Montag, 15. September 2008

Mondfest

Festtagsvorbereitung
Heute hatte ich unerwartet einen freien Montag, und ich habe den Tag genutzt, um meine erste Zwischenklausur vorzubereiten und ganz fertigzustellen. Obwohl ich den ganzen regnerischen Tag lang in meinem Hotelzimmer vor dem Laptop verbrachte, hatte ich am Abend ein sehr beruhigendes Gefühl. Der heutige Feiertag heißt Mondfest und ist ein wichtiger, mir bis dato unbekannter traditioneller Festtag in China, der erstmals in diesem Jahr auf Drängen der Bevölkerung im Tausch gegen einen anderen zum nationalen Feiertag erhoben wurde. Er wurde mir beschrieben als ein Familienfest, vergleichbar mit Weihnachten in Deutschland. Das hat meine Unkenntnis über das Mondfest zwar auch nicht erhellt, mir dafür aber einen schönen Einblick gegeben, wie die Deutschen in der Fremde wahrgenommen werden und wie sie ihren Glauben des christlichen Abendlandes in die Ferne vermitteln (Ostern wird im Deutschlehrbuch als Fest der versteckten Schokoladeneier vermittelt; aber die Feier der Auferstehung Jesu wird auch in Deutschland von vielen Deutschen nicht mehr wahrgenommen). Umgekehrt könnte meine neue Kenntnis vom Mondfest auch an der Hauptsache vorbeigehen.



Mythologie
Nach dem Chinesischen Kalender ist am 15. Tag jedes Mondmonats Vollmond. Das Mondjahr beginnt mit dem zweiten Mondmonat nach der Wintersonnenwende, mit jährlich wechselndem Termin zwischen Mitte Januar und Mitte Februar und mit groß gefeiertem chinesischem Neujahrsfest. Am 15. Tag des 8. Mondmonats soll der Mond besonders hell und rund sein. Nach dem Mondkalender ist in dieser Zeit Herbst, wo Getreide und Obst reifen. Am Abend des Mondfestes sitzen Blutsverwandte oder Freunde zusammen, um, sich im Arm haltend, den Mond zu bewundern. Im Altertum opferten die Kaiser im Frühling der Sonne und im Herbst dem Mond; schon früh hieß das Fest „Mittherbst“ (Chung Chui). Später folgten die Adligen und Literaten dem Beispiel der Kaiser und bewunderten im Herbst den hellen Vollmond. In der Tang- (618 bis 907), der Ming- (1368 bis 1644) und der Qing-Dynastie (1368 bis 1911) wurde es eines der wichtigsten Feste Chinas. Auf welcher der vielen Legenden dieses heute wieder drittwichtigste Fest in China basiert, darüber ist man sich nicht einig.
Vielleicht auf der von General Chu Yue Chang im 14. Jahrhundert. Er versteckte strategische Befehle im Gebäck, ließ sie zu den Bewohnern in einer von den Mongolen besetzten Stadt schmuggeln und konnte sie so befreien.
Es könnte aber auch der alte Mann im Mond sein, Yueh Lao Yeh, der Ehen knüpft und ein großes Buch hat, in dem das Schicksal der Menschen verzeichnet ist. An ihn wenden sich vornehmlich Liebespaare mit ihren Wünschen.
Vielleicht geht das Fest aber auch auf die Geschichte von Chang‘e (hier stark verkürzt wiedergegeben) zurück: Die Frau des kaiserlichen Generals Hou Yi flüchtete mit dem Kuchen der Unsterblichkeit auf den Mond, ließ ihn mithilfe des Jadehasens zerkleinern und verstreute die Krümel auf die Erde, um den Menschen ebenfalls Unsterblichkeit zu gewähren. Deswegen sind oft Frau und Hase auf dem Papier des umhüllten Mondkuchens abgebildet. Hou Yi dachte jede Nacht an seine Frau. Er ließ im Hintergarten, wo sich Chang'e oft aufgehalten hatte, einen Tisch mit Weihrauchstäbchen und Früchten, die Chang'e gern aß, aufstellen, um Chang'e im Mondpalast zu opfern. Als die Leute davon erfuhren, dass Chang'e zum Mond geflogen war, stellten auch sie im Mondschein einen Tisch mit Weihrauchstäbchen auf und beteten zu Chang'e. Seitdem verbreitete sich diese Sitte im Volk.
Erkennbar ist das herannahende Mondfest an seinen Vorboten. Das eine sind die vielen Leute, die zuhauf edel designte Papiertüten durch die Gegend tragen. In der Tüte sind hübsche Schachteln oder Dosen. Darin wiederum, schön verpackte, kleine Kästchen, darin, von Silber- oder Goldpapier umhüllt, verstecken sich die Mondkuchen (Yue Bing). Man schenkt sie seinen Lieben, auch Kollegen, Geschäftspartnern, seinen Professoren(!) oder einfach den Hotelgästen durch den Zimmerservice. Am Abend verzehrt man sie mit einer Tasse Tee im Anblick und in der Bewunderung des Mondes – nicht ohne sich dabei etwas zu wünschen. Entgegen anderslautenden Vorurteilen schmeckt der Mondkuchen, den es in Größen von 3 bis 30 cm Durchmesser zu kaufen gibt, gar nicht so schlecht; er ist nicht nur zum Verschenken in aufwändiger und teurer Verpackung gebacken worden. Trotzdem erinnert mich dieser Ritus an die sehr lesenswerte, satirisch-übertreibende Geschichte von Ephraim Kishon, in der er beschreibt, wie in Israel die eleganten Päckchen mit Matzen, dem ungesäuerten Brot zu Passafest, möglichst geschickt, unbemerkt und schnell weiterverschenkt werden, weil es nur noch auf das Schenken und nicht mehr auf den Inhalt ankommt.



