu begleiten und als Dolmetscher und Reiseführer in Shanghai zur Verfügung stehen wollte. Wir trafen uns um 9. 30 Uhr in der Hotelhalle, und der Student wusste, dass man mit dem Bus bis zum Bund fahren konnte und auch mit welcher Linie. Wir hätten an diesem leicht regnerischen Tag uns ohne ihn statt für das Fahrrad für die U-Bahn als Verkehrsmittel entschieden, aber um dorthin zu gelangen, muss man erst lange zur Haltestelle Huangpi Nan Lu laufen, eine Station weit fahren, dann unterirdisch weitläufig am Rénmín Guǎngchǎng umsteigen und von der nächsten Haltestelle Henan Zhong Lu aus wieder ein ganzes Stück laufen. Mit dem Bus Linie 24 ging es ohne Umsteigen bis an das Ufer des Huangpu – leider war die Haltestelle aber auch genauso elend weit zu Fuß vom Bund entfernt. Und am Bund angekommen, stellte sich heraus, dass unser Schiff, das die lange Flusskreuzfahrt bis zur Mündung in den Yangtse fährt, erst um 14.00 Uhr ablegen würde.
Ein langer Anlauf
Wir stromerten also den Bund entlang (wie schon angekündigt, folgt ein Bericht darüber später), schauten zum Sondermarken und Ersttagsbriefe kaufen bei der Hauptpost vorbei, wo wir uns über das Verschicken von Paketen nach Deutschland erkundigten (1 kg: 140 Yuan; 10 kg: 315 Yuan, jeweils zuzüglich 8 Yuan für die Zollkontrolle beim Einpacken, das vor Ort im Hauptpostamt erfolgt). Aber so hatte ich Gelegenheit, mich auch mal mit dem jungen Mann zu unterhalten, eine Ausfragerei, die er genauso von meinen drei Kollegen aushalten musste. Es kam heraus, dass er aus der Provinz Kanton ganz weit im Süden stammt und nach Shanghai zum Studium gekommen ist, weil er hier bessere Chancen für einen internationalen Einsatz sieht.
Noch ein weiter Weg zur Einheit
Nun liegt ja die sehr internationale Stadt Hong Kong vor der Haustür der Provinz Kanton; wäre es nicht geschickter für ihn, dort zu studieren? Für Chinesen aus der Volksrepublik, die nicht aus der Sonderwirtschaftszone Hong Kong stammen (seit 1997 „Ein Land – zwei Systeme“: Ein-Parteien-Regierung in Peking; gewähltes Parlament in Hong Kong; jedoch mit von der Pekinger Zentralregierung eingesetztem Gouverneur an der Regierungsspitze), ist eine Einreise nicht möglich und auch ich bräuchte ein neues Visum, sollte ich dorthin reisen wollen.
Chinesisch, gemeint sind die sinitischen Sprachen, wird von 1,2 Milliarden Menschen gesprochen und ist Staatssprache(n) in der Volksrepublik China (einschließlich Hong Kong), der Republik China (Taiwan) und Singapur, wird aber auch von der chinesischen Bevölkerung in Malaysia und Indonesien sowie von kleineren Immigrantenkolonien (zum Beispiel in den USA) gesprochen. In der VR China gibt es acht verschieden Sprachen, die soweit voneinander entfernt sind, wie vergleichsweise Englisch von Französisch, dass heißt Menschen dieser Sprachgruppen können sich verbal nicht verständigen. In Shanghai und dem Yangtse-Mündungsgebiet wird Wu (Aussprache ungefähr Hu) von 80 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen, das sind ungefähre so viele, wie Deutschland Einwohner hat. Innerhalb des dazugehörigen Sprachgebietes gibt es verschiedene Wu-Dialekte, die die Verständigung nicht erleichtern. Die allermeisten Chinesen, nämlich 875 Millionen, sprechen wie man schon immer in Peking und in ganz Nord- und Mittelchina spricht. Diese Sprache ist das Mandarin, wird