Homeparty
Mit zweien meiner Professorenkollegen verabredete ich mich nach unserem gemeinsamen Abendessen am Ende unseres Flures im Hotel hinter der Brandschutztür, wo eine kleine freie Ecke ist, von der aus der Vollmond ab und zu am aufklarenden Himmel zu sehen war. Wir sangen zu Guitarre und Mundharmonika Lieder von Matthias Claudius, Cat Stevens, Jim Morrison und anderen, die alle mit dem Mond zu tun hatten. Die Texte lasen wir vom Laptopbildschirm ab, und es verbreitete sich eine verhaltene Romantik. Ganz chinesisch war das noch nicht, weil uns der hier übliche, innerfamiliäre Körperkontakt fehlte.
Das ist der zweite Vorbote des Mondfestes: wenn bei diesem Familienfest nicht die Kinder zu Ihren Eltern nach Hause reisen, dann kommen die Alten, um die Jungen zu besuchen. Das ist besonders verlockend, wenn man dann den einen Enkel zu Gesicht bekommt. Abends in der mäßig besetzten U-Bahn gab es neulich plötzlich einen Aufruhr. Ein Terroranschlag? Nein, die ganz offensichtlich vom Lande stammenden alten Eltern sollten gleich mit aussteigen. Dazu musste der zärtlich im Arm eingekuschelte Enkel erst mal wieder an den Vater zurück gereicht werden und dann musste in normaler chinesischer Sprechlautstärke eine Kurzunterweisung mit anschließender praktischer Vorführung in sachgerechtem Aussteigen aus der U-Bahn geübt werden. Oft sieht man zur Zeit auch offenkundig mit Shanghaier Gepflogenheiten nicht vertraute Senioren, die von Ihren Angehörigen die Benutzung der Rolltreppe ermutigend erklärt und dann vorgeführt bekommen. Ganz kleine Kinder bis drei Jahre lässt man in China quasi nie abgelöst von irgendeinem verwandtschaftlichen Körperkontakt. Kinderwagen und Buggys gibt es keine – sie hätten in den geschäftigen Straßen auch keinen richtigen Platz. Ein Sich-alleine-in-den-Schlaf-weinen gibt es in Chinesischen Familien nicht.



Einfaches Wickeln
Die typisch westliche Kleinkindgestalt, die um die Hose herum den doppelten Umfang hat, wie um den Kopf herum, gibt es hier auch nicht: Das Tragen von Windeln ist nicht üblich; da muss sich Pampers erst mit riesigen Werbemaßnahmen einen noch nicht vorhandenen Markt schaffen. Die Kleinkinder tragen alle im Schritt textilfreie Hosen, sodass eine Sofortentsorgung an Ort und Stelle möglich ist und unbeanstandet von allen umstehenden akzeptiert wird. Wie das im Winter bei Kälte gelöst wird, werde ich nicht mehr beobachten können. Ich bin mir nicht sicher, welcher Kulturkreis mir im Nachhinein besser konvinieren würde: lieber immer im Zug den Schniedel abfrieren oder doch besser stundenlang in der eigenen warmen Kacke liegen. Ich bin doch froh, die behütete Kindheit schon hinter mir zu haben

Erkenntnis des Tages: Mit einsetzender Altersinkontinenz droht mir vielleicht doch irgendwann mal eine Rückversetzung in den früheren Zustand.

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