aber seit den 1950er-Jahren offiziell Pǔtōnghuà („normale Sprache“ - Hochchinesisch) genannt und ist die einzige Sprache, die überall in China in der Schule, an der Universität, in der Verwaltung, im öffentlichen Leben verwendet wird. Wer also heute unter 50 Jahre alt ist, spricht die Heimatmundart so wie in Norddeutschland die Menschen Platt sprechen: vielleicht zuhause, vielleicht untereinander, aber nicht im Geschäftsleben und schon gar nicht mit den vielen Hinzugezogenen. In Hong Kong sprechen die Chinesen Kantonesisch und die Amtssprache in der Schule, an der Universität und in der Verwaltung ist Englisch. Das Einende in China ist die Schrift. Bereits 221 v. Chr. fand eine große Schriftvereinheitlichung unter dem ersten Kaiser Qin Shihuangdi (Qin-Anfang-Kaiser-Kaiser - „Erster erhabener Gottkaiser von Qin“; das ist der, dessen Mausoleum von der berühmten Terrakotta-Armee, den Tonkriegern, bewacht wird und von denen fast alle wissen, dass keine Originalfigur, trotz ihrer Vielzahl, China verlassen darf) statt. 1956 wurde in der VR China und in Singapur die vereinfachte Schrift (Simple Chinese) eingeführt (zum Beispiel龙 anstatt 龍 (lóng, Drache); jedoch schreiben Taiwan und Hong Kong immer noch die traditionellen Zeichen. Außerdem lernt jeder in der Schule von Anfang an pinyin, die phonetische Umschrift auf der Basis des lateinischen Alphabets und auf Basis des Hochchinesischen (Pǔtōnghuà). Das ist hilfreich, um die Wörter richtig auszusprechen; ohne die Schrift weiß man die Bedeutung der Silbe aber noch lange nicht. (Ich werde demnächst das Prinzip erklären, wie man mit chinesischen Schriftzeichen auf dem Handy SMS schreibt, was hier unter jungen Leuten genauso beliebt ist, wie in Deutschland, oder auf dem PC, und ganz einfach ist, wenn man chinesisch kann).
Lob und Tadel auf Chinesisch
Unser chinesischer Student und Reiseführer hatte eine Absicht mit uns: er wollte gute Verbindungen schaffen für ein Masterstudium der Elektrotechnik in Deutschland. Dafür ist sein Deutsch, auf Deutsch gesagt, zu miserabel. Auf Chinesisch ist man (zunächst) nicht so direkt. Würde man ihm das ins Gesicht sagen, verlöre er jenes dadurch. Mein älterer E-Technik-Professorenkollege machte das sehr geschickt, wie ich dem Gespräch zwischen beiden entnahm: Wie läuft der Deutschunterricht mit den chinesischen Professoren ab? Wo haben die Studenten Gelegenheit deutsch sprechen zu üben? Wenn jemand durch die Prüfung fällt, wann und wie oft kann er wiederholen? (In meinem Maschinenbaukurs müssen noch neun Studenten die vermasselte Deutschprüfung in diesem Monat wiederholen und bestehen, sonst müssen sie sofort den zweisprachigen Studiengang verlassen). Ist aber erst mal ein Urteil gefällt, dann übertreibt man in China aber auch gleich gewaltig: aus dem schlechten Deutsch wird ein abgrundtief-katastrophales. Von Shanghai hatte der Bursche auch keine Ahnung. Woher auch? Ein Kantonese, der ein strammes Studium mit Präsenzpflicht absolviert, hat keine Zeit für ein ausgedehntes Tourismusprogramm in der fremden Stadt. Fachlich hat das vive Bürschchen nämlich was drauf. Immer gut vorbereitet, hinterfragt die mathematischen Formeln und zeigt Ungenauigkeiten in deren Herleitung auf. Auf Chinesisch: er ist von grandioser Intelligenz und ein unübertrefflich glänzender Fachmann der Elektrotechnik!
Der Löwe ist los!
Mich hatte interessiert, warum bei den so oft vor wichtigen Gebäuden aufgestellten Steinlöwen der eine oft das Maul offen hält und der andere nicht. Unserem Studenten war noch nicht aufgefallen, dass das so ist. Auch die Ansicht eines Kollegen, eins sei ein Männchen, das andere ein Weibchen (das mit dem dauernd offenen Mund?), half nicht weiter: Ich habe mich überzeugt, und die stilisierten Steinlöwen zeigen überhaupt keine primären Geschlechtsmerkmale, während die naturalistische dargestellten beide eine Mähne tragen. Erst später bekam ich Aufklärung im Internet:
Der rechte Löwe ist männlich und hält unter seiner rechten Pranke einen Ball. Der Löwe auf der linken Seite ist weiblich und tätschelt mit der linken Pranke ein Löwenjunges. Der Löwe steht für Kraft und Macht. Der Ball, ursprünglich eine Perle, des männlichen Löwen symbolisiert die Einheit und Kraft des Reiches. Das Junge unter dem weiblichen Tier steht für das Gedeihen der Nachkommen, Wachstum und Wohlbefinden. Löwen sollen die Macht und Kraft haben, schlechte Einflüsse jeglicher Art fernzuhalten. Dabei zeigt die Anzahl der Locken, aus denen die Mähne des Löwen besteht, den Rang des Hausherrn. Die Löwen der Beamten des Kaisers höchsten Ranges hatten 13 Locken und mit jedem Grad, den der Rang des Beamten sank, sank auch die Anzahl der Locken.Bei ihm und anderen Studenten ist mir aufgefallen, dass viel auswendig gelernt und wenig hinterfragt wird. Das scheint nicht die Methode des Herangehens an Wissen zu sein, die auf Chinesischen Schule eingeübt wird. Er hat mir bestätigt, was mir die anderen Studenten am Vortag schon gesagt hatten, nämlich, dass 90 % der jungen Leute eine Universitätsausbildung absolvieren. Auf meine Frage, wer denn auf den ganzen Baustellen, die überall zu sehen sind, arbeiten würde, meinte er: „die anderen“. Sein Ziel, den Masterabschluss zu erreichen, hat er, weil ein Bachelor 4000 Yuan im Monat verdient und ein Master 6000 (ein Vizeprofessor an der Universität verdient 8000 Yuan in Monat und kann mit Projekten nochmal 20.000 Yuan im Jahr dazuverdienen). Auf meine Frage, was denn ein Bauarbeiter oder eine Serviererin verdienen würde, antwortete er typisch Chinesisch: „weniger“. Das ist höflich, schnell geantwortet, zutreffend, und man erfährt nichts, was man nicht auch so schon weiß. (Die Serviererin verdient ca. 800 bis 1000 Yuan im Monat). Auf Höflichkeit im direkten Kontakt von Mensch zu Mensch legt man sehr viel Wert. Das ändert sich ins krasse Gegenteil, wenn man mit der Masse Mensch konfrontiert ist. Dazu ein Beispiel: Im kleinen Personenaufzug im Oriental Pearl Tower, der nur zwischen zwei Stationen pendelt, fuhr ich mit anderen ins Erdgeschoss. Es war klar, dass alle aussteigen würden. Trotzdem drängelten die Leute hinein, bevor der erste aussteigen konnte. Wer sich nicht sein Stück vom Kuchen abbeißt, kriegt nichts mehr, weil andere schneller waren und nichts übrig ist.
So läuft der Straßenverkehr ab, und auch der Schiffsverkehr auf dem Huangpu. Auf Fragen zu politischen Themen hatte unser Student höfliche, schnelle und zutreffende Antworten. Das ist gewiss keine Angst vor Repressalien der Kommunistischen Partei oder eines Blockwarts. Schon immer waren Wagemut und Abenteuerlust keine uralte, typisch Chinesische Volkseigenschaften. Chinesische Helden traten nicht durch Draufgängertum oder Muskelkraft hervor, sondern durch eher Schläue, Witz und Können. Obwohl unzählige Kriege und Aufstände das Land im Laufe seiner sehr langen Geschichte erschüttert haben, wurde der todesmutige Krieger nie zum Ideal erhoben, ebenso wenig der gehorsame Soldat. Umso erstaunlicher finde ich, den Ehrgeiz, den China entwickelt hat, bei den Olympischen Spielen mit den meisten Goldmedaillen zu glänzen. Als das noch nicht feststand, winkte jeder von mir darauf angesprochene mit typisch chinesischer, stark untertreibender Bescheidenheit ab, aber spürbar mit innerlich stolz geschwellter Brust. 51 Goldmedaillen sind es in Beijing geworden. Der Westen spricht davon, dass die Chinesen jetzt „angekommen“ sind. (Sagt allerdings nicht wo). Vielleicht ist das nur der erste Schritt auf einem Weg, auf dem die Chinesen uns noch in Staunen versetzen könnten. Dazu eine statistische Gedankenspielerei von mir:
Die Weltbevölkerung betrug im Juni 2008 rund 6,7 Milliarden Menschen, davon gehören zur Volksrepublik China: 1332 Millionen, das sind etwa 19,9 %. Gemessen an der Weltbevölkerung hätte China also zwanzig Prozent der 302 in Beijing verteilten Goldmedaillen, also 191 Stück, einsacken müssen. Zum traurigen Vergleich: Deutschland wäre mit seinen 82 Millionen Einwohnern (etwa 1,2 % der Weltbevölkerung) auf Platz 14 gelandet, und das war 2008 zwischen Jamaika und Kenia (die allerding auch umgruppiert werden müssten). Das kann doch auch niemand ernstlich wollen. Und trotzdem hat China noch einiges zu bewältigen. Die meisten Goldmedaillen je haben 1984 die USA (83 x Gold) und 1980 Russland (damals Sowjetunion; 80 x Gold) einkassiert, jedoch haben wechselseitig erst die Westblockstaaten die Spiele in Moskau boykottiert (weil die Russen in Afghanistan eingedrungen waren, um die Taliban zu verdrängen) und dann der Ostblock die Spiele in Los Angeles (weil die Sicherheit der Athleten gefährdet war). Trotzdem, Statistik bleibt Statistik. Und beim ewigen Medaillenspiegel muss China (167 x Gold) sogar auch noch Deutschland (518 x Gold; mit sieben verschiedenen deutschen Staatsformen errungen) überholen, bevor es an den Spitzenreiter USA (1010 x Gold) herankommt.
60 km Hafenrand
Um 13.30 Uhr ging es endlich los. Vom Bund, in der scharfen Flussbiegung gegenüber dem Oriental Pearl Tower, bis zur Mündung und ein kleines Stück in den Yangtse hinein und wieder zurück sind es laut Google Earth 33,3 Seemeilen (61,6 km), und wir waren 3h15‘ unterwegs; das heißt unser Schiff ist mit über 10 Knoten (knapp 20 km/h) durch den Shanghaier Seehafen (shang-hai-hai-gang) gefahren. Kaum waren wir aus dem inneren Stadtgebiet heraus, empfing uns strahlender Sonnenschein. Dieser Hafen erstreckt sich ausschließlich am Flussufer entlang; es gibt keine Hafenbecken, aber bis zur Flussmündung ist ununterbrochen Hafenbetrieb an beiden Ufern. Stadtnah waren alte Kaianlagen und Hafenwirtschaftsgebäude dem Verfall preisgegeben und warteten darauf, bald eine neue hafenbetriebsfremde Nutzung und Bebauung zugewiesen zu bekommen.
Es gab eine Vielzahl Schiffsneubauten in unterschiedlichen Fertigstellungstadien zu sehen. Schwimmdocks gab es nur zwei. Auf den Werftgeländen wurden viele Doppellenker-Wippdrehkräne eingesetzt, die bei uns vielfach schon wieder ausrangiert sind, und kaum Portalkräne. Ein neuer, sehr großer (schätzungsweise 200 t) Brückenportalkran war sehr auffällig, weil eine der Stützen abgeknickt und das Portal auf einen Schiffsneubau gestützt war. Shanghai ist auch Hafen der Kriegsmarine (zhong-guo-hai-jun: Mitte-Reich-Meer-Armee; China heißt auf Chinesisch Zhong Guo: Mitte-Reich, „Reich der Mitte“). Wir fuhren an Landungsbooten, Versorgern, Korvetten und U-Booten vorbei. Der Huangpu ist im Hafenbereich so breit wie die Elbe bei Wedel. Insgesamt ist der Fluss nur 97 km lang und erschließt das Hinterland von Shanghai. Der Binnenschiffsverkehr ab dem Bund flussaufwärts ist enorm; da wuselt und wimmelt es wie auf Shanghais Straßen und die Verkehrsdisziplin ist vergleichbar. Schiffe werden bis zum obersten Bordrand beladen. Langes Ladegut, wie Langholz kann durchaus drei Meter über den Schiffsbug hinausragen. Alle Binnenschiffe sind Motorschiffe, es gibt keine Schleppverbände.
Entlang des gesamten Hafens liegen sehr viele Binnenschiffe, an verankerten Schwimmtonnen vertäut, in breite Päckchen, bis zu acht Stück nebeneinander gebunden, ungenutzt auf Reede. Viele „Seelenverkäufer“ und „Rostpocken“ fahren oder liegen im Huangpu. Nur wenige Schiffe für die große Fahrt, hauptsächlich Kümos, konnte ich sehen. Ganz enttäuscht war ich vom mickrig kleinen Containerhafen, den ich mir größer vorgestellt hatte. In Hamburg werden 9,9 Mio. TEUs p.a. bei einer Zuwachsrate von +11,6% umgeschlagen. In Shanghai sollen es 26,2 Mio. TEUs mit +20,7% Zuwachsrate sein! Mein Weltbild wurde erst mit dem Hinausfahren auf den Yangtse wieder zurecht gerückt. Der vom mitgeschleppten Lös rötliche Yangtse ist in seinem Mündungsgebiet so breit, dass man nicht auf die gegenüber liegende Insel Chongming, die auch noch zum Verwaltungsdistrikt Shanghai gehört, hinübersehen kann. Dort herrscht heute überwiegend Landwirtschaft vor, aber es ist geplant, die gesamte Insel von ca. 120 km Länge und 30 km Breite vollständig mit neuen Millionenstädten zu bebauen. In der Ferne, am rechten, dem Südufer des Yangtse, waren sie zu sehen, die Containerladebrücken. Gewaltig, gigantisch, kolossal, mit endlos erscheinendem Ausdehnungsgebiet. Hier waren die riesigen Containerschiffe auszumachen. Es herrschte Verkehr, wie in der Kieler Bucht während der Kieler Woche. Ich stellte mir vor, was auf Hamburg wohl noch zukommen wird, wenn es seinen Anteil am in Shanghai möglichen Zuwachs abkriegen wird.
Die ganze Schifffahrt hat uns allen gut gefallen, aber auch ermüdet. Wir waren durchgeblasen und durchgeschwitzt. Ich glaube, unser chinesischer Student, den wir zur Mitfahrt eingeladen hatten, bekam heute Sachen zu sehen, die er bisher nicht kannte. Auf dem Rückweg zum Bund konnte ich das andere Ufer auch noch intensiv inspizieren. Zum Hotel fuhren wir den anfangs beschriebenen Weg in umgekehrter Reihenfolge zurück mit der U-Bahn. Bis dahin hatte ich nicht geglaubt, dass eine Schienenfahrzeug-Transportkapazität von 15 Personen je Quadratmeter, wie angegeben, eine realistische Berechnungsgröße sein könnte. Jetzt weiß ich, dass es machbar ist!
Erkenntnis des Tages: In zwei Monaten würde ich gerne mal als Fremdenführer in Shanghai anfangen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen